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Archiv "Recht: Fürsorge oder Selbstbestimmung?" (04.05.2012)

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RECHT

Fürsorge oder

Selbstbestimmung?

Von Arztpflichten und Patienten- rechten – rechtliche, ethische und medizinische Aspekte

Dorothea Magnus

F

ürsorge und Selbstbestim- mung sind nicht nur zwei fun- damentale ethische Prinzipien, sie prägen auch jedes ärztliche Han- deln und haben für Juristen eben- falls große Bedeutung. Hinter dem Begriff der Fürsorge verbirgt sich eine langjährige, heiß umstrittene Diskussion über Paternalismus, die von Philosophen und Juristen gleichermaßen engagiert geführt wird (1–7). Hinter dem Prinzip der Selbstbestimmung lauert die schwierige und wohl kaum zu lö- sende Frage der Willensfreiheit, die schon vor 2 400 Jahren Platon, Aristoteles und Sokrates beschäf- tigt hat und die seitdem zu einer der Grundfragen menschlichen Denkens überhaupt geworden ist (8–10).

Im Folgenden geht es aber we- niger um die philosophisch-dog- matische Diskussion der Begriffe Autonomie und Paternalismus, sondern es soll vielmehr das Au- genmerk darauf gerichtet werden, wie sich Fürsorge und Selbstbe- stimmung auf den medizinischen Alltag und die Rechtspraxis aus- wirken. Die gewählten Fälle sollen exemplarisch für die Bedeutung

von Fürsorge und Selbstbestim- mung insgesamt stehen.

Selbstgesetzgebung eines vernünftigen Willens

Ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, hängt von vielen Fakto- ren ab. Die zwei wichtigsten sind die Fähigkeit des Menschen und seine Möglichkeiten, Präferenzen und Zie- le und damit sein eigenes Wertesys- tem selbst formen zu können. Äuße- re Faktoren spielen hier eine ebenso wichtige Rolle wie innere Faktoren.

Sind die äußeren Verhältnisse so be- schaffen, dass sie eine Entfaltung der Persönlichkeit unmöglich ma- chen, verhindern sie die Ausübung von Selbstbestimmung, von Autono- mie. Fehlt demgegenüber die innere Fähigkeit zur Autonomie, die ein Mindestmaß an kognitiver und vo- luntativer Entwicklung voraussetzt, so ist das Individuum nicht in der Lage, autonom zu entscheiden und zu handeln.

Autonomie bedeutet nach Imma- nuel Kant die Selbstgesetzgebung eines vernünftigen Willens (11).

Kants Gedankenwelt hat bis heute Bedeutung. Seine Ideen prägen un- ser Rechtssystem und haben insbe- Foto: Fotolia/beermedia

schen fasziniert Schiller. Fallen Herz und Verstand auseinander, entstehen monströse Charaktere, wie sie der 20-jährige Medizinstu- dent in „Die Räuber“ beschreibt.

Hier gehen Medizin und Literatur Hand in Hand, Arzt und Dichter se- zieren den Menschen.

Wird der psychosomatische Ge- danke unterdrückt, leidet nicht nur der Patient, sondern auch die ärztli- che Kunst. So wie dem Menschen die Prinzipien von Körper und Geist zugrunde liegen, so sind es im Bild der Medizin die Prinzipien von ärztlicher Kunst und medizinischer Wissenschaft, die beim Auseinan- derbrechen der Einheit dem Arzt, dem Patienten und der Gesellschaft Furcht einflößen. Bezugspunkt der ärztlichen Kunst ist die Person; sie ist die lebendige Einheit von Leib und Seele. Um ihr Wohl geht es in der ärztlichen Kunst. Anders dage- gen die medizinische Wissenschaft, deren Intention ist das Objekt des Körpers. Sie behandelt nicht die Person, sondern deren Organe.

Schiller fühlte das Problem und hat es in seiner Widmung an den Her- zog, die seiner letzten Dissertation vorangestellt ist, angesprochen:

„Ein Arzt, dessen Horizont sich ein- zig und allein um die historische Kenntnis der Maschine dreht, die die gröberen Räder des seelenvolls- ten Uhrwerks nur terminologisch und örtlich weiß, kann vielleicht vor dem Krankenbette Wunder tun und vom Pöbel vergöttert werden; – aber Euer Herzogliche Durch- laucht haben die Hippokratische Kunst aus der engen Sphäre einer mechanischen Brotwissenschaft in den höheren Rang einer philosophi- schen Lehre erhoben.“ (1)

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2012; 109(18): A 913–8

LITERATUR

1. Werner B: Der Arzt Friedrich Schiller oder Wie die Medizin den Dichter formte, Kö- nigshausen & Neumann, Würzburg 2012.

2. Werner B: Schillers Fieberlehre, Hamburger Ärzteblatt, 64, 2010, 12–9.

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Bernd Werner Salomon-Heine-Weg 36 a 20251 Hamburg

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Selbstbestimmungsrecht Vorrang vor dem eigenen Wohl: Der Patient ent- scheidet, was mit seinem Körper ge- schieht. Das Verfassungsrecht billigt diese Verfügungsgewalt über den ei- genen Körper, indem es das Recht zur Selbstbestimmung als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeits- rechts und des Rechts auf körperli- che Unversehrtheit in Art. 2 in Ver- bindung mit Art. 1 des Grundgeset- zes verbürgt.

