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Als Johan auf der Hauptstraße in Old Hanley einrollte, suchten seine Augen automatisch den Punkt zwischen der Tankstelle und der Garage der Autowerkstatt, von dem aus man einen kleinen Blick auf das Haus erhaschen konnte. Es war inzwischen 15:00 Uhr und Old Hanley umarmte ihn wie einen verlorenen Sohn. Jedes Mal, wenn er hierher zurückkehrte, kämpfte er mit den Tränen. Es war keine Trauer. Es war so, als würde das Haus, ja, die ganze Stadt mit unsichtbaren Metastasen nach ihm greifen und einen Punkt berühren, der nicht zivilisiert, sondern wild war. Dort, wo er hysterisch lachen und weinen konnte, die Zähne fletschen und wie ein Wolf den Mond anheulen. Etwas tief in ihm, das auf seine unkultivierte Weise höchst anziehend war und manchmal wie Goldsplitter in seinen Augen brannte. Er schluckte den Kloß im Hals runter und atmete tief durch. Dann fuhr er von der Hauptsraße ab und bog in die Millroad Lane ein, eine kleine geteerte Straße, die weiter nach rechts zur Stadt führte und von der eine noch kleinere Straße links rauf zum Haus abzweigte. Er winkte ein paar Leuten zu, die er seit seiner Kindheit kannte und die Leute winkten zurück. Der Himmel über ihm hatte dieses tiefe Blau, das den Wäldern und Wiesen eine so spektakuläre Intensität bescherte; das Licht, das er so liebte. Er bog bei der Abzweigung links ab und der Wagen wirbelte eine Staubfahne auf, als er vom geteerten Bankett auf die Kiesstraße rollte. Eine Minute später fuhr er auf den Kiesplatz vor dem Haus, umrundete den trockenen Steinbrunnen und brachte den Wagen im Schatten der zwei uralten Walnussbäume auf der linken Seite des Hauses zum Stehen. Er musste dazu etwas auf den Rasen fahren. Egal.

Der hatte seine beste Zeit schon lange hinter sich. Er atmete noch einmal tief ein und schwang sich dann aus dem Wagen.

Was ihm als erstes nach dem Licht auffiel, war die Stille. Dieser Balsam von süßer Stille. Nicht tote, lastende Ruhe, sondern eine nur von Naturgeräuschen durchbrochene Friedlichkeit. Links vom Haus

raschelte das riesige Kornfeld, das an den Wald hinter dem Haus grenzte. Johan streckte sich durch und gähnte. Die Fahrt hatte ihn angestrengt und der Rücken maulte knirschend vor sich hin. Er öffnete die hintere Autotür und angelte seine große Sporttasche mit den Reiseutensilien heraus. Er klemmte sich die Träger über die rechte Schulter und ging dann über die drei Stufen rauf zu der breiten Veranda. Rechts standen drei Korbsessel; die Polsterbezüge hatte er bei seinem letzten Besuch im vorigen Sommer ins Wohnzimmer gelegt.

Links auf der Veranda befanden sich der dazugehörige Tisch und ein Monster von Gartengrill. Über dem Verandageländer hingen leere Blumentöpfe. Er würde in der Gärtnerei von Winterset ein paar Gartenpflanzen kaufen und in die Töpfe einsetzen.

Johan öffnete das Fliegengitter, schüttelte den Schlüsselbund und sperrte die schwere Eichentür auf.

Das Haus verschluckte ihn mit Haut und Haaren. Und für Sekunden war er wieder ein Kind mit großen Augen. Johan genoss diesen Moment jedes Mal, wenn er das Haus besuchte. Er stand einfach da und saugte diese Poesie in sich auf. Fast könnte sein Großvater die Treppen runterkommen und rufen: „He Pilger. Verdammt weit weg von zu Hause, was?“

Gerüche aus der Küche, brutzelnde Steaks, leichter Wind, der die Gardinen bauscht, Sommerlachen …

All das war wie in einer Batterie gespeichert und konserviert. Das Lachen hatte nie wirklich aufgehört. Es hatte vorübergehend Pause.

Aber es war noch da, in allen Winkeln des Hauses. Mag sein, dass es ein Geisterhaus war. Aber dann wohl doch eines der heitersten Sorte.

Johan brachte die Sporttasche in sein Zimmer im oberen Stock und dann krempelte er die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Er durchwanderte das Haus und suchte zunächst mal nach Wasserschäden.

