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Peter Nathschläger. Mark singt Roman

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Academic year: 2022

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Peter Nathschläger

Mark singt

Roman

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Zum Autor:

Peter Nathschläger. ist neununddreißig Jahre alt und lebt in Wien zusammen mit seinem Lebensgefährten Richard, mit dem er nun in trauter Zweisamkeit seit neun Jahren Tisch und Bett teilt.

„Da man nun nicht mehr um Lagerfeuer sitzt und nach einer guten Gruselgeschichte den Mond anheult, habe ich mich entschlossen, die Geschichten aufzuschreiben. Obwohl ich auch hin und wieder den Sommermond anheule und unter dem Wintermond friere.

Ich möchte noch hinzufügen, dass ich mich nicht für einen literarischen Schreiber halte, sondern viel eher für einen Flüsterer, Verführer und Erzähler, der die Geschichten um ihrer selbst Willen erzählt.“

Himmelstürmer Verlag, part of Production House GmbH Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

www.himmelstuermer.de E-mail: info@himmelstuermer.de Photo by Thorsten Hodapp

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

Originalausgabe, September 2004 Digitale Version, Juni 2012

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

ISBN Print 978-3-934825-35-4 ISBN E-pub: 978-3-86361-211-5 ISBN pdf: 978-3-86361-212-2

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Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Marks Flucht Kapitel 2: Johan macht Ferien Kapitel 3: Mark nimmt ein Bad Kapitel 4: Das Geisterhaus Kapitel 5: Der Pilger Kapitel 6: Die Brücken Kapitel 7: Mark singt Kapitel 8: Die Liebenden Kapitel 9: Die Suchenden Kapitel 10: Es ist Freitag Erstes Nachwort

Zweites Nachwort

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Ein Kind fragt: Was ist das Gras?

Und hält es mir mit vollen Händen hin.

Wie aber soll ich antworten, weiß ich es doch genauso wenig, wie das Kind.

Walt Whitman

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Einleitung:

Am 26. August 2060 saß ein alter Mann in seinem Apartment in New York und weinte. Er war müde, er war frustriert und er konnte nicht fassen, wie sehr das Leben manchmal einem rauen Gewässer glich. In der rechten Hand hielt er einen handgeschriebenen Brief, vor ihm auf dem Boden lag eine aufgeschlagene Tageszeitung. Auf der Seite vier konnte man lesen, dass der Historiker und Schriftsteller Johan Pender- gast im Alter von neunundsiebzig Jahren in seinem Haus in Iowa friedlich entschlafen war. Am 19. August schloss er abends, als er ins Bett ging, für immer die Augen. Seine Frau Judith, mit der er 59 Jahre verheiratet war, wird mit Hilfe der Nachbarn und dem örtlichen Kirchenchor von Old Hanley die Bestattung ausrichten. Finanziell brauchte sich die alte Dame keine Sorgen zu machen: Johan Pendergast war wohlhabend. Seinem Wunsch entsprechend wird er am Ufer des kleinen Waldsees hinter seinem Haus an der Südseite beerdigt. Zwi- schen zwei alten, schwarzen Bäumen.

Der weinende Mann wusste warum. Er flüsterte leise vor sich hin und wusste gar nicht, dass er es tat. Aber es waren Worte. Nur wenige Worte:

The rhythm of the heat

Er strich den Brief glatt und sah die kleine, gestochene Schrift von Judith Pendergast. Die Frau, die soviel Freude in Johans Leben gebracht hatte und alles wusste, was zwischen ihm und Johan gewesen war. Nun, fast alles. Sie hatte nie ein Wort darüber verloren. Aber Mark Beaumont, der steinalte Mann mit den Tränen im Gesicht, hatte ihr seit jeher angesehen, dass sie es wusste und gut hieß.

Er beugte sich vor und las die ersten Zeilen des Briefes noch mal:

Lieber Mark,

Es tut so weh. Und es ist so traurig. Johan ist vor drei Tagen gestorben. Ich weiß

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nicht, wann Dich dieser Brief erreichen wird, aber ein paar Tage wird es wohl doch dauern. Ich vertraue der Post nicht.

Johan ist ins Bett gegangen und friedlich eingeschlafen. Als ich um 23:00 Uhr auch schlafen gehen wollte, war er bereits tot.

Mark, es ist so schrecklich. Überall diese Leute im Haus. Heute Morgen waren sogar Leute von der Universität Kalifornien da, die sich erkundigten, ob es unveröffentlichtes Material in Johans Nachlass gäbe. Sind die irre? Johan ist noch nicht beerdigt und die machen sich mehr Sorgen um ihre Reputation bei anderen Universitätsarchiven als sie Rücksicht nehmen würden. Arschlöcher.

Mark, ich weiß, dass wir letztes Jahr nicht viel Kontakt hatten, bis auf Deinen Besuch im Frühjahr und ich weiß, dass Dich die Kreuzschmerzen so plagen. Aber bitte komm. Ich glaube, Johan würde das auch wollen. Einen einzigen Menschen unter all den Abstaubern. Und ich kann auch ein klein wenig Trost brauchen, weißt Du?

Er überflog die weiteren Zeilen. Dann stand er auf und humpelte zur Dusche. Judith hatte Recht. Sein Kreuz war wirklich morsch.

Den Vormittag verbrachte er damit, sich zu pflegen und eine kleine Tasche für die Reise zu packen.

Der einzige Mensch, der ihm je wirklich etwas bedeutet hatte, war tot.

Der Mann, der die Wälder liebte und so vortrefflich darüber schreiben konnte, war gegangen.

Draußen wurde New York von einem gewaltigen Wolkenbruch durchnässt. Mark Beaumont könnte einen Schnellzug nehmen oder sogar nach Des Moines fliegen. Aber irgendwie schien es ihm gut und gerecht, diese Reise so anzutreten wie seine allererste Reise nach Iowa.

Damals, als er als Zwanzigjähriger flüchtete. Hals über Kopf im Morgengrauen vor der Stadt flüchtete.

Und so kam es, dass Mark Beaumont den Bus nahm. Er fuhr mit der Metro (die jetzt in den letzten 5 Jahren tatsächlich zu einem der bequemsten und sichersten Verkehrsmittel geworden war) zum Busbahnhof auf der East 86Street. Die Stopps: Randolph, Budd Lake,

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dann umsteigen und in einem Rutsch nach Des Moines. Von dort nahm er den Bus einer örtlichen Linie, die direkt über Winterset und durch Old Hanley führte.

Die Busreise war angefüllt mit Erinnerungen. Die Erinnerungen waren matt wie ein vergilbtes Foto; an den Rändern schon etwas welk. So wie er selbst. Da war es wohl in Ordnung, dass die Erinnerungen nicht mehr diese schmerzhafte Intensität hatten wie früher, als sein Körper noch entsprechend darauf reagieren konnte.

Sogar das Vibrieren der Scheibe, an die er den Kopf lehnte, erinnerte ihn an seine erste, so verzweifelt angetretene Reise nach Iowa. Nur, dass er damals nicht wusste, wohin er eigentlich wollte. Bis er es dann vor sich sah, wie ein Flammenmal am Himmel.

Westlich von New York ging der Regen in Nieseln über und noch weiter rollten sich die schweren Wolken am Horizont zusammen. Ab Massachusetts klärte sich der Himmel, und die Sonne flirrte Hitze- wellen vom Firmament. Der Bus war gut klimatisiert (also auch nicht zu kalt) und die Sitzreihen, an die er sich dunkel erinnern konnte, waren kleinen Sitzgruppen gewichen. Sofas. Es waren keine Sitze mehr sondern Sofas, die man 180 Grad drehen konnte. Sehr feudal. Auf der Reise schlief Mark immer wieder kurz ein. Schlüsselschlaf hatte Johan das genannt.

Er erreichte Old Hanley einen Tag später am frühen Nachmittag. Es war der Tag der Beerdigung und Mark stieg aus dem Bus und sah links hinauf zu den Wäldern. An der Umgehungsstraße, die das Ortsgebiet entlastete, waren Tankstellen und Imbissstuben, Motels und Werkstät- ten. Einige mehr als noch vor sechzig Jahren. Aber man konnte noch immer zwischen der Tankstelle und der Werkstatt hindurch direkt zum Haus sehen. Mark stützte sich auf seinen Wanderstock und atmete tief ein. Diese Luft. Und seine Augen sahen: Dieses Licht. Aber er war schon lange nicht mehr Zwanzig. Und so brauchte er fast eine Stunde, bis er oben beim Haus ankam und nochmals 25 Minuten, bis er das Seeufer erreichte. Mark hatte die Segnung um etwa 10 Minuten verpasst, die Leute standen in Gruppen zusammen und unterhielten

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sich. Vorne beim Grab stand Judith. Eine kleine, zierliche Frau, gebückt von den Jahren, und sprach mit dem Pfarrer, der auch nicht mehr taufrisch war. So, als ob sie seine Präsenz spüren würde, eine Vibration in der Luft vielleicht oder aber die Änderung des Lichts, unterbrach sie ihr Gespräch mit dem Geistlichen und drehte sich zu ihm um.

Mark sah jede Menge aufgeregt wirkender Studenten und Professoren, die mindestens ebenso alte Knacker waren wie er selbst. Die Leute bedienten sich bei einem kleinen kalten Buffet, das wahrscheinlich Judith mit den Leuten des Kirchenchors angerichtet hatte, und tranken Wein und Sekt.

Die Säuferbrigade, Ladies and Gentlemen. Nicht nur bei Begräbnissen, dachte Mark heiter. Niemand sah Mark irgendwie wissend an. Wären Informationsmanager und IT-Spezialisten da gewesen, wären sie vor ihm möglicherweise auf die Knie gefallen. Mark hatte einen fast legendären Ruf in der IT-Branche. Jetzt, da Mark 80 Jahre alt war, war der Ruf, den er genoss, tatsächlich nur noch rein akademisch. Aber noch vor 20 Jahren hatte er aktiv an der Weiterentwicklung der IP/AD Adressierung für routbare Protokolle mitgearbeitet, wobei das AD Konzept großteils auf seinem Mist gewachsen war. Das RFC, das die neuen Standards empfahl, hatte auch den Beinamen: Das Beaumont Memorandum.

