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Archiv "Arbeitszeit: Neue Hoffnung für Krankenhausärzte" (28.02.2003)

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as Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt hat mit seinem Grundsatz- urteil vom 18. Februar 2003 (Az.: 1 ABR 2/02; 1ABR 17/02) in zwei Rechts- streiten zur Wertung von Bereitschafts- diensten als Arbeitszeit ein Urteil ge- fällt, das nicht überrascht, aber die Betroffenen ebenso wenig zufrieden stellen kann. Zwar wies das höchste Arbeitsgericht in Deutschland zwei Klagen von zwei Betriebsräten von DRK-Einrichtungen in Rottweil und in Hamburg-Rissen aus formaljuristischen Gründen ab, die inhaltliche Bewertung durch den BAG-Präsidenten Hellmut Wissmann ist aber ein deutliches Signal für die Politik, den Gesetzgeber, die Kli- nikarbeitgeber und die Tarifpartner.

Die beiden Musterklagen, wonach Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit ge- wertet gelten soll, wurden offenbar nur deshalb nicht positiv beschieden, weil die Bundesrepublik Deutschland bei der Umsetzung der europäischen Ar- beitszeitrichtlinien vom 23. November 1993 (93/104 Art 2) ins deutsche Ar- beitszeitgesetz (von 1994) unsauber ge- arbeitet hat.

Luxemburger Urteil von 2000

Bereits in den Leitnormen des Europäi- schen Gerichtshofs (EuGH) vom 3. Ok- tober 2000 wurde bekräftigt, dass klinik- ärztliche Bereitschaftsdienste als Ar- beitszeit zu werten und zu bezahlen sind.

In vielen Krankenhäusern wird während der Bereitschaftsdienste durchgängig gearbeitet. Marathon-Bereitschaftsdien- ste und normale Einsatzzeiten am Stück bis zu 32 Stunden sind in vielen Kliniken Alltag.

Jetzt ist der Gesetzgeber gefordert, den Widerspruch zwischen europäi- schem und deutschem Recht aufzu- lösen. Sämtliche zehn vorinstanzlichen

Arbeitsgerichtsurteile (bis hin zu Lan- desarbeitsgerichten) gaben den Klä- gern (Klinikärzten/DRK-Rettungsdien- sten) Recht und urteilten, dass Bereit- schaftsdiensteinsätze als reguläre Ar- beitszeit zu werten sind. Hinzu kommt:

In den vergangenen Jahren wurden jährlich mehr als 50 Millionen dienstlich angeordnete oder im Rahmen von Ein- satzzeiten abgeleistete Überstunden überhaupt nicht oder nicht regulär ver- gütet und auch nicht durch Freizeitgut- haben ausgeglichen. Politik, Klinikar- beitgeber und Krankenkassen spielten seit dem auch für Krankenhäuser gülti- gen Arbeitszeitgesetz (1. Januar 1996) auf Zeit und verbreiteten in Expertisen die Auffassung, die Normen und Ent- scheidungen des Europäischen Ge- richtshofs in Luxemburg seien lediglich auf eine Region in Spanien und eine dort gewerkschaftlich organisierte Kli- nikarztklientel bezogen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. (DKG) verwies auf eine mutmaßlich gesetzes- treue Umsetzung der EG-Richtlinien, noch bevor das Arbeitszeitgesetz auch für Krankenhäuser in Kraft trat. Sie war der Meinung – ungeachtet von erstin- stanzlichen Urteilen von Arbeitsgerich- ten –, dass Bereitschaftsdienste nicht als volle Arbeitszeit gerechnet werden, wenn die Ärzte weniger als 50 Prozent der Bereitschaftsdienstzeit tatsächlich arbeiten. Ohne Zweifel haben es sich die Erfurter Richter nicht leicht ge- macht. Sie haben sich nicht über die verzwickte Rechtskonstellation hinweg- gesetzt und den Klageführern Recht gegeben.

Dennoch stellt das Gericht fest: Das deutsche Arbeitszeitgesetz muss drin- gend und umgehend der europäischen Rechtsprechung und den supranationa- len Rechtsnormen angepasst werden.

Schließlich geht Europarecht dem in- ländischen Recht vor (zumindest bei

den öffentlichen Arbeitgebern). Liegen diese auseinander, so müssen sie in Deckung gebracht werden. Die ärzt- lichen Dienstpläne und Einsatzzeiten sind deshalb so zu gestalten, dass Klinikärzte einschließlich der Bereit- schaftsdienstleistenden nicht länger als 48 Stunden in der Woche arbeiten.

