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Archiv "Arzneimittel-Richtgrößen: Tücken der individuellen Haftung" (15.09.2000)

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ie Arzneimittelpolitik steckt in ei- ner Krise. Einerseits erheben sich immer mehr Stimmen, auch aus der Bundestagsfraktion der SPD, die die kollektive Budgethaftung der nie- dergelassenen Ärzte weder für sachlich sinnvoll noch für gerichtsfest halten, an- dererseits scheint Bundesgesundheits- ministerin Andrea Fischer entschlossen zu sein, an diesem Kurs der Sanktionie- rung festzuhalten, um angeblich noch vorhandene Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen. Dass solche allenfalls noch marginal vorhanden sind und durch Innovationen und das Schließen von Versorgungslücken um ein Vielfa- ches aufgezehrt werden, hat die Ärzte- schaft durch harte Daten belegt.

Es ist interessant, dass kürzlich der AOK-Bundesverband vorgeschlagen hat, zur Wahrung eines „guten Ge- sprächsklimas“ auf die Exekution der Arzneimittelregresse für das Jahr 1999 zu verzichten. Schließlich seien in nur acht Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) die Budgets um insgesamt 410 Millionen DM überschritten, in den übrigen 15 KVen seien sie um 900 Mil- lionen DM unterschritten worden.

Demgegenüber geht der BKK-Bundes- verband in einer Pressemitteilung vom 14. März von einer „Überschreitung der Budgets in Höhe von 250 Millionen DM“ aus. Diese Zahlen zeigen deutlich das Informationschaos, dem die Ärzte bei der Steuerung ihrer Arzneimittel- verordnungen ausgesetzt sind.

Daneben kann der Verdacht auf- kommen, dass gerade jetzt eine Ten- denz besteht, das Problem der Budget- haftung herunterzuspielen, da in allen KVen Verhandlungen mit den Kran- kenkassen über die Budgets für das Jahr 2000 anstehen. Außerdem hat die kollektive Haftung der Ärzte bei Über-

schreiten des Arznei- und Heilmittel- budgets ihre verfassungsrechtliche Feu- erprobe noch nicht bestanden.

Demgegenüber erscheinen Arznei- mittel-Richtgrößen als das größere Pro- blem mit einer ungeahnten Brisanz. Sie sind individuell eingreifend, konkret und rechtssicher, nachdem sie zwischen Krankenkassen und KVen vereinbart sind und dem Arzt auch die Möglich- keit gegeben ist, seine Verordnungen durch den Nachweis von Praxisbeson- derheiten zu rechtfertigen. In der Ver- einbarung zwischen den Spitzenverbän- den der gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesverei- nigung über die Bildung von Richt- größen wurden diese Praxisbesonder- heiten konkretisiert.

Praxisbesonderheiten – Ein Kompromiss

Bei den Wirkstoffen, die in die so ge- nannte Anlage 2 aufgenommen wur- den, geht man davon aus, dass sie nicht außerhalb der angegebenen Indikation und nicht in einer Menge verordnet werden, die Notwendigkeit und Wirt- schaftlichkeit übersteigt. Ihr Einsatz er- folgt gezielt bei in der Regel scharf um- rissener Diagnose von Krankheitsbil- dern, die eine Behandlung mit diesen Wirkstoffen erfordern. Die Verordnung ist daher per se als Praxisbesonderheit anzusehen und von einer Richtgrößen- prüfung ausgenommen.

Diese Wirkstoffliste wird jährlich ak- tualisiert und in die Pharmazentralnum- mern der jeweiligen Arzneizubereitun- gen übersetzt. Daher kann der Prü- fungsausschuss diese Praxisbesonder- heiten per EDV erfassen und aus dem Verordnungsspektrum des einzelnen

Arztes herausrechnen. Mithin dient die Anlage 2 dazu, Praxisbesonderheiten automatisch bei allen Ärzten erfassen und die Arbeit der Prüfungsausschüsse erleichtern zu können. Ihre generelle Anwendung auf alle Verordnungen in- nerhalb einer KV soll verhindern, dass Patienten nur zur Verordnung solch teu- rer gelisteter Präparate in Spezialpra- xen oder Krankenhausambulanzen überwiesen werden, um das eigene Richtgrößenbudget zu entlasten.

