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Johan macht Ferien

Im Dokument Peter Nathschläger. Mark singt Roman (Seite 30-39)

Johan rollte mit dem 76er Ford seines Vaters über die Brücke und sah das stürmische Wasser brausen. Rod Stewart sang, dass er segelte und Johan schnupfte verärgert ein paar aufsteigende Tränen weg. Es ist nicht richtig zu weinen. Es ist nicht richtig, weil man ein Mann ist, weil man Auto fährt. Und schon gar nicht, weil einer im Radio singt, dass er durch stürmisches Gewitter fliegt. Außerdem sollte man am ersten Tag eines Kurzurlaubes seine wertvolle Zeit nicht mit Tränen wegschnup-fen vertrödeln, oder?

Aber es gab mehr als genug Gründe auf dieser Reise des 19jährigen Burschen, ein paar Tränen zu vergießen. So zum Beispiel dieser elende Verrat am Haus seiner Großeltern. Das war eigentlich der Hauptgrund und aus der Sicht seines Vaters waren Johans Gründe, sich gegen den Verkauf dieses Prachtstücks zu wehren, durch und durch egoistisch.

Dieses Haus zu verkaufen hieße, die Kindheit zu verraten. Die beste Zeit seines Lebens. Alles vor den Wirren des Erwachsenwerdens. Alles so sonderbar klar. Gerüche wie Apfelkuchen und heiße Kastanien; ein Haus, das sich um einen schloss wie eine heimelige Decke, Großvater und Großmutter Geruch.

Abgesehen davon hatte Johan einen Streit mit seinen Vater, bei dem es einige unschöne Worte gegeben hatte. Dinge, für die man sich ent-schuldigen kann, die jedoch nie wieder vergessen werden können.

Und schlussendlich hatte Johan eine Idee eingebracht, wie man aus dem Haus doch noch Gewinn schlagen könnte, ohne es verkaufen zu müssen. Mit relativ wenig Aufwand, alles in Handarbeit, sozusagen.

Immerhin hatte Johan als Tischler genügend Ahnung davon, wie man gewisse Umbauten bewerkstelligen kann. Johan arbeitete in einem kleinen Tischlereibetrieb in Cedar Falls, der sich auf Restauration antiker oder sehr alter Möbel und Gebäudeteile aus Holz spezialisiert hatte. Die Firma ging gut. Ein Achtmann Betrieb, der nur deshalb nicht größer wurde, weil der Chef, Harold Smith, keinerlei Interesse an einem

unüberschaubar großen Betrieb hatte. Dies hatte zur Folge, dass die acht Leute überdurchschnittlich verdienten und dafür auch sehr viel arbeiten mussten. Johans Spezialität waren Holzverkleidungen, Zierart und rustikale Möbel. Er freute sich schon regelrecht darauf, sein Werkzeug auszupacken und mit aufgerollten Ärmeln dem Haus seiner Großeltern zu Leibe zu rücken.

Fakt ist, dass das Haus ein Juwel ist. Dass es erstklassige Lage hat. Und dass die wohligsten Erinnerungen Johans an seine Kindheit die lebendigsten Geister dieses alten Herrenhauses waren, das vor 150 Jahren gebaut, ständig gewachsen war und nun von den grünen Hügeln von Old Hanley, etwa neun Kilometer südwestlich von Winterset, auf die Stadt hinabsah. Old Hanley war im Lauf der Zeit vom Dorf zur Kleinstadt aufgestiegen und erfreute sich vor allem bei Urlaubern aus der Umgebung regen Zuspruchs. Viele Familien aus Winterset, Des Moines und sogar Cedar Falls hatten in Old Hanley ihr Ferienhaus. Die saftigen Wälder und Hügel eigneten sich prächtig für ausgedehnte Spaziergänge; hier konnte man Nachts noch die Haustür unver-schlossen lassen und die größte Aufregung ist, wenn mal ein Tourist aus dem Ausland durchfährt. Die Leute beim Friseur können sich tatsächlich stundenlang darüber unterhalten, woher denn der bloß gekommen ist und wo der denn nun hin will. Einmal im Jahr ein etwas heftigerer Herbststurm oder der Bankraub 1998 in Winterset, Stoff genug, um an lauen Sommerabenden auf der Veranda zu sitzen, kühle Limonade zu trinken und Geschichten zu erzählen. Der Renner und ewige Gewinner beim Geschichten erzählen war wohl die Sache, als Clint Eastwood und Meryl Streep hier in Winterset antanzten und diesen Film machten. Die jungen Leute in Old Hanley waren entweder Einheimische; die waren aber in der Minderheit. Die meisten versuch-ten, sobald sie achtzehn wurden, nach Des Moines oder Iowa City zu gehen, um dort einen „Stadtjob“ zu bekommen. Manche schafften es;

die meisten, die Old Hanley verlassen hatten, schlugen sich mit Aushilfsjobs durchs Leben oder kehrten als Twens vom Leben geprügelt zurück, um beim elterlichen Betrieb mitzuhelfen. Der Großteil der örtlichen Jugend bestand aus blasierten, gelangweilten