BAG-Präsident Wissmann sagte: „Wir sind schließlich kein Gesetzgeber.“ Will heißen: Zwar haben die Krankenhäuser noch einmal eine Schonfrist, doch hat das Bundesarbeitsgericht die Verant- wortung an die Politik und den Gesetz- geber zurückgegeben.

Signalwirkung

Dass die Tendenz zur Anerkennung von Bereitschaftsdiensten als volle Arbeits- zeit stark ist, darauf deutet eine Klage- vorprüfung eines von einem deutschen Klinikarzt angestrengten Musterpro- zesses hin, den der EuGH für Beobach- ter überraschend kurzfristig auf den 25. Februar anberaumt hatte. Auch die DKG räumt ein, dass die BAG-Ent- scheidung sowohl für die deutschen Ge- setzgeber als auch für Luxemburg Si- gnalwirkung haben wird. Der Marbur- ger Bund (MB) sieht in den Leitnormen des Bundesarbeitsgerichtsurteils eine juristische Bestätigung der von den Kli- nikärzten und den Gewerkschaften bis- her verfochtenen Linie: Bereitschafts- dienstleistung ist Arbeitszeit. Jetzt ist Bundesarbeitsminister Wolfgang Cle- ment (SPD) am Zuge, das Arbeitszeit- gesetz zu ändern und die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, Arbeits- zeit und Bereitschaftsdienst gleich zu werten. Zugleich hat der MB die Ar- beitgeber aufgefordert, umgehend ge- meinsam neue Tarifverträge auszuhan- deln und die krankenhausspezifischen, mit dem Bereitschaftsdienst zusam- P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 928. Februar 2003 AA519

Arbeitszeit

Neue Hoffnung für Krankenhausärzte

Bundesarbeitsgericht rügt Umsetzung des europäischen Rechts

bei der Bereitsschaftsdienstregelung von Klinikärzten.

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menhängenden Probleme vorab ver- traglich zu regeln. In den letzten beiden Jahren waren 15 Verhandlungsrunden ergebnislos vertagt worden.

Der MB will sich nicht mit dem Hin- weis von Bundesgesundheits- und So- zialministerin Ulla Schmidt abspeisen lassen, nun müssten die Krankenhäuser das Problem der überlangen Arbeitszei- ten und des Bereitschaftsdienstes durch intelligentere organisatorische Ansätze lösen. Bereits ihre Amtsvorgängerin, Andrea Fischer (Bündnisgrüne), spielte auf Zeit und sah die Lösungsoption in arbeitsorganisatorischen Änderungen.

Ulla Schmidt zeigt sich mit ihrer Kommentie- rung des Erfurter Ur- teils ebenso faktenresi- stent und hat bisher noch nicht die politischen Konsequenzen des von ihr einberufenen „Ar- beitszeitgipfels“ (vom April 2002) gezogen.

Dessen ungeachtet drängen sowohl die DKG als auch die Spit- zenverbände der Kran- kenkassen auf Rechts- klarheit durch den Bun- desgesetzgeber und eine

Auflösung des Widerspruchs zwischen europäischem und deutschem Recht.

Für die DKG bedeutet die Erfurter Entscheidung zwar „nicht den erwarte- ten Erdrutsch“, sie habe aber Signalwir- kung, betonte DKG-Präsident Dr. jur.

Burghard Rocke vor der Presse in Ber- lin. Dass das BAG-Urteil eine Eigen- dynamik entwickeln wird, räumen auch die Krankenkassen ein. Der Abbau des Überstunden- und Bereitschaftsdienst- stresses am Klinikbett, die Humanisie- rung des Arbeitsplatzes Krankenhaus sind zudem ein großes arbeitsmarkt- politisches und kostenpolitisches Pro- blem. Selbst die Krankenkassen gehen davon aus, dass die Formel „Bereit- schaftsdienst = Arbeitszeit“ nicht ko- stenneutral umgesetzt und durch orga- nisatorische Änderungen am Ablauf umgesetzt werden kann. Unter dem Strich rechnen Krankenhausträger und Krankenkassen bei einer 1 : 1-Umset- zung des EuGH-Urteils mit einer Er- höhung der Kassenbeiträge um 0,2 Pro- zentpunkte. Wie viele Ärzte zusätzlich

nach einer gesetzlichen Neuregelung oder einer europäischen Direktive in den deutschen Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen ein- gestellt werden müssen, ist umstritten.