Durch Kälte geplatzte Wasserleitungen und dergleichen mehr. Dann sah er nach Sturmschäden an den Holzläden, den Verandatüren und den Fliegengittern. Aber alles schien soweit in Ordnung.

Zwischendurch gönnte er sich ein Glas kalter Limonade auf der hinteren Veranda. Dann saß er ein paar Minuten da und lauschte dem

Gesang des Waldes. Nach all den erbitterten Diskussionen um das Haus und die Tatsache, dass er damit auch einen Streit zwischen seinen Eltern verursacht hatte, war hier Frieden. Mag sein, dass das Leben das Haus verlassen hatte, nachdem seine Großeltern verstorben waren.

Körperlich, oder so. Aber das Haus selbst lebte, atmete Waldluft ein und Sonne aus.

Später ging er auf der schmalen, steilen Treppe vom Obergeschoß auf den ausgebauten Dachboden. Sein Großvater hatte über zwei Jahre an dem Ausbau gearbeitet und so wurde ein Teil des Dachstuhls abgetra-gen und in eine Art Studio mit senkrechten Scheiben umgebaut. Die Fenster gingen zur Rückseite des Hauses raus, waren wandhoch und boten einen wundervollen Blick auf den Waldrand. Wenn man sich knapp an die Scheibe stellte, konnte man direkt auf die rückwärtige Terrasse schauen. Das Zimmer wurde von einem ziemlich großen Schreibtisch dominiert, der aus Nussholz gefertigt war. Darauf befand sich ein alter 486er mit 16 MB Arbeitsspeicher und einer 300 MB Festplatte. Die Tastatur ruhte auf einer dunkelgrünen Schreibunterlage.

Rechts befand sich eine antike Schreibtischlampe, von der man in so ziemlich allen Versandhauskatalogen Nachbildungen bestellen konnte.

Schaute man über den alten 15 Zoll Monitor, sah man das Waldpan-orama. Dies war ein Ort der Besinnung, der Ruhe. Dies war ein Ort, der von seinem Großvater geprägt war und Johan hatte das Gefühl, dass er sich diese Schuhe noch nicht anziehen konnte. Die friedliche Energie dieses Raumes überforderte ihn sehr. Er ging leise wieder die Treppen runter und setzte sich auf die hintere Terrasse im zweiten Stock. Dort gab es nur zwei alte Korbsessel und einen kleinen runden Tisch. Er kippte den Sessel zurück und legte die Beine aufs Geländer.

Er nippte an seiner Limonade, rauchte eine Zigarette und genoss die Stille. Er wusste, er hatte nur eine einzige Chance. Er musste beweisen, dass es möglich war, das Haus gewinnbringend oder aber zumindest selbsterhaltend zu bewirtschaften. Und Johan war davon überzeugt, dass es zu schaffen war. Als es gegen 19:00 Uhr ging, dachte er daran, den Tag ausklingen zu lassen. Er hatte geschliffen, gehämmert, poliert und mit dem Wischmob getanzt. Genug für einen Tag. Er drehte das

Licht auf der hinteren Veranda ab und setzte sich in die dunkle Küche an den schweren Küchentisch. Hier hatte seine Großmutter Salat geputzt, Kartoffel geschält und das Fleisch hergerichtet. Er sah zum Fenster raus. Aber in der zunehmenden Dämmerung sah er nur bewegliche Schatten. Geister. Er drehte das kalte Glas Limonade zwischen den Händen und überlegte, was er zum Essen machen sollte.

Dann zuckte er mit den Schultern und beschloss, die Brötchen aufzues-sen, die er sich für die Fahrt gemacht hatte. Morgen konnte er noch immer ein paar Kleinigkeiten bei der Tankstelle kaufen.

Das Haus war still. Nicht tonlos. Einfach still. Johan kannte diese Art der Stille vor dem Abendfilm, wie es seine Mutter nannte, der Moment nach dem Geschirrspülen und vor den Abendnachrichten. Er kannte alle Geräusche, die um diese Tageszeit so vorkommen. Ein Geräusch jedoch ist nur sehr selten dabei. Das Knirschen von Schritten auf dem Kies des Parkplatzes vor dem Haus. Und genau das hörte er jetzt.

Im Dokument Peter Nathschläger. Mark singt Roman (Seite 49-52)