Collegeboys und Girls, die abends mit Mofas herumknatterten, im Lake Finch badeten oder ihre Unschuld auf dem Rücksitz eines Cabrios am Ufer des Lake Finch an den Mann im Mond verschleuderten.

Als 1999 Johans Großeltern, also die Eltern seiner Mutter, starben, innerhalb einer Woche, stand das Haus zum ersten Mal in seiner Geschichte leer. Es waren keine habgierigen Erben aufgetaucht, die es vom Keller bis zum Dach nach Goldbarren, Aktien oder scheißge-wöhnlichem Geld durchsuchten. Niemand riss sich das antike Spinnrad unter den Nagel oder baute den wertvollen Kachelkamin aus. Das Haus stand leer und war voller Geister. Voller Gerüche. Und voller Erinne-rungen. Witzig war, dass nie besoffene Jugendliche oder raue Burschen aus der Umgebung hier rauf kamen, um Rabatz zu machen. Es wurden keine Scheiben eingeschlagen, keine Türen eingetreten. Im Sommer 2000, etwa eine Woche, nachdem Johan hier war, um nach dem rechten zu sehen, hatte sich ein zwölfjähriger Junge einer selbst verschriebenen Mutprobe unterzogen und war zum Haus hoch gepilgert. Nach Mitternacht. Die Eulen schrien, irgendwo heulte ein Hund, oder war es ein Wolf?

Der Junge wollte da rauf, um zu schauen, ob an der Geschichte mit dem Ritualmord in diesem Haus was dran war. Er hatte nicht den blaßesten Schimmer, was er zu finden hoffte, oder fürchtete, aber er ging die Teerstraße zum Haus entlang und schwitzte und fürchtete sich.

Er würde den anderen Morgen dann alles haarklein erzählen. Und dann würde er vielleicht keiner von „Außerhalb“ mehr sein, sondern einer von „ihnen“. Soweit der Plan. Die Straße führte in drei weitschweifigen Kurven zum Haus hoch. Dort stand es mit dem Rücken zum Wald, der, wenn man den Sagen der Alten glauben wollte, endlos war, wenn man ihn zu einer bestimmten Nachtzeit betrat. (Bei Neumond. Bitte welcher Idiot geht, wie besoffen auch immer, bei Neumond und vermutlich nach Mitternacht in den Wald?).

Früher war das Haus abends wie ein Leuchtturm vor den Wogen des stürmischen Waldes gewesen. Ein beruhigendes Licht. Ein heimatlicher Hafen, den man schon von weitem sah, wenn man auf der Straße von Winterset hierher fuhr. Jetzt waren alle Augen blind. Wenn man nun

von der Stadt rauf sah, dann sah man geometrische Schatten im wallenden, dunklen Chaos des Waldes. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Natürlich hatte es nie einen Ritualmord gegeben. Außer zahlreichen Truthähnen und Gänsen hatte dort nichts sein Leben gelassen und vermutlich war diese Legende geboren worden, um Scream 123 und Ich weiß was du letzten Sommer getan hast eine urbane Legende entgegenhalten zu können. Wahrscheinlicher ist, dass die Leute dieses Gerücht ausstreuten, um die Kinder vom Haus fern zu halten. Das Haus hatte an drei Seiten Terrassen. Alte, aus Holz gezimmerte und weiß gestri-chene Terrassen. Eine nach hinten raus zum Wald. Eine seitlich zur Stadt hin und eine vorne zum Kiesplatz, der um einen Steinbrunnen zentriert ist. Es hatte zwei Etagen und einen zum Arbeitszimmer ausgebauten Dachstuhl, in dem Johans Großvater bis kurz vor seinem Tod allgemein anerkannte und hochgelobte Bücher über die Geschichte des Countys verfasst hatte. Einige davon befanden sich in der städti-schen Bibliothek von Winterset, andere sogar in diversen Schulbiblio-theken. Raul Finnebergs Geschichtsbücher waren zum einen äußerst präzise und zum anderen voller humoriger Kalauer und Hörensagen, die er immer in Kursivschrift eingestreut hatte…