Nach Schätzungen des MB müssten al- lein 15 000 Ärzte und 10 000 Pflege- kräfte in den Kliniken zusätzlich be- schäftigt werden. Die DKG geht sogar von 27 000 neuen Ärzten und 14 000 Stellen für Mitarbeiter in der Pflege und der Technik aus. Die unterschied- lichen Bedarfsschätzungen resultieren aus der Bewertung des Mehraufwandes und der Tatsache, wie weitreichend die

Arbeitsorganisation reformiert und die Arbeitsabläufe verändert werden.

Der Marburger Bund veranschlagt die Mehrkosten und den Budgeterhö- hungsbedarf auf eine Milliarde Euro, die DKG auf rund 1,75 Milliarden Euro pro Jahr. Bei lediglich 7 000 arbeitslos gemeldeten Ärzten drohe deshalb eine erhebliche Personallücke. Zudem gebe es nach der derzeitigen Rechtslage kei- ne Refinanzierungsmöglichkeit.

Die Krankenkassen räumen ein: Die Klinikärzte und das Pflegepersonal lei- den unter der zunehmenden Arbeits- verdichtung, unter dem Überstunden- stress und den erheblichen Belastun- gen. Sie meinen aber auch: Solange das Gesetz nicht geändert ist und das Urteil die bisherige Praxis der Krankenhäuser als rechtmäßig wertet, müssten die Kli- niken ihre Arbeitsorganisation verbes- sern und die Arbeitsabläufe produkti- ver gestalten. Zudem könnten unter Rückgriff der im Fallpauschalengesetz für das Jahr 2003 und 2004 jeweils 100 Millionen Euro zusätzlich bereitgestell-

ten Mittel neue Klinikarztstellen finan- ziert werden. Die Anforderungen des BAG und eine eventuelle neue Recht- sprechung zum Arbeitszeitgesetz sowie ein zu erwartendes neues EuGH-Urteil können nach Meinung der Kassen auch ohne Mehrkosten umgesetzt werden.

Sie verwiesen auf die Arbeitszeitmodel- le, die in den Städtischen Kliniken In- golstadt und in Hamburg (LBK Ham- burg) erfolgreich praktiziert worden sind. Dort wurde die Arbeitszeit umor- ganisiert. Auch das Bayerische Gesund- heitsministerium wies darauf hin, durch ein besseres Arbeitszeitmanagement könnten die Arbeitszeiten flexibilisiert und die Zahl der Ruf- und Bereit- schaftsdienste könnte verringert wer- den. Im Klinikum Ingolstadt sei es da- durch gelungen, eine kostenneutrale Einstellung von 28 Ärzten zu bewirken.

Prof. Dr. med. Werner Hacke, Direk- tor der Neurologischen Universität Hei- delberg, sieht sich nicht imstande, die Europanormen unmittelbar umzusetz- ten. „Wenn das so käme, wie es wün- schenswert wäre, woher sollen wir die Ärzte nehmen, und wie sollen wir sie be- zahlen?“ erklärte er vor dem 1. Kon- gress der SRH-Kliniken AG in Karlsru- he. Dringend zu besetzende Planstellen seien dauerhaft vakant, und der Ärzte- mangel sei in den neuen Bundesländern noch größer als im Westen. Zudem sei es eine Tatsache, dass bis zu 40 Prozent der Medizinabsolventen wegen zuneh- mender Verdrossenheit und schlechter Arbeitsbedingungen in nichtärztliche Arbeitsfelder ausweichen oder ins Aus- land flüchteten.

Roland Sing,der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, erklärte gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt:

„In jedem Fall und in jedem einzelnen Krankenhaus werden die Krankenkas- sen prüfen, ob und wie hoch der Einsatz von Klinikärzten und des Bereitschafts- dienstes ist.“ Dazu gäben das Gesetz und die DRG-Pauschalentgelte eine Hand- habe. Die Krankenkassen lehnen eine volle Übernahme der Zusatzpersonalko- sten ab. Schließlich sei das Selbstkosten- deckungsprinzip seit 1992/95 abgeschafft worden – und dies könne jetzt nicht wie- der aktiviert werden. Es sei Verhand- lungssache, darüber zu befinden, wie sich erhöhte Personalkosten in den Festprei- sen widerspiegeln. Dr. rer. pol. Harald Clade P O L I T I K

A

A520 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 928. Februar 2003

Hellmut Wissmann, Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Erfurt (3. von rechts): „Wir sind kein Gesetzgeber.“ Foto: dpa

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