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Archiv "Mehr Marktwirtschaft ist kein Patentrezept" (01.08.1986)

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Academic year: 2022

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Aktuelle Politik

Die gesundheitspolitische Diskus- sion ist von Modetrends und ideo- logischen Wellenbewegungen be- herrscht. Wurden vor noch nicht allzu langer Zeit in der soziallibera- len Ära eine zentrale Budgetsteue- rung von oben und eine politische Orientierung eines quoten- orientierten Leistungsangebots der gesetzlichen Krankenversicherung propagiert, so glauben nun ge- sundheitsökonomische Strategen nach der Bonner Wende, in mehr marktwirtschaftlicher Steuerung

den Schlüssel zur Kostendämpfung und Selbstregulation gefunden zu haben. Aber, wie immer bei der Ge- sellschaftsgestaltung und bei so- zial- und gesundheitspolitischen Strategien: Reformmaßnahmen können nicht von heute auf morgen realisiert werden. Die „heile Ko- stendämpfungswelt" läßt sich auch nicht mit einer ideologischen Kehrt- wendung und einer radikal-ökono- mischen Sicht der Dinge wieder herstellen. Vielmehr muß auf das gegliederte gewachsene Gesund-

heitssystem Rücksicht genommen werden. Konzepte am Reißbrett gibt es zuhauf, sie haben allenfalls heuristischen Wert. In der Reform- politik sind Maßnahmen der kleinen Schritte und Selbstgänger — ord- nungspolitisch klar aufeinander ausgerichtet — eher praktikabel und eher politisch konsensfähig.

Zudem haben sie den Vorteil, Be- währtes weiterzuentwickeln und nicht ohne Grund in ein Niemands- land (Stichwort: Öffnungs- und Ex- perimentierklauseln) zu streben.

D

er Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt- wirtschaftlichen Entwick- lung („Fünf Weise") hat ein gan- zes Arsenal probater marktwirt- schaftlicher Regulative empfoh- len: Übergang vom tradierten Sachleistungsverfahren zu ei- nem sozial austarierten Kosten- erstattungsprinzip, Direktbeteili- gungen, Wahlleistungsangebote und freier Zugang zu den Kas- senarten. Auch sollen Kontrahie- rungszwänge gelockert und ganz beseitigt werden und ein neuartiger Wettbewerb unter den Leistungs-„Anbietern" (Lei- stungsträgern) entfacht werden

— alles zum Wohl der Patienten, Beitragszahler und der auf Spar- samkeit und Kostendämpfung erpichten Politiker.

Dieser Schachzug kann aller- dings nur dann funktionieren, wenn die tragenden und auch im politischen Raum zäh verteidig- ten Prinzipien der gesetzlichen

Krankenversicherung außer Kraft gesetzt und an deren Stelle eine reprivatisierende privatver- sicherungsähnliche Kalkulation der Beiträge und Risiken in der Krankenversicherung erfolgen würde. Sozialstaatsprinzip, Soli-

Mehr Markt- wirtschaft ist kein

Patentrezept

Das Gesundheitswesen muß mit viel Augenmaß reformiert werden

daritätsprinzip, horizontaler und vertikaler Risiko- und Famili- enausgleich, lebenslange La- stenumverteilung und Umlagefi- nanzierung müßten neu über- dacht werden. Auch die konstitu- tiven Elemente der gesetzlichen Krankenversicherung, nämlich der intergenerative und soziale Ausgleich, würden bei einer Um- krempelung des Systems und ei- ner konsequenten Umschaltung auf mehr Wettbewerb ohne Grund beseitigt werden. Eine ausgewogenere Lastenvertei- lung in der Krankenversicherung

der Rentner (KVdR) und eine Di- rektbeteiligung der Erwerbs- inaktiven mit höheren Kollektiv- beiträgen, ebenfalls vom Sach- verständigenrat vorgeschlagen, würden bedeuten: Der interge- nerative Risikoausgleich zwi- schen Erwerbstätigen und Rent- nern in der gesetzlichen Kran- kenversicherung würde allmäh- lich aufgehoben werden, eine Abkoppelung der Rentnerkran- kenversicherung von der Versi- cherung der Erwerbsaktiven würde begünstigt. Auch der Aus- schluß oder die Verringerung der beitragsfreien Mitversiche- rung von Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenver- sicherung und/oder die Kalkula- tion nach versicherungswirt- schaftlichen Grundsätzen be- deuten nichts anderes als einen Versicherungsausschluß oder die Verlagerung von sozialen Transferleistungen auf andere Haushalte (gegebenenfalls den Staat). Gesamtwirtschaftlich und transferpolitisch würde per sal- do aber nichts gewonnen — je- denfalls nicht im Sinne der Ko- stendämpfungsstrategie.

Eine erhöhte Direktbeteiligung der Versicherten an den Krank- Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 31/32 vom 1. August 1986 (17) 2137

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Gesundheitswesen

heitskosten würde in erster Linie die Arbeitgeber und damit deren lohnbezogenen Abgaben entla- sten. Dies mag ein hehres kon- junktur- und wirtschaftspoliti- sches Ziel sein, ist aber vertei- lungspolitisch nichts mehr als bloße Augenwischerei, denn sämtliche lohnbezogenen Abga- ben sind dem Produktionsfaktor Arbeit zuzurechnen. Zudem darf eine Direktbeteiligung nicht zu einer zusätzlichen Mittelbe- schaffung neben den kollektiv fi- nanzierten Versicherungsbeiträ- gen und damit zu einem zweiten Finanzierungsweg führen. Wer kann schon in jedem Einzelfall garantieren, daß die Versiche- rungsbeiträge bei Nichtinan- spruchnahme entsprechend ent- lastet werden?