Der Junge erreichte das Haus und beschloss, gleich aufs Ganze zu gehen und sich in der oberen Etage umzusehen. Er benutzte die Efeuranken, die an Holzsprossen befestigt waren und damit den gleichen Weg, den der kleine Johan in den frühen Sommern verwendet hatte, wenn er sich mit Großvater heimlich hinter dem Schuppen auf eine Zigarette treffen wollte. Nur: Johan kannte die Tücken der Holzsprossen. Der Reisende in Sachen Mutprobe kannte sie nicht. Und so kam es wie es kommen musste: Fast oben angelangt und schon ein halber Blick durch das geschlossene Fenster in das geheimnisvolle Zimmer (Johans Kinderzimmer), da gab eine Sprosse nach, der Junge fuchtelte herum und stürzte aus drei Meter Höhe zu Boden. Er brach sich dabei die Hüfte und das rechte Handgelenk und heulte so laut, dass in der Stadt unten auf der dem Haus zugewandten Seite nach und nach die Lichter angingen. Der Junge heulte noch im Rettungswagen, der ihn

ins Spital nach Winterset brachte und berichtete von einem halbverwe-sten Jungen, der ihn mit einem dämonischen Grinsen gestoßen hätte.

Soviel zu der Entstehung von urbanen Legenden.

Das Haus von Johans Eltern befand sich in Cedar Falls, North Cedar.

Direkt am Fluss mit einer wunderschönen Aussicht. Seine Mutter hatte dieses Haus erworben, als er 7 Jahre alt war. Also ging er in Cedar Falls zur Schule und wuchs hier auf. Die Sommer verbrachten sie immer bei den Großeltern, Weihnachten sowieso.

Die Hügel im Nordosten Iowas bildeten die Kulisse für seine Jugend.

Er liebte Iowa auf bodenständige und wenig patriotische Weise. Er war überhaupt davon überzeugt, dass man kein Recht hatte, auf etwas stolz zu sein, das man nicht selbst verursacht, bewirkt oder erzeugt hatte. Als Siebzehnjähriger trieb er sich oft in Clayton herum und sah den Schleppkähnen zu. Obwohl er sich diese lyrische Seite nicht eingeste-hen wollte, waren es nicht die Schlepper, warum er immer wieder nach Clayton fuhr. Es war das Licht. Orte, deren Charakter sich erst bei einer bestimmten Art Licht erschloss, zogen ihn magisch an. Clayton. Eine wenig schöne Stadt. Aber das Licht nach einem Gewitter zum Beispiel, wenn sich die Sonne schräg durch die abziehenden Gewitterwolken schneidet und den Fluss glitzern lässt … das hatte schon was für sich.

Als Johan jetzt Richtung Südwesten fuhr, schaute er sich die Farben des Vormittags an, dachte über den Streit mit seinem Vater nach und umfuhr so gut es ging jede Bundesstraße, um sich auf Land- und Nebenstraßen gemächlich seinem Ziel zu nähern. Er rauchte wieder.

Das tat er nur, wenn seine Eltern weit weg waren, weil beide militante Nichtraucher waren. Johan war ein schlanker, mittelgroßer Bursche mit sehnigen Muskeln. Er hatte strohblondes Haar und dunkelblaue Augen.

Einige Male hatten Männer versucht, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Leute mit merkwürdigen Vorstellungen von Rassen, Bluttreue, Patriotismus und White Power im Großen und Ganzen. Nun, rein äußerlich schien er wie geschaffen für solches Gedankengut. Die Haare waren an den Schläfen und im Nacken ausrasiert, der Scheitel fiel ihm immer wieder ein wenig über das rechte Auge. Er hatte keine Piercings, trug keine