Aber hier waren keine Computerprofis. Ein paar Leute hatten ihre Tablett PCs dabei, um nur ja keinen Termin zu verpassen. Anwender waren hier. Ja. Aber egal. Dies war Johans Abschied und es war vermutlich in Ordnung, dass ein Haufen trinklustiger Studenten und Professoren hier am Seeufer herumtrampelten und Judiths Biervorräte niederrangen.

Er kämpfte sich über den bemoosten Boden zu Judith vor und umarmte sie. Für diesen einen kurzen Moment schienen die beiden allein auf der Lichtung zu sein. Und es war stiller als sonst. Die Sonne flirrte zwischen den saftig grünen Blättern der alten Bäume und zeichnete Kringel auf den Moosboden.

Judith zog Mark zu sich runter und flüsterte erstickt: „Schön, Mark. Es ist so schön, dich wieder zu sehen.“ Sie hakte sich bei ihm ein und

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führte ihn zum Seeufer. Sie hörten eine Weile dem Wasser zu, wie es ans Ufer gluckste und sahen gedankenverloren in die Tiefen des Waldes. Judith zupfte Mark am Ärmel und raunte ihm zu: „Ich kann diese ganzen akademischen Schnorrer nicht ausstehen. Und Johan konnte die auch nicht leiden. Trampeln da herum und fressen Bröt- chen. Keiner von denen hatte Johan je gekannt. Keiner, sag ich dir.“

Dann schwiegen sie wieder eine Weile und sahen zu, wie die Menge zerrann. Die Leute verließen in Grüppchen die Beerdigung und gingen hinauf zu Johans Haus, um dort noch mal kräftig nachzuschenken, ehe sie in ihre Autos stiegen und dorthin fuhren, wo auch immer sie her sein mochten.

Judith und Mark blieben zurück, sahen hinaus auf den See. Eine Weile sah man sie da stehen; zwei alte Menschen, die ihren Blick über das Wasser streichen ließen. Dann zupfte Judith Mark am Ärmel und zog ihn zu sich runter. Sie flüsterte ihm ins Ohr: „Mark, ich habe sechzig Jahre an Johans Seite gelebt, weißt du? Aber ich hatte immer das Gefühl, dass es da einen Punkt gibt, dass es etwas gibt, das er nur mit dir teilte. Ich hab bei Gott keine Ahnung, was es sein könnte, aber all die Jahre machte es mich eifersüchtig. Jetzt bin ich ein altes klappriges Gestell, das siehst du ja. Aber ich bin nicht verrückt. Hörst du, Mark?

Ich bin alt und mach mich manchmal ein, wenn ich schlafe, aber das ist eben das Alter. Man hat Lecks und wird undicht. Aber ich bin nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen. So wahr mir Gott helfe. Ich muss dir was sagen.“

Mark umarmte sie und fühlte Tränen aufsteigen. Das Alter. Eine Zeit lang klappt der Trick mit der Weisheit. Wenn man fünfzig ist, klappt es ganz gut. Aber wenn man mal achtzig ist, ist die Sache witzlos. Es bleiben nur noch die Träume aus den besten Tagen (und alles vor achtzig waren die besten Tage) und das Zählen der letzten welken Stunden. Das und ...

„Mark? Johan ... Johan ist nicht da drin.“ Sie deutete auf das Grab.

„Das weißt du, oder?“

Mark nickte und sah in die Tiefen des Waldes. Judith zog Mark zu sich.

Sechzig Jahre innigstes Vertrauen und Freundschaft strömte von ihr zu

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ihm und von ihm zurück.

„Mark. Er hat das getan, was schon sein Großvater vor ihm getan hat.

Er hat sich befreit und ist jetzt in den Wäldern. Das weißt du doch, oder?“

Mark nickte. Der Gedanke, dass all das, was Johan so liebenswert gemacht hatte, jetzt als Lichtgestöber durch den Wald zieht, hatte eindeutig mehr Kraft zu trösten als der Gedanke an die verrottenden Gebeine hier am See. Johan, der im Flirren der Sonne durch das Blätterdach herabsteigt. Ein Geist? Nein. Ein großartiger, lebendiger Gedanke.

Der Grabstein, der Johans Grab erst als das erkenntlich machte was es war, war ein schlichter Granitblock, in die Erde gerammt wie für immer.

In der ersten Zeile stand:

Johan Pendergast

Dann Geburtsdatum und Sterbetag. Und statt der üblichen religiös angehauchten Bibelzitate oder frommen Sätze stand da Thoreaus berühmtester Satz:

Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben. Intensiv leben wollte ich, das Mark des Lebens in mich aufsaugen ... um alles auszurotten, was nicht Leben war; damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte.

Mark sah sich den Satz immer und immer wieder an. Und dann dachte er, dass man seine Liebe wohl nicht auf schönere Weise zeigen konnte.

Das Mark des Lebens aussaugen. Ach, wie lange war das schon her.

Und wie schön war das. Aber wie auch immer. Hier am Grab seines Freundes – und scheiß der Hund auf: Bester Freund, einziger Freund, wahrer Freund und all diese farblosen Superlative- stand es geschrieben und es würde so lange sichtbar sein, bis unzählige Sommer und Winter die gemeißelte Schrift verwaschen haben: Er war in all den Jahren das Mark des Lebens für Johan Pendergast gewesen. Er war der Weg, den er in

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diesem Wald genommen hatte. Er war es, der den Unterschied gemacht hatte. Mark Beaumont hakte sich bei Judith ein und dann gingen sie langsam zurück zum Haus. In der Zwischenzeit waren viele der Gäste endgültig verschwunden; das Haus leerte sich und wurde nur noch von Sonnenlicht bewohnt. Es hing Zigarettenrauch in der Luft. Die Kuchenecke war geplündert und die Limonaden Bar auffällig voll. Mark sah die Treppe entlang nach oben, wo sich die Schlafzimmer, ein weiteres Bad, eine weitere Toilette und die Hochveranda befanden. Er wusste, dass das Zimmer gleich rechts neben der Treppe, von dem aus man einen tollen Blick auf das Dorf hatte und auf die bewaldete Umgebung, immer für ihn bereit stand. Er löste sich aus Judiths Umarmung und sagte: „Ich möchte mich etwas ausruhen, sonst falle ich noch auseinander.“

Sie nickte und versprach ihm, eine Tasse Tee raufzubringen. Mark nickte und machte sich an die beschwerliche Arbeit, den oberen Stock zu erklimmen.

Er wandte sich nach rechts und öffnete die mintgrün gestrichene Tür zu seinem Zimmer, Johans Kinderzimmer.

Judith hatte aufgeräumt und staubgewischt. Links an der Wand das alte Bett, am Fenster der antike Holztisch und der riesige Lehnsessel. Mark spürte neue Tränen und ein uraltes Schluchzen in seiner Brust. So tiefe Trauer. So ein Abschied.

Er setzte sich in den Lehnsessel und drehte ihn so, dass er zum Fenster hinaus sehen konnte. Links sah er den Waldrand, weiter nach rechts Felder und Wiesen, die geteerte Landstraße und die Ausläufer von Old Hanley. Mark schloss die Augen.

Und dann machten seine Träume, die mit den Jahren immer schneller kamen, einen Satz wie eine defekte Schreibmaschine. Die Jahre vergingen im Rauschen der Wälder und gewannen an Farbe, Kraft und Deutlichkeit.

Seine Füße fühlten sich verschwitzt an.

Das vom Wald gefilterte Sonnenlicht der tiefstehenden Sonne tanzte auf seinen Augenlidern.

Und der Traum begann. Der Traum begann mit einer Flucht.

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Der Tag ist vorüber, und die Dunkelheit fällt von den Schwingen der Nacht, wie von dem Adler in seinem Flug eine Feder hernieder schwebt.

(Henry Wadsworth Longfellow) Kapitel 1: Marks Flucht

Als der Bus durch die Industriestraßen fuhr, wich das Morgengrauen den Betrübnissen des neuen Tages, und hatte doch rosa Wangen. Mark floh aus der Stadt, er hatte seine Verfolger hinter sich gelassen. Er saß an der Fensterseite, kühlte sein heißes Gesicht an der vibrierenden Scheibe und spürte, dass er nicht nur einen Kater kriegen würde, sondern auch gewaltige Kopfschmerzen. Dazu kamen post-flucht- Depressionen.

Mark floh aus der Stadt und die Schatten der sterbenden Nacht folgten ihm. Der Bus war klimatisiert und nur zur Hälfte besetzt; kein Wunder für Samstag um 4:25 Uhr früh. Das Speed, das er noch zu Hause genommen hatte, ehe er ein paar Jeans und T-Shirts und die Nike Cortez in den Rucksack gestopft hatte, um weiß der Geier wohin zu fliehen, pochte im Blut an den Schläfen, in seinen Lenden. Seine Schenkel fühlten sich geschwollen an, und die Doc Martens an seinen Füßen kamen ihm endlos verschwitzt und zu eng vor. Die schwarze Lederhose klebte an seinen Schenkeln und drückte unangenehm an den Hüften; was in der Nacht in dieser Bar noch die Blicke der Frauen auf ihn gelenkt hatte, wirkte jetzt deplaziert und unbequem. Er wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, in die Jeans zu schlüpfen. Aber als er in der Wohnung war, wusste er, dass jede Verzögerung seinen Ent- schluss abzuhauen, ernsthaft gefährden konnte. Also blieb er in den Sachen, die er freitagabends angezogen hatte und die vom Tanzen verschwitzt waren. Er ignorierte frustriert die Blicke der Männer, die vor den Toiletten des Busbahnhofes auf der 204 East 86street herum-

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flanierten, als ob es Samstagmorgens nichts Besseres zu tun gäbe. Er übersah erschöpft den begierigen Blick der farblosen, aber nicht unhübschen Frau hinter der dicken Scheibe, die ihm den Fahrschein über den Edelstahltresen schob. Er übersah so ziemlich alle Zeichen, die ihm sonst so wichtig waren und die er noch gestern Abend eitel in sich aufgenommen hatte. Zeichen des Interesses, ihn zu nehmen, mit ihm zu trinken, zu kiffen, Speed oder Koks zu schnupfen, und vielleicht noch später im Dämmer des Morgens im Dreck des seitlichen Notaus- ganges mit ihm zu ficken. Oder noch besser: Im ungemachten Bett einer durchgeknallten Sekretärin.

