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Archiv "Krankenversicherung: Kein Patentrezept in Sicht" (16.09.2005)

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ürgerversicherung oder Kopfpau- schale, Finanzierung der Steuerzu- schüsse über Mehrwert- oder Ein- kommensteuern? Mit diesen und ande- ren Begriffen jonglieren die Politiker im Wahlkampf. Gerne wird dabei auf die schweizerischen Erfahrungen Bezug genommen. Doch lässt sich davon für Deutschland überhaupt etwas lernen?

Die letzte große Reform der schwei- zerischen Krankenversicherung wurde am 1. Januar 1996 in Kraft gesetzt.

Das neue Krankenversicherungsgesetz (KVG) führte die Bürgerversicherung auf der Basis von Kopfpauschalen ein.

Kopfpauschalen gab es schon früher, al- lerdings nicht gekoppelt mit Steuerzu- schüssen für Personen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen. Die Regel war vorher eine Gießkannensubventi- on an den Krankenversicherer pro ver- sicherter Person.

Seit der Einführung des KVG sind die Prämien für die Grundversicherung jährlich stärker gestiegen als die Löhne und Preise. Die Prämienerhöhungen sind aber nicht miteinander vergleich- bar, weil teilweise weitere Erhöhungen der Selbstzahlungsanteile vorgenom- men wurden. Defizite der öffentlichen Haushalte führten dazu, dass auch bei den Prämienzuschüssen gespart wurde.

Effekte der Kopfpauschale

Was in Deutschland oft vergessen wird:

Mit der Kopfpauschale wird in der Schweiz ein geringerer Leistungskata- log abgedeckt als in Deutschland. Das Krankengeld beispielsweise ist darin nicht abgedeckt. Heilungskosten und Lohnfortzahlungen nach Unfällen bei Arbeitnehmern, die mindestens acht Stunden pro Woche bei einem Arbeit- geber beschäftigt sind, werden über Ar- beitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge

in einer separaten obligatorischen Un- fallversicherung finanziert.

Die obligatorische Unfallversiche- rung wird auf Leistungserbringer-Seite eher besser beurteilt als die Kranken- versicherung, weil sowohl die Unfall- versicherer als auch Unternehmen eher bereit sind, qualitativ hoch stehende Behandlungen gut zu bezahlen, weil Lohnfortzahlung durch besseren Hei- lungsverlauf eingespart werden kann.

Der Krankenversicherer muss dagegen für die Lohnfort-

zahlung nicht auf- kommen.

Der viel behaup- tete Entlastungsef- fekt von Kopfpau- schalen für die Wirt- schaft ist in der Schweiz nicht nach-

weisbar. Die schweizerische Volkswirt- schaft liegt seit der Einführung des KVG fast jedes Jahr mit ihrem Wirt- schaftswachstum unter dem EU- Durchschnitt. Und die gerne angeführ- te niedrigere Arbeitslosigkeit in der Schweiz wird weitgehend zur Fiktion, wenn berücksichtigt wird, dass die Schweiz über Jahre ihre Arbeitslosig- keit durch entsprechende Kontingen- tierungen der ausländischen Arbeits- kräfte exportiert hat.

Doch auch das Gegenmodell, die Fi- nanzierung der Krankenversicherung über Arbeitgeber- und Arbeitnehmer- beiträge, findet bei der Bevölkerung keine Gnade. Am selben Tag, an dem der Souverän dem neuen Krankenver- sicherungsgesetz zustimmte, verwarf er eine Volksinitiative der Sozialdemokra- tischen Partei und des Gewerkschafts- bundes für eine Finanzierung der Kran- kenversicherung nach diesem Prinzip.

Und kürzlich wurde eine weitere Volks- initiative abgelehnt, die eine Berück- sichtigung von Reineinkommen und

-vermögen bei der Prämienbemessung verlangte. Die Gegner der Vorlage ar- gumentierten vor allem mit der be- fürchteten höheren Belastung des Fak- tors Arbeit und der besonders hohen Mobilität einkommensstarker und ver- mögender Personen.

Einige Kommentatoren haben diese Abstimmungen dahin gehend interpre- tiert, dass der Souverän beim bestehen- den System bleiben wolle. Analysiert man jedoch jährlich stattfindende Be- fragungen zum Gesundheitswesen, so fällt auf, dass eine zunehmende Anzahl an Menschen – inzwischen über die Hälfte der Befragten – bekundet, gele- gentlich oder dauerhaft Mühe mit der Bezahlung der Krankenversicherungs- prämie zu haben. Die Anzahl der Bei- treibungen durch die Krankenversiche- rer steigt ebenfalls..