Skaterhosen oder überweite T-Shirts. Er war der Traum eines jeden Rassenfetischisten. Dazu kam, dass er auf unbeholfene Weise anzie-hend wirkte. Er war nicht schnell, so wie die anderen. Er bedachte seine Entscheidungen, war gar nicht impulsiv. Er war aber auch keineswegs berechnend. Seine Spontanität war gemächlicher Natur, aber eindeutig da. Das ließ ihn manchmal etwas schwerfällig wirken. Aber er hatte seine Prinzipien. Eines davon war, dass die Beurteilung von Menschen aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe und sexuellen Orientierung für Dummköpfe erschaffen worden sein muss, denn anders war es nicht denkbar. Irgendwer musste sich mal hingesetzt und sich den Kopf darüber zerbrochen haben, wie man es simplen Gemütern einfacher machen könnte, sich doch toll vorzukommen, wenn sonst kein Trick mehr hilft. Johan hatte zu oft in der Schule gesehen, wie Jungs oder Mädchen wegen für ihn unsichtbaren Kleinigkeiten ausgegrenzt, gedemütigt oder regelrecht terrorisiert wurden. Als Vierzehnjähriger hatte er Henry David Thoreaus Buch: Vom Leben in den Wäldern regelrecht verschlungen. Dann folgte: Von der Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, Vom Spazierengehen und andere Essays. Er las alle Bücher seines Großvaters und als Sechzehnjähriger war er in Schülerkreisen verrufen und berühmt für sein Wissen über Iowa.

Einmal hatten die Schüler der High School einen zierlichen Burschen für ihre dummen Späße entdeckt. Sie brandmarkten ihn als Schwulen und als das zu wenig skandalös war (Tatsächlich schien das zu vielen Schülern völlig egal zu sein), dichteten sie ihm noch Prostitution (Echt:

Du glaubst es nicht. Kim hat ihn am Bahnhof von Des Moines gesehen. Der lässt sich dort von alten Schwulen in den Hintern ficken. So wahr ich hier stehe und dir das erzähle. Aber… hey, mach keine Affäre draus) und Drogensucht an.

Erlebnisse dieser Art und die vorangegangene Lektüre bewirkten, dass Johan auf seine eigene Art und Weise menschenscheu wurde. Er hatte keine Angst vor Menschen. Nicht im Geringsten. Ihm schien mögli-cherweise nur der Aufwand, Leute kennenzulernen, unverhältnismäßig.

Er hatte drei Freunde, die er auch wirklich als Freunde sah. Und sie waren ebenso wie er, in der Schule eher Außenseiter. Dass sie nicht terrorisiert wurden, lag wohl daran, dass sich zum einen die Mädchen

für die Burschen, und hier besonders für Johan, interessierten. Ein Bollwerk weiblichen Charmes sozusagen, das sie vor übellaunigen männlichen Jugendlichen schützte, da die Rasselbande nicht bei den Mädchen punkten konnte, wenn sie sich an diesen Burschen hochzo-gen. Und zum anderen, dass man an ihnen nichts finden konnte, was man zum Aufhänger für Terror machen konnte. Sicher, man konnte, wenn man wollte, alles zum Aufhänger für jugendliche Gemeinheiten machen. Aber das war zu mühsam bei diesen Typen. Sie gaben nichts her. Sie waren gute Schüler, und Johan war darüber hinaus noch ein sehr guter Sportler mit einem ausgeprägten Sinn für Fairness. Da gab es dankbarere Ziele. Neue Schüler, von irgendwoher samt Eltern zugereist. Wehrlose unsichere Kids, die wie scheue Rehe durch die Schulgänge schlichen, den Kopf gesenkt und ängstlich roten Wangen.

Bei Johan hatten zwei Dummköpfe versucht, ihn wegen seines europäi-schen (tschechieuropäi-schen) Vornamens madig zu machen. Er könnte sich ja John nennen, oder Jonathan oder Joey. Aber Johan war stur. Und als die beiden merkten, dass sie bei Johan auf der Seife standen, widmeten sie sich der Tochter einer religiösen Spinnerin. Die graue Maus heulte wenigstens, wenn man sich über sie lustig machte.

Johan spielte seit seinem siebten Lebensjahr Baseball und sein Coach prophezeite ihm eine Zukunft als Berufssportler. Johan lächelte bei dem Gedanken, noch als Dreißigjähriger im Baseball Dress ins Stadion zu laufen. Er hatte andere Pläne. Er wollte schreiben. Vor einem Jahr hatten ihm seine Eltern zum Geburtstag einen Laptop geschenkt. Er wollte das Wesentliche von Thoreaus Philosophie mit den präzisen Beobachtungen und Geschichtsrecherchen seines Großvaters ver-schmelzen und damit eine zeitgemäße Adaption des Transzedentalis-mus schaffen. Ihm gefiel das Wort nicht. Es war wie ein Ungetüm, das sich im Mund zusammengerollt, dagegen wehrt, ausgesprochen zu werden.

Whitmans lyrische Betrachtungen zum demokratischen Mann; Ameri-ka, ein neues Geschlecht. Whitman hatte mit einigen Versen Johans Lebensgefühl präzise umschrieben; Whitmans Geschichtsbewusstsein und Poesie … dieses Lebensgefühl in Prosa zu verwandeln und mit

dem moralischen Anspruch Thoreaus zu binden, das schwebte ihm vor.