Mark verstand die Stadt und die Möglichkeiten, die sie ihm bot, sich zu amüsieren. Und er liebte es, sich zu amüsieren. Er hatte den blassen Charme eines Nachtjungen; der Computerfreak mit dem Wetlook in den Haaren, das enge Holzperlkettchen und dem schwarzen T-Shirt. Ein zugegebenermaßen oft spröder Charme.

Jetzt übte das Kettchen einen unangenehmen Druck aus, wenn er schluckte und die Haare sahen nicht frisch und glänzend feucht aus sondern verfilzt und ungepflegt. Die Lines brannten in der Nase, im Hinterkopf hatte er ein leises, aber dringendes Stechen. Unter den Augen blühten dunkle Blumen der Erschöpfung, die ihn stärker als je zuvor packte. Er glaubte, dass er schluchzen würde. Ein einsamer würgender Laut aus seiner Kehle; ein Abschied vielleicht. Doch als er das nächste Mal einatmete, sackte sein Kopf nach vor und ein Spucke- blässchen bildete sich an seinem rechten Mundwinkel.

Als das Morgengrauen einen rosa Schimmer bekam und der Bus immer mehr Grün um sich scharte, war Mark eingeschlafen und träumte unruhig und wirr. Er sah jung aus. Er sah verängstigt aus. Er dachte, in Leder sähe er martialisch und verwegen aus. Hmmm ... Jetzt allerdings sah er weder martialisch noch gefährlich noch besonders anrüchig aus.

Zusammengesunken im Sitz und schlafend sah er eher verletzlich aus.

Erschöpft und wie ein Junge auf der Flucht.

Der Bus fädelte sich in die Hauptverkehrsadern ein und durchschnitt brummend den morgendlichen Dunst über der Stadt.

… ein Junge auf der Flucht …

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Und das war er auch.

… der Abend hatte so gut wie jeder Samstagabend angefangen. Er beendete mit einer Mail den Arbeitstag und fuhr mit der Metro heim.

Dort duschte er ausgiebig, köpfte eine winzige Flasche Sekt und saß nackt in der Wohnung. Die Wohnung, ein großes, von Teelichtern erhelltes und von Schatten belebtes Loft; wenig möbliert, aber doch gemütlich … leise Musik aus den versteckten Boxen. Debussy: Gärten im Regen … Vorbereitungen für den Abend. Er rauchte ein, zwei Zigaretten und ölte sich dann mit einem Hautöl ein. Die Fenster der Wohnung waren offen, der Sommerabend bauschte die Gardinen. Im etwas separierten Arbeitszimmer lief der PC. Nach langem hin und her hatte er Windows von der Festplatte geputzt und Red Hat aufgesetzt.

Im Nachhinein dachte Mark, dass dies möglicherweise der erste Schritt, der erste sichtbare Schritt zu einer umfassenden Veränderung war. Er wechselte das Betriebssystem nicht aus Überzeugung, sondern weil er etwas ändern wollte.

Er schlüpfte ohne Unterwäsche in die Lederhose, zog ein schwarzes Tanktop über, das hauteng anlag und überprüfte, ob er genug Geld und die Kreditkarte im Portemonnaie hatte. Dann zog er die schwarzen Doc Martens an und fuhr sich vor dem Spiegel noch mal durch das gelfeuchte, stachelig gestylte Haar. Er schenkte dem Spiegel ein kühles, arrogantes Grinsen. Vor zwei Wochen hatte er im Club ein Mädchen kennen gelernt. Haha, der war gut. Es gab ein paar Blicke über Bande, vielsagendes Lächeln beiderseits und weg war sie. Joe von der Bar hatte Mark beiläufig erzählt, dass das Mädchen Maria hieß und hin und wieder Samstagnacht im Club auftauchte. Letztes Wochenende hatte er keine Zeit gehabt, weil er bei einem nörgelnden Kunden des Internet Providers, für den er arbeitete, im Pfusch ein kleines Netzwerk eingerichtet hatte. Das brachte zwar zusätzlich Geld, dafür aber auch das nagende Gefühl, sie verpasst zu haben …

Und dabei blieb es auch: Vor Mitternacht hatte er genug Blicke geerntet, um eigentlich befriedigt nach Hause zu gehen. Das Mädchen war zwar nicht erschienen, aber was solls. Er war an diesem Abend eh

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nicht so drauf aus, Vollgas zu geben. Dann waren zwei Freunde aufgetaucht und fuhren eine nette Ladung Koks auf, die sie auch flugs auf den Marmorwaschtischen der Herrentoilette konsumierten. Er kaufte ihnen gleich ein kleines Säckchen ab. Marks ständige Blässe, die er gerne Nachtschattenblässe nannte, bekam vorübergehend rosa Flecken auf den Wangen. Er fühlte sich gut. Sogar sehr gut. Er spürte die Blicke, die über Bande geschossen wurden, Barspiegel und Konsor- ten, intensive Blicke, die durchaus Interesse bekundeten. Dies befriedig- te die Eitelkeit und in seinem momentanen Zustand hatte Mark auch nicht vor, mehr als das zu befriedigen. Und so störte es ihn auch nicht weiter, als ihn der etwa 45jährige Mann ansprach und ihm unbedingt seiner Frau vorstellen wollte. Mark sah auf einen Blick, dass die Lady eine Nummer zu groß für ihn war. Machoallüren hin oder her, diese Lady war in einer anderen Liga. Er schätzte sie auf ein paar Millionen ein: Top Apartment am Central Park mit Terrasse und Designermö- beln; einen Mercedes in der Garage. Sie sah toll aus. Umwerfend. Aber sie lächelte wie ein hungriger Hai. Nicht er würde sie vernaschen oder im Schimmer des Notausganglichts an die dreckige Ziegelwand rammeln, sondern sie würde ihn ficken. Und dann fressen. Mark spürte durch die heitere Gelassenheit des Koks, dass er vor dieser Frau Angst haben könnte, wenn er nüchtern wäre. Aber er war nicht nüchtern.

„Diese Lady würde gerne zusehen, wenn ich dir einen blase.“

Mark spekulierte noch immer über die Möglichkeit wegen dieser Frau Angst zu haben, als ihm der Mann diese Feststellung ins Ohr hauchte.

„Und dann will sie sehen, wie ich dich ficke.“

Der Mann in dem Designeranzug sagte das mit der Beiläufigkeit des erfolgsverwöhnten Managers, der nur noch ein paar Formalitäten abzuklären hatte.

Mark wandte sich dem Kerl zu und zischte:

„Vergiss es, Schwuchtel. Du wirst ihn mir nicht lutschen und du wirst mich schon gar nicht abficken. Was soll der Scheiß?“

Der Mann sah ihn entzückt an:

„Ach. Du willst wohl den Preis rauftreiben?“

„Was für einen Preis, Scheiße noch mal? Was ist das für ne abgefickte

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Nummer? Verzieh dich …“ Mark drehte sich um und wollte ein paar Schritte weggehen. Der Mann legte seine Hand auf Marks Schulter und drückte zu. Mark zuckte zusammen und wand sich aus dem Griff. Es hätte ein Missverständnis sein können. Mark wusste, dass sich hin und wieder Stricher hierher verirrten, um nach den mehr oder weniger erfüllenden Intermezzos mit Männern ihr angeknackstes Selbst- wertgefühl bei vernachlässigten Bankiersfrauen aufzubauen. Hier gab es immer Koks und willige Frauen. Mark dachte, dass genau dieses Lokal wie ein Klischee wirkte, ein Klischee aus irgendeinem schwarzweißen Sittendrama aus den späten Fünfzigern. Aber es war real.

„Hören Sie, ich bin kein Stricher. Ich bin nicht hier, um Geld zu verdienen. Ich will meinen Spaß haben und ne Frau aufreißen, ja? Also lassen Sie mich bitte in Ruhe.“

Mark wandte sich ab und ging zur Tanzfläche, die im Halbstock tiefer lag, um den Leuten ein wenig beim tanzen zuzusehen. Oder Scheiße, selbst zu tanzen. Er lehnte sich an die Brüstung, sah hinunter auf die Tanzfläche und zündete sich eine Zigarette an. Dann lehnte plötzlich die Lady mit dem Haifischlächeln neben ihm und zischte:

„Hier hast du 500 Dollar, Strichjunge. Ich will sehen, wie du dich unter Josh windest, wenn er dich fickt. Das könnte mich endlich mal geil machen.“ Sie sagte das wie zu sich selbst und mit sehr leiser Stimme.

Dennoch klang es deutlich und wie eine ernstzunehmende Drohung.

Mark sah sie angewidert an und war knapp davor, vor ihr auf den Boden zu spucken. Aber er riss sich zusammen und marschierte die Treppen runter auf die tiefere Ebene der Tanzfläche und mischte sich unter das tanzende Volk.

„The Darkzone“

Kurzfristig hatte ihn die schützende Helligkeit der Drogen im Stich gelassen. Aber als er hier unten tanzte und schwitzte, fühlte er sich wieder wohl. So wohl, dass er ein paar sehr anzügliche Tanz- bewegungen in Richtung der Haifischlady abließ, ohne dabei zu ihr rauf zu sehen. Irgendwie wusste er, dass sie da oben war, hinter den drehenden Lichtern und ihn musterte wie ein Gepard seine Beute musterte, ehe er zuschlug. Soll das Weib doch mit ihrem Wachhund

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vögeln.

„Mir doch egal.“

Der Bus hielt um halb Acht Uhr morgens in einem kleinen Nest in New Jersey mit ein paar Fabrikanlagen und Tankstellen, Parkplätzen und Drive-Ins, einem runden Stadtplatz. Zwei Leute stiegen aus. Der Tag kam in die Gänge. Wäre er wach gewesen, hätte ihm der Anblick gefallen. So friedlich. Im Morgenrosa sah alles so frisch aus. Selbst die Industriegebiete mit den uralten Fabrikanlagen. Leute gingen zur Arbeit. Sie wussten nichts von dem jungen Mann, der auf der Flucht vor seinem eigenen Leben war. Gerade dieser Anblick morgendlicher Normalität hätte ihm sicherlich gut getan. Aber Mark schlief; jetzt noch mehr zusammengerollt. Seine Augenlider zuckten und schimmerten feucht.