Analysiert man die Meinung von Ex- perten, so käme wahrscheinlich nie- mand auf die Idee, die heutige Finanzie- rung des schweizeri- schen Gesundheits- wesens als vorbild- haft zu bezeichnen:

zu viele verschiedene Sozialversicherungs- zweige mit unter- schiedlichen Finanzierungsarten, aber auch unterschiedlichen Finanzierungs- anreizen für Leistungserbringer, durch Subventionen verzerrte Effekte bei der Finanzierung von ambulanten und sta- tionären Leistungen sind einige Kri- tikpunkte. Bis heute gibt es nur eine Be- gründung, warum beispielsweise ein Spital für einen Unfallverletzten nach Unfallversicherungsgesetz für die ge- nau gleiche Leistung den besseren Tarif verrechnen kann als für den gleichen krankheitsbedingten Eingriff: „Das ist historisch gewachsen.“ Dieses Bonmot ist neben dem Ausspruch „Das ist von Kanton zu Kanton verschieden“ wohl eine der am häufigsten gehörten Cha- rakterisierungen des schweizerischen Gesundheitswesens. Es ist deshalb auch nicht weiter erstaunlich, dass die ehe- malige schweizerische Gesundheitsmi- nisterin Ruth Dreifuss sich so zur Fi- nanzierung der Krankenversicherung geäußert hat: „Das System ist kein Ex- portschlager. Da verkaufen wir lieber

Schokolade.“

P O L I T I K

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A2438 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 37⏐⏐16. September 2005

Krankenversicherung

Kein Patentrezept in Sicht

Kopfpauschale oder Bürgerversicherung? Die Hauptprobleme lassen sich so nicht lösen. Das zeigt sich in der Schweiz.

„Das schweizerische Gesundheitssystem ist kein Exportschlager. Da verkaufen

wir lieber Schokolade.“

Ruth Dreifuss, ehemalige schweizerische Gesundheitsministerin

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Das Schweizer Modell droht aber noch an Kompliziertheit übertroffen zu werden, wenn der Wortlaut des CDU- Wahlprogramms Wirklichkeit werden würde. Versprochen wird, dass niemand bei der Einführung einer Gesundheits- prämie mehr bezahlt als vorher. Die Gesundheitsprämie wird dann auch noch gespeist aus der Arbeitgeberprä- mie, dieser Anteil wird aber festge- schrieben. Kinder werden beitragsfrei versichert, diese sollen aus Steuermit- teln finanziert werden. Ein solches Sy- stem würde somit dem schweizerischen Mischsystem in nichts nachstehen, Deutschland würde es sogar noch schaffen, ein so kompliziertes System in einer Sozialversicherung aufzubauen, die Schweizer brauchen dazu mehrere Sozialversicherungszweige.

Nach Ansicht der gesundheitspoliti- schen Sprecherin der CDU/CSU-Bun- destagsfraktion ist bei der vorgesehe- nen Kopfpauschale ein Finanzausgleich zwischen den Kassen über einen Risi- kostrukturausgleich überflüssig. Die Abschaffung des Risikostrukturaus- gleichs dürfte für die Versorgung der Patientinnen und Patienten aber nega- tive Auswirkungen zeitigen. Gefördert wird dadurch nämlich die Risikoselekti- on, das Aufkommen von Billigkassen, aber nicht die möglichst effektive Ver- sorgung für jene Patienten, die diese am nötigsten haben. Dass auch die FDP diese Position mitträgt, ist unverständ- lich, bildet doch ein morbiditätsorien- tierter Risikostrukturausgleich in ei- nem System mit mehr oder weniger fest vorgeschriebenen Einheitsprämien nicht nur, aber auch bei der Kopf- pauschale – die zwingende Vorausset- zung für einen Wettbewerb unter den Kassen. Das ist übrigens der Punkt, in dem sich alle ernst zu nehmenden Gesundheitsökonomen in der Schweiz einig sind.

Das Beispiel des Risikostrukturaus- gleichs dokumentiert, was vom Präsi- denten der Bundesärztekammer, Prof.

Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, themati- siert worden ist: In allen Programmen fehlen verbindliche Aussagen zur dau- erhaften Sicherung der Patientenver- sorgung. Wie die großen medizinischen Herausforderungen der nächsten Jahr- zehnte angegangen werden sollen, wird kaum erläutert. Wenn beispielsweise

Bündnis 90/Die Grünen über eine Bür- gerversicherung die bestmögliche me- dizinische Versorgung gewähren wollen, dann ist das Irreführung der Bevölke- rung. Es geht in einer Sozialversicherung nicht darum, das medizinisch Bestmög- liche zu finanzieren, sondern darum, allen Zugang zu einem Grundstock zur Verfügung zu stellen.