Man kann davon ausgehen, dass zum Beispiel die zytostatische oder antihor- monelle Behandlung von Tumorpatien- ten, die Gabe von Plasmafaktoren bei Gerinnungsstörungen oder die virosta- tische Therapie von HIV-Patienten ein- deutig als Praxisbesonderheiten defi- niert sind. Das Gleiche gilt für die nach fachärztlicher Einstellung vielfach im hausärztlichen Bereich weitergeführte und kontrollierte Behandlung der Epi- lepsie. Allerdings fehlt bei den in die Anlage 2 aufgenommenen Antiepilep- tika Carbamazepin, eine der am häufig- sten eingesetzten Substanzen, da dieser Wirkstoff auch bei zahlreichen anderen Indikationen wie Polyneuropathien, Neuralgien oder Alkoholentzug einge- setzt wird; das heißt nicht, dass diese Behandlungen nicht notwendig seien, sie sind aber „prüfungstechnisch“ nicht von der Praxisbesonderheit Epilepsie gedeckt.

Die Aufnahme eines Wirkstoffs in die Anlage 2 sagt nichts über seine thera- peutische Qualität aus. Die Ärzte sollten sich also allen Bestrebungen der Phar- maindustrie widersetzen, die Anlage 2 zu Marketingzwecken zu missbrauchen.

Diese Tendenz hat dazu geführt, be- stimmte Substanzen nicht zu listen.

Es stellt sich die Frage, ob nicht weitere Wirkstoffe in die Anlage 2 aufgenommen werden müssten, etwa Erythropoietin, Interferone oder Wachstumshormon, um nur einige zu nennen. Die Zusammenstellung ist je- doch das Ergebnis langwieriger Ver- handlungen, eines Kompromisses zwi- schen Ärzten und Krankenkassen. Der Einsatz vieler nicht gelisteter wichtiger Wirkstoffe hat in den letzten Jahren ei- ne erhebliche Indikationsausweitung erfahren, die nicht von vornherein als überfüssig oder falsch bezeichnet wer- den kann, jedoch zu ihrer Präzisierung P O L I T I K

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A2352 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 37½½½½15. September 2000

Arzneimittel-Richtgrößen

Tücken der

individuellen Haftung

Auch der Versuch, die Arzneimittelausgaben über

Richtgrößen zu steuern, birgt Ungerechtigkeiten.

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als Praxisbesonderheit anderer Regu- lierungsmechanismen bedarf.

In der Anlage 3 sollen die therapeuti- schen Indikationen erfasst werden, die über das durchschnittliche Praxisge- schehen hinausgehen und das Richt- größenbudget eines Arztes erheblich belasten. Sie können jedoch nicht auto- matisch per EDV einer Wirtschaftlich- keitsbetrachtung entzogen werden. Für die genannten Beispiele werden die entsprechenden Indikationen umfas- sender als durch die Anlage 2 erfasst, die sich nur auf den einzelnen Wirkstoff bezieht. Es empfiehlt sich, die Versor- gung von Patienten, die un-

ter die Praxisbesonderhei- ten der Anlage 3 fallen, sorgfältig zu dokumentieren und dies bei der Quartalsab- rechnung zu vermerken. Ei- ne tatsächliche Auseinan- dersetzung mit dem Prü- fungsausschuss über diese Praxisbesonderheiten wird jedoch erst im Falle einer Richtgrößenüberschreitung von mehr als 15 Prozent er- forderlich sein.

Die Anlage 3 ist auf Bun- desebene nicht abschlie- ßend formuliert. Daher können bei Richtgrößen- vereinbarungen der KVen

mit den Kassen weitere Indikationen aufgenommen werden, zum Beispiel die Behandlung der Schizophrenie mit atypischen Neuroleptika, die moderne Glaukomtherapie oder die umfassende medikamentöse Behandlung der Dia- betiker und ihrer Begleitsymptome bei Abschluss von Strukturverträgen.

Die besondere Brisanz der Richt- größenprüfungen liegt vor allem an vier Faktoren

❃Stringenz der gesetzlichen Kriteri- en zur Richtgrößenprüfung nach § 106 Abs. 5 a SGB V: Prüfung der Verord- nungen bei einer Überschreitung der Richtgrößen von fünf Prozent, Regress bei einer Überschreitung von mehr als 15 Prozent

❃Orientierung der Richtgrößen am Verordnungsdurchschnitt einer Fach- gruppe

❃ späte und unpräzise Datenliefe- rung durch die gesetzlichen Kranken- kassen

❃ den KVen gerichtlich verwehrte qualitative Steuerung der Arzneimit- teltherapie durch Arzneimttel-Richtli- nien oder wertende Aussagen und Hin- weise auf Behandlungsprioritäten.