Er hätte dies alles ja vergessen können. Diese Anspielungen. Diese demütigenden Äußerungen. Das könnte man wegstecken. Ist ja nichts passiert, oder? Dass sie ihn als Stricher sah, störte ihn nicht weiter. Er hatte nichts gegen Stricher. Die sahen meistens gut aus, waren amüsant und konnten recht witzige Geschichten erzählen. Es war… weil sie ihm klar zu verstehen gab, auch durch diese inszenierte Szene mit dem Mann, der sich seitlich an ihn rangeschoben hatte, dass er für sie immer nur ein Stück käufliches Fleisch sein würde. Nie mehr als etwas, das man selbstverständlich erwerben und benutzen konnte.

Aber die Sache war anders gelagert. Als er tanzte und den Vorfall verdrängte, wusste er, dass es einfach falsch war. Er sah in den Frauen, die er begehrte, atmende, lebende Geschöpfe und nie bloß Fickfetzen.

Man beschenkt sich für eine Nacht mit Lust und Zuneigung. Na und?

Das ist wohl echt in Ordnung. Die Frau sah in ihm aber nur ein kaufbares Stück Fleisch. Das wäre auch noch irgendwie zu verschmer- zen gewesen.

Aber als sie ihm eiskalt und ohne jede Hemmung auf die Herrentoilette folgte, wusste er, dass sie ihn nicht nur wollte, sondern von ihm besessen war. Er beugte sich gerade über den Marmortisch und steckte

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sich einen zusammengerollten Geldschein in die Nase, als sie wie eine rauschende Erscheinung den Toilettenvorraum betrat und ihm von hinten zwischen die Beine griff. Ihre Hand wand sich schlangenhaft in der Wärme, die seine Schenkel an die Lederhose abgaben.

„Oh. Der Hurenjunge hat keine Unterhose an.“

Mark zwickte die Schenkel zusammen und schniefte die Line hoch.

Dann drehte er sich um und knallte ihr eine.

„Hau ab, du Miststück.“ Er schlängelte sich an ihr vorbei und suchte das Weite.

Er floh. Jetzt floh er tatsächlich. Er sah über die Schulter zurück und stellte erschreckt fest, dass ihr Lächeln geronnen war. Jetzt sah sie wütend aus. Sie sah aus, als würde sie ihn zerfleischen. In einem paniknahen Gefühl sah er sie vor sich: Sie kniete vor ihm. Er, nackt und gefesselt. Und sie schnitt ihm mit einem rostigen Messer mit sägenden Bewegungen die Eier ab. Mark schrie wie ein Vogel und bahnte sich einen Weg durch die tanzende, wogende Menge. Das war natürlich lächerlich. Eier abschneiden? Wohl die ewige Kastrationsangst schwanzfixierter Machos, wenn sie an ne Frau geraten, die ihnen den Schneid abkauft. So in Panik wegen einer überkandidelten Tussi? Mann, Mann, Mann! Er stürmte die Treppe hoch, an jungen schönen Leuten vorbei, aus dem Augenwinkel sah er den Mann, der ihn zuerst ange- sprochen hatte. Keine Zeit für langwierige Beobachtungen. Die Wirkung vom Koks passte sich seiner Stimmungslage an wie eine Gummimaske sich bis zu einem gewissen Grad dem Gesicht anpasst.

Die Panik wurde atemlos und stank wie bittere Galle. Er war davon überzeugt, dass sie ihm wehtun wollte. Und Mark war sicher, dass sie eine Frau war, die wehtun konnte. Und womöglich schon getan hatte.

Sie konnte mit Worten wehtun. Und ganz sicher ließ sie sich nicht ungestraft von einem Jungen ohrfeigen, der für sie unzweifelhaft ein Stricher war.

Die Musik schien ihm viel zu laut und hysterisch. Aber die Musik war nicht hysterisch. Er war es. Er verfluchte seine Entscheidung, die knallenge Lederhose anzuziehen. Für die Leute da im Club musste er ja wirklich wie ein Stricher aussehen. Mark zitterte vor Angst, als er sich

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durch die Menschentraube am Eingang kämpfte und auf die Straße taumelte. Scheißweib! Verdammte Hure! So ein Miststück! Er beugte sich vor und stütze die Hände auf die Knie. Seitenstechen. Oh Mann.

Der Neonglanz des Clubs lag hinter ihm, hinter der Menschentraube und der gepolsterten Tür. Drin stand noch ein halbvolles Glas Bier.

Wie aus dem Leben gerissen. Was einem so alles einfällt, wenn man sich einer echten Bedrohung ausgesetzt fühlt.

Er sah den Schatten nicht, der in der Nacht schimmerte. Aber er spürte diesen gellenden Schmerz, als ihn der Gummiknüppel an der Hüfte traf.

Eine Schmerzexplosion. Der Schmerz war so schlimm, dass er glaubte, kotzen zu müssen.

Er fiel wimmernd auf die Knie. Mark sah verdattert den rissigen Beton an, seine verkrampften Hände, als er nach vorne kippte und sich abstützte.

Scheißstadt. Du Verräterin! Das darf doch einfach gar nicht … wahr sein!

Die Traube beim Eingang, Conny, der muskulöse Türsteher, mit dem er immer herumblödelte, wenn sich abzeichnete, dass kein Matratzen- tango angesagt war. Das Taxi, das vorbeifuhr. 00:35 Uhr. Stimmen, Genuschel, eine Bierdose, die von Halbstarken in eine Seitengasse gekickt wird. Ein gebelltes: „Fuck you“. Alles so deutlich. Aber noch deutlicher der weinende Schmerz seiner Niere, das Zucken seines linken Beins, die Arme unter seinen Achseln, die ihn in die schmale, verdreckte Seitengasse neben dem Club zerrten. Wegen dem Schweiß unter den Achseln rutschte er immer wieder aus dem Griff des Frem- den, des Mistkerls. Gerade genug, um ihm die halb bewusstlose Hoffnung auf Flucht einzuimpfen. Doch eindeutig zu wenig für eine echte Flucht.

Die Panik aß von seinem Herz.

Als er sich die Tränen wie ein Kind mit den Fäusten aus den Auenwin- keln gewischt hatte, hockte die Frau zwischen seinen gespreizten Beinen. Sie drückte mit ihren Knien seine Schenkel auseinander. Der Mann hielt ihm von hinten ein Messer an die Kehle. Mark lehnte am

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vorgestemmten Knie des Kerls. Wenn er den nach Panik schmecken- den Speichel runterwürgte, spürte er das Kratzen der Klinge an seinem Kehlkopf. Sie hatte irgendetwas in der Hand. Es sah aus wie ein Stempel. Oder so.

„Du kannst es haben wie du willst, Strichjunge.“ Mark hörte, dass sie dieses Wort wirklich liebte.

„Entweder du lässt dich jetzt von Josh in deinen Scheißarsch ficken, oder deine Eier machen damit Bekanntschaft …“

Sie drückte auf einen Knopf an der Seite des Gegenstandes, den sie in der Hand hielt und ein knisternder Lichtbogen blendete seine feucht schimmernden Augen.

Ein Schocker. Ein scheißverdammter Elektroschocker! Hilfe! Das Weib griff ihm zwischen die Beine und strich mit ihren lackierten Fingernä- geln –eine leise Drohung- über die Beule, die seine Weichteile ins Leder drückten. Sie strich kichernd die einzelnen Falten von der Mitte nach außen nach. Das hätte in einem anderen Leben und in einer anderen Situation sicher mit einem Schnurren quittiert werden können. Aber verdammt! Das Weib markierte ihn. Dann ballte sie plötzlich die Faust und hieb schwungvoll auf seinen Schoß. Da Mark keine Unterhose anhatte, erwischte sie ihn ziemlich genau auf die Eier und er schrie heiser auf. Mark wand sich auf dem Boden und kratzte mit den Sohlen über den Dreck. Die Frau lachte und fand das Ganze offenbar sehr erheiternd.

Josh packte Mark im Genick wie eine Katze und drehte ihn zu sich herum. Mark starrte verwirrt den fleischigen riesigen Penis des Mannes an. Die Hand in seinem Nacken war wie ein Schraubstock und der Schmerz zog sich jetzt von seinem Genick runter bis zu den Hoden.

Das Glied stank. Es war verschwitzt. Mark würgte und rappelte sich hoch. Das knallende Zucken des Lichtbogens ließ ihn zusammensac- ken. Und dann begann er, wirklich zu weinen. Die Frau heuchelte belustigtes Mitleid.

„Na na na … Der Hurenjunge weint ja!“ Auch dieses Wort schien ihr ganz besonders gut zu gefallen. Alles, was die Ehre und den Stolz eines jungen Mannes kastrieren könnte, schien ihr sehr gut zu gefallen. Und

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wahrscheinlich würde sie ihm den Schocker wirklich gerne an die Eier halten.

Mark überzeugte sich, dass der Zipp der Lederhose immer noch zu war und nicht offen, so, dass sie ihre Drohung im Handumdrehen wahrma- chen könnte. Mark machte eine unverfängliche Drehung nach links und rammte dem Mann, ohne über das Messer an seinem Hals nachzuden- ken, den Ellenbogen in die Weichteile. Der Effekt war verblüffend. Der Mann quietschte wie ein Schwein, mit dem Messer in der Hand kippte er zu Boden. Da sich seine Faust um den Messergriff verkrampft hatte, rammte er sich die Klinge seitlich in den Bauch. Die Frau presste die Kontakte des Schockers an Marks Hüfte und betätigte den Knopf; fast an der gleichen Stelle, an der ihn der Gummiknüppel erwischt hatte.

Der Schmerz gellte von den Zehen bis zum Oberarm, wie böse zuckende Lava.

Hör auf!!!

Aber sie hielt den Schocker mit einem grimmigen Lächeln an seine Seite. Es stank verbrannt. Mark kreischte gellend. Sein linkes Bein zitterte noch immer von dem Hieb, seine ganze linke Seite war ein tobendes Fanal, aber er konnte sich mit einer uneleganten Bewegung hochwuchten und zur Straße stolpern. Er prallte gegen die Ziegelwand und riss sich ein paar Kratzer in die Schulter. Er schluchzte.