Wenig bis gar nicht überzeugen kön- nen auch die Positionen der Parteien zur Pflegeversicherung. Gerade von So- zialdemokraten ist in den letzten Jahren das Thema der Integrierten Versorgung vorangebracht worden. Unverständlich bleibt daher, dass diese Integrierte Ver- sorgung ausgerechnet vor den alten Menschen und damit der Pflegeversi- cherung Halt macht, indem an einer Zweiteilung zwischen Kranken- und Pflegeversicherung festgehalten wird.

Einige unbequeme Lehren

Welche Lehren lassen sich aus den schweizerischen Erfahrungen ziehen?

Wenn überhaupt, dann am ehesten diese:

–Strukturprobleme einer Volkswirt- schaft lassen sich nicht über die Kopf- pauschale lösen.

—Die Diskussionen um Bürgerver- sicherung und Kopfpauschalen sind nicht als Gegensätze zu führen, sondern unabhängig voneinander. Denn eine Kopfpauschale ohne Bürgerversiche- rung ist nach dem rein privatwirtschaft- lich organisierten Prämiensystem das unsozialste Finanzierungssystem. Da- von hat die Schweiz 1996 Abstand ge- nommen. Es kann im Rahmen einer auf Solidarität beruhenden Versicherung nicht sein, dass sich Besserverdienende auf und davon machen, indem sie sich privat versichern. Für die Bürgerversi- cherung spricht noch etwas anderes:

Beamte und Selbstständige müssten dann auch Prämien bezahlen, statt den Mittelstand über Steuermittel für sie ihre Privatversicherung mitzahlen zu lassen.

˜Die großen Probleme der Kopf- pauschale stellen sich nicht auf der theo- retischen Ebene, sondern bei der prakti- schen Umsetzung. Wenn es beispiels- weise keinen fixen Regelmechanismus gibt, wie die Zuschüsse im Gleichschritt mit der Prämienentwicklung und den

Zuzahlungen wachsen, ist die Gefahr groß, dass die Mittel nach der Ein- führung gekürzt werden, weil andere Lobbys ihre Subventionen besser ver- teidigen können. Auf der Strecke bleibt in diesem Fall mehr und mehr der Mit- telstand.

™Sowohl bei Kopfpauschalen- als auch bei Bürgerversicherungs-Konzep- ten geht es in erster Linie um die finan- zielle Umverteilungswirkung. Über die Ursachen der Gesundheitskosten wird damit nicht gesprochen. Die Finanzie- rung der ganzen Behandlungskette nach den gleichen Prinzipien, selektive Kon- trahierung oder eine straffere Vorge- hensweise bei den zu einer obligatori- schen Krankenversicherung zugelasse- nen Medikamenten und anderen Lei- stungen sollten daher stärker in den Blickpunkt rücken.

šUm Effektivität und Effizienz in einem Sozialversicherungssystem mit Wettbewerb unter den Krankenversi- cherern zu fördern, kommt es – egal ob mit Kopfpauschale oder nicht – ent- scheidend darauf an, dass es für Kran- kenversicherer und Leistungserbringer interessanter ist, effektive und effiziente Behandlungen bei kranken Menschen sicherzustellen, als Risikoselektion zu betreiben. Deshalb kommt der morbi- ditätsorientierten Anpassung des Risi- kostrukturausgleichs so große Bedeu- tung zu.

›Last but not least: Wenn über die Gesundheitsversorgung einer Bevölke- rung gesprochen wird, sollte zuerst die Frage gestellt werden, welche Ziele er- reicht werden sollen. Das Aufzählen möglichst vieler wohlklingender An- sprüche ist zwar möglicherweise wahl- taktisch interessant, verkennt aber, dass es Zielantinomien gibt. Die eierlegende Wollmilchsau ist in der Gesundheits- versorgung auch im Gentechnologie- Zeitalter nicht zu haben. Will man eine möglichst kostendämpfende Grundver- sorgung mit einem möglichst sozialen Finanzierungssystem koppeln, dürften die schweizerischen Erfahrungen kaum einen konstruktiven Beitrag zur Pro- blemlösung darstellen – es sei denn, man wollte sehen, wie man es nicht tun sollte.

Dr. oec. HSG Willy Oggier Gesundheitsökonomische Beratungen AG Konradstrasse 61, CH-8005 Zürich P O L I T I K

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A2440 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 37⏐⏐16. September 2005

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