Nimmt man eine normal verteilte Streubreite der Arzneimittelausgaben innerhalb einer Fachgruppe an, so wird rein statistisch gesehen ein Drittel aller Ärzte regresspflichtig (Praxisbesonder- heiten ausgenommen), das heißt, sie überschreiten ihre Richtgrößen um mehr als 15 Prozent. Dies konnte in ein- zelnen Kassenärztlichen Vereinigungen rechnerisch belegt werden. Sind die

Richtgrößen entsprechend den Forde- rungen der Krankenkassen unterhalb des Verordnungsdurchschnitts einer Fachgruppe angesiedelt, werden es ent- sprechend mehr Ärzte sein, die in den Prüfprozess einzuschleusen sind.

Am Durchschnitt einer Fachgruppe orientierte Richtgrößen fassen alle Be- handlungsoptionen zusammen, von eher kostengünstigen naturheilkundli- chen, homöopathischen, symptomati- schen Behandlungsverfahren bis zur evidenzbasierten, in der Regel teure- ren, schulmedizinischen Therapie, ins- besondere bei schweren chronischen Erkrankungen. Entsprechend der the- rapeutischen Ausrichtung einer Arzt- praxis verteilen sich auch die Patienten, das heißt, nicht „statistisch normal“.

Das bedeutet, dass Ärzte der erstge- nannten Richtung eine Durchschnitts- richtgröße kaum je erreichen werden, während letztere diese Richtgröße re- gelmäßig überschreiten. Sie sind damit

einem ständigen Rechtfertigungszwang ihrer Therapie vor einem Prüfungsaus- schuss ausgesetzt, was letztlich zur Ver- ordnungsverweigerung und zu rapiden Qualitätsverlusten in der ambulanten Arznei- und Heilmitteltherapie führen kann.

Die Arzneimittel-Richtgrößen sind also nicht in der Lage, Behandlungsqua- lität zu sichern. Für die Definition von qualitativ strukturierten Richtgrößen, die die KBV schon vor einigen Jahren vorgeschlagen hat, konnten die Kran- kenkassen bislang nicht die erforderli- che Datengrundlage schaffen. So wird es darauf ankommen, wie die gemeinsamen Prüfungs- ausschüsse im Rahmen lo- kaler Prüfvereinbarungen mit diesem Richtgrößen- problem umgehen. Dabei werden jedoch gerade die behandlungsstarken Praxen – unabhängig vom Vorhan- densein so genannter be- handlungsfreier „Verdün- nerfälle“ (horribile est dic- tu) – Gefahr laufen, bei der qualitativen Aufarbeitung ihresVerordnungsspektrums in eine Unwirtschaftlich- keitsfalle zu geraten: Lassen sich doch am grünen Tisch immer Rationalisierungsre- serven aufstöbern bei Me-too-Verord- nungen, Originalpräparaten oder im

„umstrittenen“ Arzneimittelsegment – Verschreibungen, die bei Praxen mit ge- ringen Verordnungsumsätzen (unter- halb der Richtgrößen) untergehen. Ge- rade solche Verordnungen werden aber bei Richtgrößenprüfungen im Raster der Prüfungsausschüsse als Unwirt- schaftlichkeiten hängen bleiben. Hinzu kommt, dass es den KVen aufgrund von Klagen der Pharmaindustrie gerade bei Me-too- und „umstrittenen“ Präparaten untersagt ist, die Ärzte darüber zu infor- mieren, was im Einzelnen gemeint ist.

Selbst die wissenschaftlich fundierten Therapiehinweise des Bundesausschus- ses der Ärzte und Krankenkassen wer- den zurzeit von der Industrie gerichtlich blockiert.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Wolfgang J. Brech Kassenärztliche Bundesvereinigung Herbert-Lewin-Straße 3, 50931 Köln P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 37½½½½15. September 2000 AA2353

Grafik

Qualitative Steuerung der Arzneimitteltherapie durch Richtgrößen

Regresslinie

Mittelwert- Richtgröße

Evidenzbasierte „schulmedizinische“ Therapie nach harten Wirksamkeitskriterien – „teuer“ – Symptomatische, „naturheilkundliche“, psychosomatische Behandlungsstrategien – „billig“ – Arzneimittelausgaben

„naturheil- „schul- kundliche“ medizinische“

Referenzen

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