„Hilfe.“

Zu leise. Zu heiser. Zu verdammt der letzte Schrei eines Jungen, der jetzt gleich abgemurkst wird. Unter den Tränen fing Mark an, hyste- risch zu kichern. Mann, das kann man keinem erzählen. Echt nicht…

Er stolperte mitten auf die Fahrbahn. Er fuchtelte wie ein Betrunkener mit den Armen und lief dann auf die andere Straßenseite.

Das Haifischweib machte ein paar Schritte aus der Gosse auf ihn zu und ließ den Schocker aufblitzen. Dann fuhr ein Streifenwagen vorbei.

Sie wich ins Dunkel zurück und Mark hinkte so schnell er konnte zu den helleren Straßen.

Drei Straßen weiter stolperte Mark die Treppen zur U-Bahn runter.

Neonlicht. Weiße Fliesen. Leute hier. Toll. Er schniefte die letzten Reste der Panik hoch und spuckte auf die verdreckten Wandfließen.

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Nachtfalter unterwegs. Ein paar flachsende Schwarze, ein paar Skater, ein paar Raver. Sie kamen von Partys, wechselten von einer zur anderen Party, hingen auf den Straßen rum. Na und? Es ist Sommer in der Stadt. Da ist das völlig okay. Und es ist ganz besonders okay, das jetzt einige von diesen Jungs mit ihren Mädchen hier unten bei ihm waren und so wie er auf die U-Bahn warteten. Trotzdem er sich einredete, sich jetzt entspannen zu können, sah er sich immer wieder gehetzt um und rechnete in jedem Moment damit, die Furie und ihren Ficker zu sehen.

Aber vor dem brauchte er wohl keine Angst mehr zu haben. Der blutete sicher wie ein abgeschlachtetes Schwein. Selbst als er in die Metro stieg und die Türen mit einem pneumatischen Pfeifen zufuhren, konnte er nicht so recht an seine Sicherheit glauben. Er ließ sich mit einem Schniefen auf eine Sitzbank fallen und starrte die baumelnden Haltegriffe an.

Eine halbe Stunde später war er zu Hause. Er wohnte in einem Apartment, das ihm seine Eltern gesponsert hatten. Inzwischen verdient er genug, um sich die Wohnung selbst leisten zu können. Der Hauch eines ersten Dämmers schälte sich aus der Nacht. Mark stöhnte vor Erleichterung, als er die Wohnungstür hinter sich zuknallte und von innen anlehnte. Er kam langsam zur Ruhe. Zumindest körperlich. Das Zittern ließ nach und der Schweiß trocknete auf seiner Haut. Er wischte sich die Hände an der Hose ab und ging dann hinkend ins Schlafzimmer und angelte sich den Rucksack vom Kleiderschrank. „Ich gehe. Das ist nicht mehr meine Stadt. Repeat: Das ist n n n nicht mehr m m meine S scheißstadt.“ Mark starrte den Schlafzimmerspiegel an, ohne sich zu sehen. Zu dunkel. Zu sehr in den Schatten. Besser so.

Aber er stotterte wieder. Der D-Zug seiner Kindheit rauschte an ihm vorbei. Er sah sich selbst hinter einer der gleißenden Scheiben sitzen und sich selbst zuwinken. Ein unansehnlicher Junge mit Brillen und merkwürdiger Frisur. Ein Junge, der stotterte, wenn ihn jemand scharf ansprach. Ein Junge, der erst in der Pubertät zur Schönheit reifen sollte.

Und das Stottern überwand. Seither hatte er nie wieder gestottert.

Früher war es leicht. Man musste ihn nur ein wenig nervös machen, ihn

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bedrohen (So wie Kinder das auch hin und wieder untereinander so machen)… Er stotterte wieder. H h h hallo a a alter Freund.

Er klatschte das Säckchen mit dem weißen Pulver auf den Küchentisch und nestelte mit fickrigen Fingern den Verschluss auf. Ein Geldschein.

Rasch. Eine Kreditkarte. Rasch. Aber es war kein Koks. Es war Speed.

Auch gut. Dann komm ich hier schneller weg …

Er stopfte drei Hemden, Marke kariert und netter Jeansjunge von nebenan, und drei unterschiedlich ausgewaschene Levis in den Ruck- sack, T-Shirts, schwarz und weiß und ein Tanktop, weiß, die Nikes … weiße und schwarze Boxershorts.

Dann ging er noch zum PC und öffnete Evolution, sein Mailprogramm, und verfasste ein Urlaubsansuchen besonderer Dringlichkeit … später könnte er ja noch immer weiter sehen.

Dann wieder zurück auf die Straße, in die Metro und los Richtung Busbahnhof.

Er schaute nicht auf die Ziele der Busse, sondern auf die Abfahrts- zeiten. Nix wie weg hier! 3:45 Uhr ging der nächste Bus. Keine Ahnung wohin. Weg.

Er enterte den Bus, setzte sich etwa in die Mitte und kuschelte sich ans Fenster.

-Fahr los. Fahr endlich los, Scheißkarre …

Schlafen wäre was. Ja, echtes gutes Schlafen. In einem frisch bezogenen Bett. Sich nackt unter der Decke strecken wie eine Katze. Kaffeeduft.

Stille.

Nix dergleichen.

Als Mark sich aus dem zitternden bisschen Schlaf kämpfte, hatte er Kopfschmerzen. Der Nacken war verspannt und seine Blase drückte.

Er hatte das Gefühl, kotzen zu müssen. Bitte einfach vorbeugen und kommen lassen, ja? Aber es war nichts in ihm, außer einem brennenden Würgen, das knapp unter dem Hals pulsierte. Er stank. Er roch es nicht, vermutete es aber. Mark rutschte etwas in aufrechte Position und sah sich im Bus um. Er musste ein paar Stationen verschnarcht haben,

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denn der Bus war inzwischen zu zwei Drittel voll. Hauptsächlich ältere Leute, ein paar Farbige. Er war der Exot dieser Busfahrt. Wie durch den Wind, aus einer Nachtbar in diesen taghellen Bus all american Wohlstandes.

Industriegebiete hatte er wohl eindeutig verschlafen. Es schien immer grüner um ihn herum zu werden. Durch die getönten Scheiben des Busses wurde die Helligkeit des Tages gemildert. Dafür wirkten die Farben intensiver. Sie fuhren noch immer auf einem der Highways, weiß der Geier welcher Highway … aber das Land um ihn herum wurde hügeliger, so schien es. Sie rauschten an Drive-Ins vorbei, Raststationen und riesigen Einkaufspalästen mit noch riesigeren Parkplätzen. Und der Schmerz seiner übervollen Blase wurde immer dringender.

In Randolph, New Jersey war Ende der Legende. Marks Blase schwappte Salzsäure in sich rum, seine Beine waren wie Gummi und der Bus hatte hier Endstation. Randolph war ein wenig mehr als eine Kleinstadt, mittlerer Wohlstand hatte sich etabliert. Die Busstation mit dem großen Glasgebäude befand sich an der 4-spurigen Straße. Rechts ging es ins örtliche Gebiet, links waren Kaufhäuser, Autohäuser, Garagen, Tank- stellen und Werke. Randolph lag wie in hügelige Landschaft gemalt da.

Mark verließ den Bus im Eiltempo und schulterte den Rucksack, während er auf die Busstation zueilte. Ein paar gemütlich auf einer Holzbank sitzende Leute sahen ihm argwöhnisch, aber auch amüsiert, nach und Mark sauste zielstrebig die Toilette im hinteren rechten Teil der Wartehalle an. Gegenüber der Toilette waren die Kassen und Fahrplanwände. Er wusste, dass er hier deplaziert wirkte, aber erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr. Er erwartete fast, dass hinter ihm ein Tu- scheln anheben würde, die Leute mit Fingern auf ihn zeigen würden.

„Ein Junge aus der Stadt … so einer von diesen Rauschgiftsüchtigen … Rauschgift … jaaa … Einer der schwulen Discohüpfer … hast Du seine Haare gesehen? Irgendwie … unanständig … ja, das ist er:

Unanständig …“

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Mark pfiff vor Erleichterung durch die Zähne, als er den Zipp öffnete und mit Hochdruck aufs peinlich weiße Porzellan pisste. Er sah, während er Säure pisste, in den Spiegel über dem Waschbecken und musterte sein Gesicht. Müde, blass, aber sonst ganz ok. Die Haare waren ein Drama für sich und irgendwie ziepte und juckte seine Kleidung überall. Seine Eier fühlten sich geschwollen und verschwitzt an und er knickte in den Knien immer ein bisschen durch.

Yeah. Er war der importierte Schmutzfleck dieser perfekten Land- schaftsmalerei, er war der Fleck im perfekten Orange dieser Gemein- schaft.

Mark schüttelte ab und verstaute das Ding wieder in der Hose, als er auf den Gedanken kam, gleich hier an Ort und Stelle ne kleine Katzen- wäsche durchzuführen. Der Seifenspender war frisch gefüllt, alles glänzte sauber und es war nichts los. Es war inzwischen 11:30 Uhr und er spürte so was wie Hunger. Und diesen Zwang, sich zu waschen.

Gleichzeitig hinterfragte er die Beweggründe, die ihn auf die Straße und hierher nach Randolph, New Jersey verfrachtet hatten. War es nur diese fast vollzogene Vergewaltigung durch diesen Vamp? Mark zog das verschwitzte Tanktop über den Kopf und drückte sich etwas Seife aus dem Spender. Mit der Linken drehte er den Kaltwasserhahn auf. Dann begann er sich zu waschen. War es der Schwanz, den dir das Arschloch vor die Nase gehängt hat, Mark Beaumont, New York, New York? Mark dachte ernsthaft darüber nach und verneinte dann. Er hatte diesbezüg- liche Angebote schon als Zwölfjähriger bekommen. Manche charmant, die meisten allerdings lästig und öde. Diese Avancen sind wohl etwas, womit ein gutaussehender Teenager in New York zu leben lernt. Es war nicht die Ursache. Nichts von dem Abend selbst war die alleinige Ursache. In dieser Nacht gab es keinen Gewinner unter den Ursachen.