Die wünschenswerte Beitrags- entlastung ist finanztechnisch wegen des Risikoausgleichs zwi- schen Rentnern und Aktiv-Versi- cherten im Sachleistungssystem nicht lösbar, weil dadurch der Rentnerkrankenversicherung Fi- nanzmittel durch Beitragssatz- senkungen bei den Primär-Versi- cherten entzogen würden. Im Ri- sikofall führt das Kostenerstat- tungssystem ebenso wie die Di- rektbeteiligung zu einer fühlba- ren Belastung der Risikopatien- ten und damit zu einer nicht wünschenswerten Entsolidari- sierung der gesetzlichen Kran- kenversicherung. Hinzu kommt die Tatsache, daß heute kaum Unterschiede in der schichten- spezifischen Inanspruchnahme der Kassenleistungen festge- stellt werden können.

Der Preis- und Leistungswettbe- werb unter den Krankenkassen um die Gunst der Versicherten kann nur dann Steuerungs- und Regulationseffekte haben, wenn es den Kassen freigestellt würde, Art und Umfang der kassenärzt-

lichen Versicherungsleistungen autonom festzulegen. Zudem müßte gewährleistet sein, daß der Wettbewerb nicht — wie bisher oftmals — zu einem die Kosten anheizenden Ausspielen einer

Kassenart gegen die andere führt.Bei einer Auffächerung der Beitrags- wie Leistungsseite der Krankenkassen — etwa durch Ex- perimentierklauseln, der viel- beschworenen Losung für die Strukturreform — müßte man in Kauf nehmen, daß die Versicher- ten künftig keinen einheitlichen gesetzlich garantierten und überschaubaren Leistungsan- spruch mehr hätten. Vielmehr würden die Kassen gezwungen, auf eine risikoorientierte Bei- tragskalkulation umzuschalten.

Je nach dem individuellen Krankheitsschutz wären die Dek- kungslücken im Krankheitsfall gravierend (oder müßten durch private Zusatzversicherungen abgefangen werden). Die Folge, der Ausfallbürge Staat/Sozialhil- fe müßte dennoch einspringen.

Die Stabilisierungsrolle der KVen

Gesundheitsökonomen neolibe- raler Prägung sehen in den Kas- senärztlichen Vereinigungen als Körperschaften öffentlichen Rechts, aber auch in den Kran- kenkassen „Zwangskartelle"

und eine Vermachtung der Ge- sundheitsmärkte zu Oligopolen.

Zudem werden die Kassenärzt- lichen Vereinigungen wegen ih- res Sicherstellungsauftrages („Monopol") und ihrer Funktion als genossenschaftliche Selbst- verwaltung als Fremdkörper in einem wettbewerblichen Ge- sundheitswesen empfunden. Zu- gegeben: Allein vom quantitati- ven Aspekt (Stichwort: „Ärz- teschwemme") her wäre es nicht erforderlich, das Ärzteangebot über einen Sicherstellungsauf- trag und KVen zu „monopolisie- ren". Die flächendeckende Ver- sorgung, ja Überversorgung ist heute Faktum. Dennoch: Die Körperschaften öffentlichen Rechts sind zwar „mittelbare Staatsgewalt", sie sind ein kon- stitutives Ordnungselement in der Gestaltung der Gesundheits- sicherung, haben berufsrecht-

liche Aufsichtsfunktionen und können in Selbstverwaltung und Selbstverantwortung Dinge vor Ort und in Partnerschaft vertrag- lich und selbstgestaltend lösen.

Sie verhindern einen ruinösen Wettbewerb und einen damit verbundenen Qualitätsverlust.

Individuelle Prägungen der be- rufstätigen Ärzte müssen dahin- ter zurückstehen.

Vorschläge, den Preiswettbe- werb und die Vertragsgestaltung zwischen den einzelnen Ärzten und Arztgruppen sowie einzel- nen Krankenkassen und Vereini- gungen dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen, ja die Kran- kenkassen sich als freie Versi- cherungseinrichtungen gerieren zu lassen, sind auch kein idealer Lösungsweg. Auch wäre dies nicht marktkonform, weil damit der Anbietervielfalt von genos- senschaftlich kooperierenden Kassenärzten ein Nachfrageoli- gopol durch Krankenkassenver- bände entgegengesetzt würde.

Dies bedeutet ein Rückfall in Zei- ten vor 1931, als sich Ärzte nicht dem Wettbewerb, sondern viel- mehr dem „Preisdiktat der Kran- kenkassen" — mit allen negativen Konsequenzen — ausgesetzt sa- hen. Auch die Marktwirtschaft- ler-Forderung, die bestehende Arbeitsteilung zwischen ambu- lantem und stationärem Bereich aufzuheben und in eine Art Ge- samtsicherstellungsauftrag (HMO ä la USA) überzuführen, ist auf dem Hintergrund der deutschen Sozialversicherung schwer zu realisieren. Sowohl der ambu- lante als auch der stationäre Sektor decken unterschiedliche Behandlungsbedürfnisse ver- schiedener Patientenkollektive ab. Jedes Leistungsangebot muß sich auf die spezifischen Bedürfnisse in diesem Bereich ausrichten. Das Prinzip der Ar- beitsteilung und Gliederung ist in anderen marktwirtschaftlich organisierten Sektoren Instru- ment zur Effizienz- und Effektivi- tätssteigerung, von der alle pro- fitieren.

Gerhard Brenner/Harald Clade

2138 (18) Heft 31/32 vom 1. August 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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