A 802 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 16|
20. April 2012KOMMENTAR
Prof. Dr. jur. Stefan Huster, Ruhr-Universität Bochum
Seit Jahren fordert die verfasste Ärzte- schaft eine transparente Diskussion über Prioritäten und Grenzen der medi- zinischen Versorgung in der gesetzli- chen Krankenversicherung (GKV). An Initiativen und Stellungnahmen zum Thema besteht kein Mangel; Tagungen und Vorträge zu den „Grenzen der GKV-Leistungen“ häufen sich, es exis- tiert eine große DFG-Forschergruppe
„Priorisierung in der Medizin“, und auch die Zentrale Ethikkommission hat sich ausführlich zum Thema geäußert.
Woran es mangelt, ist die Umsetzung des Themas in der Gesundheitspolitik:
Hier wird parteienübergreifend jede Priorisierungsüberlegung als unethisch zurückgewiesen. Die schönen Ausar- beitungen und Konzepte bewirken nichts. Denn mit der Ankündigung von Prioritätensetzungen und möglichen Leistungsbegrenzungen in der GKV sind keine Wahlen zu gewinnen.
Die meisten Gesundheitspolitiker sind wohl auch immer noch ehrlich überzeugt, dass die Situation im Ver- sorgungssystem nicht prekär genug ist, um über Priorisierung nachdenken zu müssen. Die Ärzte haben immer wieder darauf hingewiesen, dass sie nicht län- ger gewillt seien, die Mittelknappheit selbst zu verwalten. Dies sei eine heimliche oder implizite Rationierung – intransparent, ungerecht und für Ärzte und Patienten eine Zumutung. Sonder- lichen Eindruck haben diese Stellung- nahmen bisher nicht gemacht. Auch dafür gibt es Gründe: Verfolgen die Ärz- te hier nicht immer auch ihre eigenen (Einkommens)Interessen, wenn sie weniger Leistungen erbringen oder mehr Mittel haben wollen? Können sie die Zuständigkeit für eine verantwortli- che Verwendung der knappen Ressour- cen tatsächlich samt und sonders auf die Politik abschieben? Und sind sie nicht auch für die Überversorgung und
Ineffizienzen in manchen Versorgungs- bereichen (mit)verantwortlich, die erst einmal abgebaut werden müssten?
Um diesen Vorbehalten zu begeg- nen, muss sehr viel anschaulicher dar- gestellt werden, dass bereits ein erns- tes Problem der Mittelknappheit be- steht, das man durch Verschweigen nicht aus der Welt bekommt. Gesund- heitspolitiker stellen sich in ihrer Ab- wehr gegen Priorisierung gerne konkret den Patienten vor, dem am Lebensende eine Maßnahme vorenthalten wird, weil
sie sehr teuer ist und nur einen unge- wissen, marginalen Nutzen hat.
Gegen die emotionale Wucht derar- tiger Beispiele wird man nur ankom- men, wenn auch die andere Seite der Medaille entsprechend farbig ausge- malt wird: Was kann aktuell an Sinnvol- lem schon nicht mehr getan werden, weil das Geld mangels klarer Prioritä- tensetzung an anderer Stelle ver- schwendet wird? Wenn die Ärzte mit der permanenten Behauptung recht haben, es existiere bereits eine implizi- te Rationierung, sollte es für sie doch ein Leichtes sein, eindrückliche Fallbei- spiele aus ihrem medizinischen Alltag zu berichten. Die pure Behauptung ei- ner impliziten Rationierung und die et- was farblosen Umfragestatistiken („60 Prozent der Krankenhausärzte berich- ten, dass sie schon einmal aus Kosten- gründen auf medizinisch Sinnvolles verzichtet haben“) sind jedenfalls nicht hinreichend beeindruckend. Um ihr po- litisches Anliegen zu befördern, sollten die Ärzten daher von dem Elend der täglichen Mangelverwaltung erzählen – möglichst konkret und mit allen medizi- nischen und menschlichen Abgründen.
Erst dann werden Politik und Öffent- lichkeit erkennen, dass es bei einer transparenten Priorisierung nicht (nur) etwas zu verlieren, sondern (auch und vor allem) zu gewinnen gibt.
PRIORISIERUNG
Beispiele liefern
sich zu verabschieden, zu entschul- digen und zu bedanken, wo immer es nötig erscheint. In Frieden zu ge- hen. Uns Menschen bewohnt aber der Schmerz und der Widerstand gegen das Sterben. Schmerzen ver- ändern uns, gleichzeitig lassen sie sich beeinflussen. Nicht nur mittels Analgetika. Auch soziale Einflüsse und unsere Umwelt wandeln die Intensität. Beispielsweise senken Einsamkeit und Isolation die Schmerzschwelle herab.
In Großbritannien kennt man den tragischen Fall von Anthony Bland, der als 17-jähriger Liver- pool-Fan im Stadion während eines Massengedränges sehr schwer ver- letzt wurde. Er befand sich drei Jahre lang im „Persistent Vegeta - tive State“, sein Schicksal wurde vor drei Instanzen der Gerichte ver- handelt. Die entscheidende Frage war, ob die behandelnden Ärzte zu seiner Ernährung verpflichtet wa- ren oder ob die Behandlung einge- stellt werden durfte. Das britische
„House of Lords“ sah in diesem Fall keine ärztliche Pflicht, weiter- zumachen.
Der Rechtswissenschaftler Ro- ger Brownsword schließlich stellte die Frage, ob es ein Eigentumsrecht für Körperteile geben könne, ähn- lich dem für einen Kugelschreiber oder ein Grundstück. Brownsword postulierte: „I’m both, I am my body and have my body.“ Wir sind uns zugleich Objekt und Besitz, das unterscheidet uns vom bloßen Ei- gentum. Letztendlich bleibt die Un- wissenheit über den Tod. Wir ver- muten und tappen weiter im Dun- keln. Ein sauber geführter Diskurs kann aber helfen, den Weg auszu-
leuchten.
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Dr. med. Svenja Ludwig
LITERATUR
1. Nagel, Thomas: Mortal Questions, 1979.
2. Kingma E, Chisnall B, McCabe MM: Inter- disciplinary Workshop on Concepts of Health and Disease: Report. Journal of Evaluation in Clinical Practice 2011;
17: 1018–22.
3. Brief an Menoikeus. In: Nickel, Rainer: Epi- kur, 2005. S.121.
4. Levi, Primo: If this is a Man, 1958.
5. Leibovitz, Annie: A Photographer’s Life.
1990–2005, 2009.
6. Beckett, Samuel: Malonie Dies, 1951.