Die Verkettung der Ereignisse an diesem Samstag waren Initialzünder für einen Ausbruch, der schon länger in Mark gegärt hatte. Die Unzufriedenheit mit seinem aus anödenden Routinen zusammen- gezimmerten Leben nagte schon seit Monaten in ihm. Alles war vorher berechenbar und wenig besonders. Na okay, aber ist das ’ne Lösung?

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Zugekokst bis unter die Hutschnur noch vor Morgengrauen in den nächsten Bus hüpfen, klimatisiert hin oder her, und sich einfach aus dem Staub machen?

Nun, es war bei Gott keine Lösung.

Aber es war ein Anfang.

Amen!

Als er sich gerade auf die Zehen stellte und sich den Schwanz einseifte, ging die Tür auf und ein etwa 50 jähriger Mann in Jeans und Jeansjacke enterte die Toilette. Er grinste verständnisvoll und sagte:

„Wohl auf der Durchreise, Junge, was? Nein nein. Ganz sicher auf der Durchreise. Denn in Randolph wirst du nicht bleiben. Das ist mal amtlich.“ Er angelte seinen Sheriffstern, den er in der Hosentasche hatte, an der ziselierten Kette hervor und hielt ihn Mark unter die Nase.

Irgendwer hatte gesungen. – Sheriff, da ist so’n Drogenjunkie auf dem Scheißhaus, ähem, auf der Toilette und drückt sich sicher grad ne Ladung rein. Oder er massiert ihn sich gerade steif, um hier seine dreckigen Geschäfte zu machen.-

„Du kannst das … das hier beenden. Dann setzt du dich in den nächsten Bus, egal wohin. Und der nächste Bus geht in genau 13 Minuten. Nach Budd Lake. Und versuch erst gar nicht, mir deine Geschichte zu erzählen. Die interessiert mich nämlich genau einen Scheiß. Also wasch deine Eier, zieh dir meinetwegen frische Sachen an und dann hau ab aus dieser Stadt. Du stinkst.“

Der Sheriff blieb ungerührt an die Tür gelehnt stehen und ließ kein Auge von Mark. An dem Blick war nichts Anzügliches. Er wirkte gelangweilt, aber doch auch sehr aufmerksam. Könnte ja sein, dass der Scheißer plötzlich eine Knarre zieht und hier randalieren will. Mark wurde rot und der Sheriff sah auch das. Vielleicht doch kein Gewalttä- ter, wenn er rot wird, weil ihm ein Kerl beim waschen zusieht. Der war sicher noch nie im Knast.

Mark zog sich die Lederhose aus und rollte sie zusammen. Unter dem kühlen Blick des Deputies stand er nackt da, verletzlich wie selten

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zuvor. Aber der Mann rührte sich nicht. Mark war ihm sogar dankbar, dass er die Tür blockierte und ihm so möglicherweise weitere peinliche Szenen ersparte. Mark zog sich eine Boxershort und frische Socken an, zog das blauweiß karierte Hemd an und die ausgewaschenste Jeans.

Dann beugte er sich noch mal über den Waschtisch, drehte das Wasser auf und wusch sich die Haare. Das Gel klebte wie ranziges Fett, aber er kriegte den Kopf halbwegs sauber. Noch 5 Minuten bis zum Bus.

„Ich muss noch ein Ticket kaufen, Sheriff. Das wird knapp …“

„Du gehst zum Bus. Greyhound. Nummer 655. Das Ticket mach ich für dich klar. Hast du genug Geld?“

Mark nickte und drückte dem Sheriff 30 Dollar in die Hand. Er schulterte den Rucksack und verschwand durch die Tür, die der Sheriff für ihn öffnete wie für einen Star. Nur war das Grinsen des Mannes zu wenig ehrerbietig. Ohne sich nach links oder rechts umzudrehen, ging Mark rasch auf den Ausgang zu und orientierte sich bei den Busbuch- ten. 655, Budd Lake. Bingo. Mark ging zur geöffneten Tür, da holte ihn schon der Sheriff ein. Er drückte ihm das Ticket und das Wechselgeld auf Heller und Pfennig genau in die Hand und setzte ein mildes Lächeln auf. „Gibt viele alte Leute hier, die mit so Jungs wie mit dir nicht klarkommen. Die Leute leben hier, weil sie hier nicht mit Jungs wie mit dir klarkommen müssen. Und ich sorge dafür, dass es so bleibt.

Vielleicht bist du ja ein netter Kerl. Aber das wird hier niemand interessieren. Die meisten Leute sehen hier dich und deine Klamotten, die du anhattest und denken an Sünde und all das, was ihnen die Kirche so an Wahrheiten reindrücken will. Ich bin Atheist. Aber, hm … es ist mein Job. Die Leute zahlen mich dafür …“

Mark wandte sich im Einstieg noch mal zu dem Sheriff um und lächelte: „Danke für die Fairness, Sheriff. Aber Sie können sicher sein Sir, dass ich hier kein zweites Mal einen Urlaub buche.“ Er grinste.

Der Mann in Jeans und dem Sheriffstern in der Hosentasche lachte schallend auf und kicherte noch immer, als der Bus aus dem Busbahn- hofsgelände rollte und sich auf seine Reise machte.

Er wischte sich die Lachtränen aus den Augen und ging kopfschüttelnd zur Glasfront des Gebäudes zurück.

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Kapitel 2: Johan macht Ferien

Johan rollte mit dem 76er Ford seines Vaters über die Brücke und sah das stürmische Wasser brausen. Rod Stewart sang, dass er segelte und Johan schnupfte verärgert ein paar aufsteigende Tränen weg. Es ist nicht richtig zu weinen. Es ist nicht richtig, weil man ein Mann ist, weil man Auto fährt. Und schon gar nicht, weil einer im Radio singt, dass er durch stürmisches Gewitter fliegt. Außerdem sollte man am ersten Tag eines Kurzurlaubes seine wertvolle Zeit nicht mit Tränen wegschnup- fen vertrödeln, oder?

Aber es gab mehr als genug Gründe auf dieser Reise des 19jährigen Burschen, ein paar Tränen zu vergießen. So zum Beispiel dieser elende Verrat am Haus seiner Großeltern. Das war eigentlich der Hauptgrund und aus der Sicht seines Vaters waren Johans Gründe, sich gegen den Verkauf dieses Prachtstücks zu wehren, durch und durch egoistisch.

Dieses Haus zu verkaufen hieße, die Kindheit zu verraten. Die beste Zeit seines Lebens. Alles vor den Wirren des Erwachsenwerdens. Alles so sonderbar klar. Gerüche wie Apfelkuchen und heiße Kastanien; ein Haus, das sich um einen schloss wie eine heimelige Decke, Großvater und Großmutter Geruch.

Abgesehen davon hatte Johan einen Streit mit seinen Vater, bei dem es einige unschöne Worte gegeben hatte. Dinge, für die man sich ent- schuldigen kann, die jedoch nie wieder vergessen werden können.

Und schlussendlich hatte Johan eine Idee eingebracht, wie man aus dem Haus doch noch Gewinn schlagen könnte, ohne es verkaufen zu müssen. Mit relativ wenig Aufwand, alles in Handarbeit, sozusagen.

Immerhin hatte Johan als Tischler genügend Ahnung davon, wie man gewisse Umbauten bewerkstelligen kann. Johan arbeitete in einem kleinen Tischlereibetrieb in Cedar Falls, der sich auf Restauration antiker oder sehr alter Möbel und Gebäudeteile aus Holz spezialisiert hatte. Die Firma ging gut. Ein Achtmann Betrieb, der nur deshalb nicht größer wurde, weil der Chef, Harold Smith, keinerlei Interesse an einem

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unüberschaubar großen Betrieb hatte. Dies hatte zur Folge, dass die acht Leute überdurchschnittlich verdienten und dafür auch sehr viel arbeiten mussten. Johans Spezialität waren Holzverkleidungen, Zierart und rustikale Möbel. Er freute sich schon regelrecht darauf, sein Werkzeug auszupacken und mit aufgerollten Ärmeln dem Haus seiner Großeltern zu Leibe zu rücken.

Fakt ist, dass das Haus ein Juwel ist. Dass es erstklassige Lage hat. Und dass die wohligsten Erinnerungen Johans an seine Kindheit die lebendigsten Geister dieses alten Herrenhauses waren, das vor 150 Jahren gebaut, ständig gewachsen war und nun von den grünen Hügeln von Old Hanley, etwa neun Kilometer südwestlich von Winterset, auf die Stadt hinabsah. Old Hanley war im Lauf der Zeit vom Dorf zur Kleinstadt aufgestiegen und erfreute sich vor allem bei Urlaubern aus der Umgebung regen Zuspruchs. Viele Familien aus Winterset, Des Moines und sogar Cedar Falls hatten in Old Hanley ihr Ferienhaus. Die saftigen Wälder und Hügel eigneten sich prächtig für ausgedehnte Spaziergänge; hier konnte man Nachts noch die Haustür unver- schlossen lassen und die größte Aufregung ist, wenn mal ein Tourist aus dem Ausland durchfährt. Die Leute beim Friseur können sich tatsächlich stundenlang darüber unterhalten, woher denn der bloß gekommen ist und wo der denn nun hin will. Einmal im Jahr ein etwas heftigerer Herbststurm oder der Bankraub 1998 in Winterset, Stoff genug, um an lauen Sommerabenden auf der Veranda zu sitzen, kühle Limonade zu trinken und Geschichten zu erzählen. Der Renner und ewige Gewinner beim Geschichten erzählen war wohl die Sache, als Clint Eastwood und Meryl Streep hier in Winterset antanzten und diesen Film machten. Die jungen Leute in Old Hanley waren entweder Einheimische; die waren aber in der Minderheit. Die meisten versuch- ten, sobald sie achtzehn wurden, nach Des Moines oder Iowa City zu gehen, um dort einen „Stadtjob“ zu bekommen. Manche schafften es;

die meisten, die Old Hanley verlassen hatten, schlugen sich mit Aushilfsjobs durchs Leben oder kehrten als Twens vom Leben geprügelt zurück, um beim elterlichen Betrieb mitzuhelfen. Der Großteil der örtlichen Jugend bestand aus blasierten, gelangweilten

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Collegeboys und Girls, die abends mit Mofas herumknatterten, im Lake Finch badeten oder ihre Unschuld auf dem Rücksitz eines Cabrios am Ufer des Lake Finch an den Mann im Mond verschleuderten.