Und das war eigentlich auch das Sandkorn, um das sich der Streit zwischen ihm und seinem Vater entwickelt hatte. Es ging nicht nur um das Haus, über das sein Vater so lässig entscheiden wollte, obwohl es rechtens seiner Mutter gehörte. Sein Vater, ein Computerwissenschaft-ler mit einem ausgeprägten Hang zu Logistik und logischer Definition, hätte es gerne gesehen, wenn sein Sohn in seine Fußstapfen getreten wäre. Der Laptop hätte dem Jungen dazu dienen sollen, sich mit dem Betriebssystem und den Möglichkeiten moderner Kommunikation auseinanderzusetzen. Und was machte der Junge? Tippte wie ein Wilder seine krausen Ideen in die Festplatte. Darüber hinaus schien Johan, während er zweimal weggeschaut hatte, ein hohes Maß für Tradition und Familie entwickelt zu haben. Nicht auf Grundlage der verbiesterten Wert- und Moralvorstellungen der Kirche, sondern wieder auf regel-recht heidnische Art. Sein Vater meinte: Das Haus zu verkaufen wäre ein logische gute Sache, weil sie Geld brachte und Arbeit sparte. Johan meinte, das Haus zu verkaufen hieße, einen Teil der Familiengeschichte wegzugeben. Seine Kindheit zu verkaufen und nicht zuletzt auch die Erinnerungen an die schönen Zeiten, die seine Eltern da verbracht hatten. Johan war im Haus seiner Großeltern gezeugt worden, er hatte dort angeln gelernt und Spuren von Wildtieren zu lesen. Er hatte im Klo im ersten Stock zum ersten Mal gewichst und im Jugendzimmer als Vierzehnjähriger zum ersten Mal aus Liebeskummer geweint. Das, was einen Mensch ausmacht, ist die Qualität seiner Erinnerungen und den daraus resultierenden Träumen und Hoffnungen. Und Johan meinte folgerichtig, wenn man einen Teil des Lebens, das an einen Ort oder an einen Gegenstand gebunden ist, verkauft oder weggibt, begeht man Verrat an sich selbst, an der eigenen Geschichte. Und damit auch Verrat an der Integrität der eigenen Zukunft, die untrennbar mit den Erinnerungen der besten und der schlechtesten Zeiten verbunden ist.

Und weil Johan bei seiner Mutter mehr als nur einen dicken Stein im Brett hatte, stand sie ihm bei dem Streit bei und als er seine letzte Waffe aufbot, seine Superidee, konnte sich sein Vater gegen die beiden nicht mehr durchsetzen und willigte Johans Plan ein.

Johan wollte ins Haus der Großeltern ziehen und mithilfe der vielen Bekanntschaften in Winterset und Des Moines, Cedar Falls und in Old Hanley, eine Art Pension draus machen. Er würde mit dem Bürgermei-ster reden. Mit dem Sheriff. Und natürlich mit dem Pfarrer und den Ältesten in der Stadt. Er wusste, dass sie ihm zuhören würden, weil seine Idee gut war. Jedenfalls bedeutend besser, als das Haus an Leute von „Außerhalb“ zu verkaufen. Es würde in Familienbesitz bleiben.

Und damit auch irgendwie, auf verworrene Weise im Besitz der Stadt.

Der erste Schritt zur Ausführung seines Plans war eine Bestandsauf-nahme. Er war zwar seit dem Tod der Großeltern jedes Jahr zweimal hier gewesen, im Winter und im Sommer, aber diesmal wollte er mehr machen, als die Fenster zu vernageln und Wasserleitungen auf Frost-schäden zu untersuchen. Er hatte vor, 4 oder 5 Tage hier zu bleiben und das notwendigste zu reparieren. Im Herbst würde er wiederkom-men und die Umbauarbeiten beginnen. Da sein Großvater fleißig am Haus gebastelt hatte, würde es wohl wenig zu tun geben. Aber es war August und Johan, der seinen Fotoapparat und das Laptop dabei hatte, erwartete sich daneben auch Ruhe und Muße für einige Landschaftsbil-der und Zeilen voller konspirativen Humanismus.

Als der Bus 655 in Budd Lake (noch immer New Jersey) einrollte und

Als der Bus 655 in Budd Lake (noch immer New Jersey) einrollte und

Im Dokument Peter Nathschläger. Mark singt Roman (Seite 30-39)