Als 1999 Johans Großeltern, also die Eltern seiner Mutter, starben, innerhalb einer Woche, stand das Haus zum ersten Mal in seiner Geschichte leer. Es waren keine habgierigen Erben aufgetaucht, die es vom Keller bis zum Dach nach Goldbarren, Aktien oder scheißge- wöhnlichem Geld durchsuchten. Niemand riss sich das antike Spinnrad unter den Nagel oder baute den wertvollen Kachelkamin aus. Das Haus stand leer und war voller Geister. Voller Gerüche. Und voller Erinne- rungen. Witzig war, dass nie besoffene Jugendliche oder raue Burschen aus der Umgebung hier rauf kamen, um Rabatz zu machen. Es wurden keine Scheiben eingeschlagen, keine Türen eingetreten. Im Sommer 2000, etwa eine Woche, nachdem Johan hier war, um nach dem rechten zu sehen, hatte sich ein zwölfjähriger Junge einer selbst verschriebenen Mutprobe unterzogen und war zum Haus hoch gepilgert. Nach Mitternacht. Die Eulen schrien, irgendwo heulte ein Hund, oder war es ein Wolf?

Der Junge wollte da rauf, um zu schauen, ob an der Geschichte mit dem Ritualmord in diesem Haus was dran war. Er hatte nicht den blaßesten Schimmer, was er zu finden hoffte, oder fürchtete, aber er ging die Teerstraße zum Haus entlang und schwitzte und fürchtete sich.

Er würde den anderen Morgen dann alles haarklein erzählen. Und dann würde er vielleicht keiner von „Außerhalb“ mehr sein, sondern einer von „ihnen“. Soweit der Plan. Die Straße führte in drei weitschweifigen Kurven zum Haus hoch. Dort stand es mit dem Rücken zum Wald, der, wenn man den Sagen der Alten glauben wollte, endlos war, wenn man ihn zu einer bestimmten Nachtzeit betrat. (Bei Neumond. Bitte welcher Idiot geht, wie besoffen auch immer, bei Neumond und vermutlich nach Mitternacht in den Wald?).

Früher war das Haus abends wie ein Leuchtturm vor den Wogen des stürmischen Waldes gewesen. Ein beruhigendes Licht. Ein heimatlicher Hafen, den man schon von weitem sah, wenn man auf der Straße von Winterset hierher fuhr. Jetzt waren alle Augen blind. Wenn man nun

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von der Stadt rauf sah, dann sah man geometrische Schatten im wallenden, dunklen Chaos des Waldes. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Natürlich hatte es nie einen Ritualmord gegeben. Außer zahlreichen Truthähnen und Gänsen hatte dort nichts sein Leben gelassen und vermutlich war diese Legende geboren worden, um Scream 123 und Ich weiß was du letzten Sommer getan hast eine urbane Legende entgegenhalten zu können. Wahrscheinlicher ist, dass die Leute dieses Gerücht ausstreuten, um die Kinder vom Haus fern zu halten. Das Haus hatte an drei Seiten Terrassen. Alte, aus Holz gezimmerte und weiß gestri- chene Terrassen. Eine nach hinten raus zum Wald. Eine seitlich zur Stadt hin und eine vorne zum Kiesplatz, der um einen Steinbrunnen zentriert ist. Es hatte zwei Etagen und einen zum Arbeitszimmer ausgebauten Dachstuhl, in dem Johans Großvater bis kurz vor seinem Tod allgemein anerkannte und hochgelobte Bücher über die Geschichte des Countys verfasst hatte. Einige davon befanden sich in der städti- schen Bibliothek von Winterset, andere sogar in diversen Schulbiblio- theken. Raul Finnebergs Geschichtsbücher waren zum einen äußerst präzise und zum anderen voller humoriger Kalauer und Hörensagen, die er immer in Kursivschrift eingestreut hatte…

Der Junge erreichte das Haus und beschloss, gleich aufs Ganze zu gehen und sich in der oberen Etage umzusehen. Er benutzte die Efeuranken, die an Holzsprossen befestigt waren und damit den gleichen Weg, den der kleine Johan in den frühen Sommern verwendet hatte, wenn er sich mit Großvater heimlich hinter dem Schuppen auf eine Zigarette treffen wollte. Nur: Johan kannte die Tücken der Holzsprossen. Der Reisende in Sachen Mutprobe kannte sie nicht. Und so kam es wie es kommen musste: Fast oben angelangt und schon ein halber Blick durch das geschlossene Fenster in das geheimnisvolle Zimmer (Johans Kinderzimmer), da gab eine Sprosse nach, der Junge fuchtelte herum und stürzte aus drei Meter Höhe zu Boden. Er brach sich dabei die Hüfte und das rechte Handgelenk und heulte so laut, dass in der Stadt unten auf der dem Haus zugewandten Seite nach und nach die Lichter angingen. Der Junge heulte noch im Rettungswagen, der ihn

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ins Spital nach Winterset brachte und berichtete von einem halbverwe- sten Jungen, der ihn mit einem dämonischen Grinsen gestoßen hätte.

Soviel zu der Entstehung von urbanen Legenden.

Das Haus von Johans Eltern befand sich in Cedar Falls, North Cedar.

Direkt am Fluss mit einer wunderschönen Aussicht. Seine Mutter hatte dieses Haus erworben, als er 7 Jahre alt war. Also ging er in Cedar Falls zur Schule und wuchs hier auf. Die Sommer verbrachten sie immer bei den Großeltern, Weihnachten sowieso.

Die Hügel im Nordosten Iowas bildeten die Kulisse für seine Jugend.

Er liebte Iowa auf bodenständige und wenig patriotische Weise. Er war überhaupt davon überzeugt, dass man kein Recht hatte, auf etwas stolz zu sein, das man nicht selbst verursacht, bewirkt oder erzeugt hatte. Als Siebzehnjähriger trieb er sich oft in Clayton herum und sah den Schleppkähnen zu. Obwohl er sich diese lyrische Seite nicht eingeste- hen wollte, waren es nicht die Schlepper, warum er immer wieder nach Clayton fuhr. Es war das Licht. Orte, deren Charakter sich erst bei einer bestimmten Art Licht erschloss, zogen ihn magisch an. Clayton. Eine wenig schöne Stadt. Aber das Licht nach einem Gewitter zum Beispiel, wenn sich die Sonne schräg durch die abziehenden Gewitterwolken schneidet und den Fluss glitzern lässt … das hatte schon was für sich.

Als Johan jetzt Richtung Südwesten fuhr, schaute er sich die Farben des Vormittags an, dachte über den Streit mit seinem Vater nach und umfuhr so gut es ging jede Bundesstraße, um sich auf Land- und Nebenstraßen gemächlich seinem Ziel zu nähern. Er rauchte wieder.

Das tat er nur, wenn seine Eltern weit weg waren, weil beide militante Nichtraucher waren. Johan war ein schlanker, mittelgroßer Bursche mit sehnigen Muskeln. Er hatte strohblondes Haar und dunkelblaue Augen.

Einige Male hatten Männer versucht, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Leute mit merkwürdigen Vorstellungen von Rassen, Bluttreue, Patriotismus und White Power im Großen und Ganzen. Nun, rein äußerlich schien er wie geschaffen für solches Gedankengut. Die Haare waren an den Schläfen und im Nacken ausrasiert, der Scheitel fiel ihm immer wieder ein wenig über das rechte Auge. Er hatte keine Piercings, trug keine

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Skaterhosen oder überweite T-Shirts. Er war der Traum eines jeden Rassenfetischisten. Dazu kam, dass er auf unbeholfene Weise anzie- hend wirkte. Er war nicht schnell, so wie die anderen. Er bedachte seine Entscheidungen, war gar nicht impulsiv. Er war aber auch keineswegs berechnend. Seine Spontanität war gemächlicher Natur, aber eindeutig da. Das ließ ihn manchmal etwas schwerfällig wirken. Aber er hatte seine Prinzipien. Eines davon war, dass die Beurteilung von Menschen aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe und sexuellen Orientierung für Dummköpfe erschaffen worden sein muss, denn anders war es nicht denkbar. Irgendwer musste sich mal hingesetzt und sich den Kopf darüber zerbrochen haben, wie man es simplen Gemütern einfacher machen könnte, sich doch toll vorzukommen, wenn sonst kein Trick mehr hilft. Johan hatte zu oft in der Schule gesehen, wie Jungs oder Mädchen wegen für ihn unsichtbaren Kleinigkeiten ausgegrenzt, gedemütigt oder regelrecht terrorisiert wurden. Als Vierzehnjähriger hatte er Henry David Thoreaus Buch: Vom Leben in den Wäldern regelrecht verschlungen. Dann folgte: Von der Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, Vom Spazierengehen und andere Essays. Er las alle Bücher seines Großvaters und als Sechzehnjähriger war er in Schülerkreisen verrufen und berühmt für sein Wissen über Iowa.

Einmal hatten die Schüler der High School einen zierlichen Burschen für ihre dummen Späße entdeckt. Sie brandmarkten ihn als Schwulen und als das zu wenig skandalös war (Tatsächlich schien das zu vielen Schülern völlig egal zu sein), dichteten sie ihm noch Prostitution (Echt:

Du glaubst es nicht. Kim hat ihn am Bahnhof von Des Moines gesehen. Der lässt sich dort von alten Schwulen in den Hintern ficken. So wahr ich hier stehe und dir das erzähle. Aber… hey, mach keine Affäre draus) und Drogensucht an.

Erlebnisse dieser Art und die vorangegangene Lektüre bewirkten, dass Johan auf seine eigene Art und Weise menschenscheu wurde. Er hatte keine Angst vor Menschen. Nicht im Geringsten. Ihm schien mögli- cherweise nur der Aufwand, Leute kennenzulernen, unverhältnismäßig.

Er hatte drei Freunde, die er auch wirklich als Freunde sah. Und sie waren ebenso wie er, in der Schule eher Außenseiter. Dass sie nicht terrorisiert wurden, lag wohl daran, dass sich zum einen die Mädchen

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für die Burschen, und hier besonders für Johan, interessierten. Ein Bollwerk weiblichen Charmes sozusagen, das sie vor übellaunigen männlichen Jugendlichen schützte, da die Rasselbande nicht bei den Mädchen punkten konnte, wenn sie sich an diesen Burschen hochzo- gen. Und zum anderen, dass man an ihnen nichts finden konnte, was man zum Aufhänger für Terror machen konnte. Sicher, man konnte, wenn man wollte, alles zum Aufhänger für jugendliche Gemeinheiten machen. Aber das war zu mühsam bei diesen Typen. Sie gaben nichts her. Sie waren gute Schüler, und Johan war darüber hinaus noch ein sehr guter Sportler mit einem ausgeprägten Sinn für Fairness. Da gab es dankbarere Ziele. Neue Schüler, von irgendwoher samt Eltern zugereist. Wehrlose unsichere Kids, die wie scheue Rehe durch die Schulgänge schlichen, den Kopf gesenkt und ängstlich roten Wangen.

Bei Johan hatten zwei Dummköpfe versucht, ihn wegen seines europäi- schen (tschechischen) Vornamens madig zu machen. Er könnte sich ja John nennen, oder Jonathan oder Joey. Aber Johan war stur. Und als die beiden merkten, dass sie bei Johan auf der Seife standen, widmeten sie sich der Tochter einer religiösen Spinnerin. Die graue Maus heulte wenigstens, wenn man sich über sie lustig machte.

Johan spielte seit seinem siebten Lebensjahr Baseball und sein Coach prophezeite ihm eine Zukunft als Berufssportler. Johan lächelte bei dem Gedanken, noch als Dreißigjähriger im Baseball Dress ins Stadion zu laufen. Er hatte andere Pläne. Er wollte schreiben. Vor einem Jahr hatten ihm seine Eltern zum Geburtstag einen Laptop geschenkt. Er wollte das Wesentliche von Thoreaus Philosophie mit den präzisen Beobachtungen und Geschichtsrecherchen seines Großvaters ver- schmelzen und damit eine zeitgemäße Adaption des Transzedentalis- mus schaffen. Ihm gefiel das Wort nicht. Es war wie ein Ungetüm, das sich im Mund zusammengerollt, dagegen wehrt, ausgesprochen zu werden.

Whitmans lyrische Betrachtungen zum demokratischen Mann; Ameri- ka, ein neues Geschlecht. Whitman hatte mit einigen Versen Johans Lebensgefühl präzise umschrieben; Whitmans Geschichtsbewusstsein und Poesie … dieses Lebensgefühl in Prosa zu verwandeln und mit

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dem moralischen Anspruch Thoreaus zu binden, das schwebte ihm vor.

Und das war eigentlich auch das Sandkorn, um das sich der Streit zwischen ihm und seinem Vater entwickelt hatte. Es ging nicht nur um das Haus, über das sein Vater so lässig entscheiden wollte, obwohl es rechtens seiner Mutter gehörte. Sein Vater, ein Computerwissenschaft- ler mit einem ausgeprägten Hang zu Logistik und logischer Definition, hätte es gerne gesehen, wenn sein Sohn in seine Fußstapfen getreten wäre. Der Laptop hätte dem Jungen dazu dienen sollen, sich mit dem Betriebssystem und den Möglichkeiten moderner Kommunikation auseinanderzusetzen. Und was machte der Junge? Tippte wie ein Wilder seine krausen Ideen in die Festplatte. Darüber hinaus schien Johan, während er zweimal weggeschaut hatte, ein hohes Maß für Tradition und Familie entwickelt zu haben. Nicht auf Grundlage der verbiesterten Wert- und Moralvorstellungen der Kirche, sondern wieder auf regel- recht heidnische Art. Sein Vater meinte: Das Haus zu verkaufen wäre ein logische gute Sache, weil sie Geld brachte und Arbeit sparte. Johan meinte, das Haus zu verkaufen hieße, einen Teil der Familiengeschichte wegzugeben. Seine Kindheit zu verkaufen und nicht zuletzt auch die Erinnerungen an die schönen Zeiten, die seine Eltern da verbracht hatten. Johan war im Haus seiner Großeltern gezeugt worden, er hatte dort angeln gelernt und Spuren von Wildtieren zu lesen. Er hatte im Klo im ersten Stock zum ersten Mal gewichst und im Jugendzimmer als Vierzehnjähriger zum ersten Mal aus Liebeskummer geweint. Das, was einen Mensch ausmacht, ist die Qualität seiner Erinnerungen und den daraus resultierenden Träumen und Hoffnungen. Und Johan meinte folgerichtig, wenn man einen Teil des Lebens, das an einen Ort oder an einen Gegenstand gebunden ist, verkauft oder weggibt, begeht man Verrat an sich selbst, an der eigenen Geschichte. Und damit auch Verrat an der Integrität der eigenen Zukunft, die untrennbar mit den Erinnerungen der besten und der schlechtesten Zeiten verbunden ist.

Und weil Johan bei seiner Mutter mehr als nur einen dicken Stein im Brett hatte, stand sie ihm bei dem Streit bei und als er seine letzte Waffe aufbot, seine Superidee, konnte sich sein Vater gegen die beiden nicht mehr durchsetzen und willigte Johans Plan ein.

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Johan wollte ins Haus der Großeltern ziehen und mithilfe der vielen Bekanntschaften in Winterset und Des Moines, Cedar Falls und in Old Hanley, eine Art Pension draus machen. Er würde mit dem Bürgermei- ster reden. Mit dem Sheriff. Und natürlich mit dem Pfarrer und den Ältesten in der Stadt. Er wusste, dass sie ihm zuhören würden, weil seine Idee gut war. Jedenfalls bedeutend besser, als das Haus an Leute von „Außerhalb“ zu verkaufen. Es würde in Familienbesitz bleiben.

Und damit auch irgendwie, auf verworrene Weise im Besitz der Stadt.

Der erste Schritt zur Ausführung seines Plans war eine Bestandsauf- nahme. Er war zwar seit dem Tod der Großeltern jedes Jahr zweimal hier gewesen, im Winter und im Sommer, aber diesmal wollte er mehr machen, als die Fenster zu vernageln und Wasserleitungen auf Frost- schäden zu untersuchen. Er hatte vor, 4 oder 5 Tage hier zu bleiben und das notwendigste zu reparieren. Im Herbst würde er wiederkom- men und die Umbauarbeiten beginnen. Da sein Großvater fleißig am Haus gebastelt hatte, würde es wohl wenig zu tun geben. Aber es war August und Johan, der seinen Fotoapparat und das Laptop dabei hatte, erwartete sich daneben auch Ruhe und Muße für einige Landschaftsbil- der und Zeilen voller konspirativen Humanismus.

Als der Bus 655 in Budd Lake (noch immer New Jersey) einrollte und sich Mark zum wiederholten Male fragte, was er eigentlich vorhatte, lenkte Johan den Ford, dessen Stoffdach er inzwischen geöffnet hatte, in Madison County in eine Ausweichbucht, machte den Motor aus und aß ein Käsesandwich. Er sah auf die überdachte Brücke, die einen kleinen Fluss überspannte, und bedankte sich leise bei Robert James Waller, der dem County mit seinem Roman: Die Brücken am Fluss Gerechtigkeit hatte angedeihen lassen. Und einen großen Gefallen getan hatte.

Es war still hier am Fluss. Johan stieg aus und fühlte sich, während er kaute, diesem Land aufs Tiefste verbunden. Er empfand Dankbarkeit dafür, dass er so tief empfinden konnte und dass, auf ganz merkwürdi- ge Art und Weise, das Land ihm dieses Gefühl zurückgab. Das Wasser plätscherte. Grillen zirpten. Die Sonne arbeitete sich durch den Dunst

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und es versprach, einen klaren Nachmittag zu geben. Im Westen nahm der Himmel eine dunkelblaue Färbung an. Genau die Farbe, die auch Mark Beaumont sah, als er aus dem Bus stieg und sich verloren fühlte.

Kapitel 3: Mark nimmt ein Bad

Ausgestattet mit dem karierten Hemd und der ausgebleichten Levis, erregte Mark nahezu gar keine Aufmerksamkeit. Er hatte im Bus noch ein wenig geschlafen, und fühlte sich jetzt zwar weniger durch den Wind als zum Beginn seiner Reise, dafür aber eindeutig desorientierter.

Das Leben von Budd Lake war um den See zentriert. Es gab eine Menge Fischrestaurants und Badebuchten, Ferienhäuser, rotbraun gestrichen mit weißen Dächern. Der kleine Hauptplatz am Hafen war der Inbegriff kleinamerikanischer Würde schlechthin. Schön arrangierte Blumenbeete, Mütter mit Kinderwagen, Männer mit Handys. Es wirkte alles beschäftigt. Aber nicht auf Großstädtisch, sondern gemächlicher und bewusster.

Mark setzte sich auf eine Holzbank mit Blick auf den spiegelglatten See, auf dem, so wie es aussah, hunderte Boote unterwegs waren, packte den Rucksack zwischen seine Beine und machte eine kleine Bestandsauf- nahme.

Ad 1) Wenn man eine Reise tut, muss man ein Ziel haben, oder? Und wenn Selbsterkenntnis selbst das Ziel ist, kann man getrost auf das geographische Ziel scheißen. Richtig?

Ad 2) Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt man hat die Mittel. Mark hatte gespart, auf seinem Konto befanden sich 5700 Dollar und er hatte 250 Dollar im Portemonnaie. Dazu zwei Kreditkar- ten, seinen Führerschein und die Versicherungskarte.

Ad 3) Es war Urlaub, ja? Keine Flucht. Es hatte sich angelassen wie eine Flucht vor New York und seinen Krallen (Rote Krallen einer durchgeknallten Lady, die sich in Rasierklingen verwandelten, als sie die Falten der Lederhose auf seinem Schoß nachzeichneten… Mark kriegte das Bild genauso wenig aus dem Kopf wie das Bild eines Geländers, auf

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