Dieses Recht des Patienten an sei- nem eigenen Körper und seiner Psy- che endet selbst dann nicht, wenn die eigene Entscheidung unvernünf- tig wird. Lehnt der entscheidungsfä- hige Patient zum Beispiel eine medi- zinisch notwendige oder sogar le- bensrettende Behandlung ab, so darf ihn der Arzt nicht gegen seinen ernsthaften und ausdrücklichen Wil- len behandeln. Allerdings ist ein Arzt auch nicht verpflichtet zu medi- zinisch nicht indizierten Maßnah- men. Hier kommen sein Grundrecht auf Berufsfreiheit und seine allge- meine Handlungsfreiheit zum Tra- gen. „Die medizinische Indikation, verstanden als das fachliche Urteil über den Wert oder Unwert einer medizinischen Behandlungsmetho- de in ihrer Anwendung auf den kon- kreten Fall, begrenzt insoweit den Inhalt des ärztlichen Heilauftrags“

(BGHZ 154, 224). Hier löst sich der Autonomiebegriff von der kanti- schen Tradition der Selbstgesetzge- bung eines vernünftigen Willens.

Kant würde solche unvernünftigen Entscheidungen als heteronom be- zeichnen und ihnen weniger Respekt entgegenbringen als originär autono- men Entscheidungen.

Für die medizinische Praxis er- gibt sich die Frage: Muss der Arzt dem selbstbestimmten Willen des Patienten stets nachkommen? Hat der Patient ein Recht darauf, dass der Arzt ihn entsprechend seinem Willen behandelt? Auf diese Fragen soll später anhand von Beispielfäl- len eingegangen werden.

Sorge um das Wohlergehen des Patienten

Dem Recht des Patienten auf Selbst- bestimmung steht die Pflicht des Arztes zur ärztlichen Fürsorge ge- genüber. Die Fürsorgepflicht be-

zeichnet die ärztliche Sorge um das Wohlergehen seines Patienten.

Rechtlich verankert ist sie im Be- rufsrecht, in der Bundesärzteord- nung (BÄO) und in der (Muster-)Be- rufsordnung (MBO) für Ärzte, die als oberstes Gebot ärztlichen Han- delns die Erhaltung und Wiederher- stellung der Gesundheit des Patien- ten bestimmen (§ 1 Abs.1 BÄO und

§ 1 Abs. 2 MBO). Hier steht man vor der Frage, bis wohin die fürsorgliche Entscheidung noch die Fähigkeit des Patienten zur Selbstbestimmung be- achtet und ab wann sie die Grenze zur Bevormundung überschreitet.

Setzt sich die Fürsorge zulasten der Selbstbestimmung durch, kann man von Paternalismus sprechen.

Paternalistische Eingriffe greifen in die Freiheit eines anderen zu- gunsten seines Wohls, aber gegen seinen aktuellen Willen ein (21).

Der paternalistische Eingriff soll den Betroffenen in der Regel vor Selbstgefährdungen und Selbstver- letzungen vor sich (3,4,22,23) oder vor einverständlichen Fremdverlet- zungen durch andere schützen (22).

Paternalistische Handlungen sind nicht per se unzulässig.

In vielen Bereichen sind sie so- gar unersetzlich. In Fällen „alters- bedingter Unreife, seelischer Er- krankung, unsinniger Übereilung oder kurzfristiger emotionaler Überwältigung“ sollen Personen vor einer folgenschweren Entschei- dung bewahrt werden, die sie aller Voraussicht nach später bereuen würden (24). In Notfallsituationen etwa muss der Arzt zum Wohl des Patienten schnell eingreifen und sich über einen möglicherweise ent- gegenstehenden Willen des Patien- ten hinwegsetzen.

Wenn der Patient nicht in der La- ge ist, über sich frei zu bestimmen, etwa wegen Einsichtsunfähigkeit bei Kindern und Betreuten, muss der Arzt in Absprache mit dem ge- setzlichen Vertreter oder Betreuer seine Entscheidung anstelle der des Patienten setzen.

Aber wie weit darf die fürsorgli- che Entscheidung des Arztes bei der Behandlung reichen, und nimmt das Recht zur Fürsorge aufseiten des Arztes in dem Maße zu, in dem die Selbstbestimmungsmöglichkeit sondere die Freiheitsrechte des

Grundgesetzes maßgeblich beein- flusst (12–14).

Die Autonomie

einschränkende Hindernisse Die Fähigkeit zur Autonomie kann eingeschränkt sein, zum Beispiel bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen durch kognitive Hindernisse, durch faktische Hindernisse, wie eine feh- lende Äußerungsmöglichkeit, sowie durch Krankheit oder Behinderung.

Die Autonomiefähigkeit fehlt zum Beispiel vollständig bei Wachkoma- patienten, vorübergehend Bewusst- losen oder Dementen im schwersten Stadium. Darüber hinaus können äu- ßere Hindernisse den Menschen dar - an hindern, seine Autonomie auszu- üben. Neben naturgegebenen Gren- zen wie zum Beispiel Tod oder natürliche Umweltbedingungen, die nicht mit dem Willen verändert wer- den können, gibt es äußere Umstän- de, die nur bis zu einem gewissen Ausmaß vom Willen beeinflussbar sind. Hierzu zählen Versorgungshin- dernisse, bedingt durch Ressourcen- knappheit.

Das Recht trägt dem Autonomie- konzept im medizinischen Bereich dadurch Rechnung, dass es den Arzt an den „informed consent“

(die Einwilligung nach Aufklärung) des Patienten bindet (15).

Der „informed consent“ ist Be- gründung und Legitimation des inva- siven ärztlichen Eingriffs zugleich.

Im Strafrecht entscheidet er über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrig- keit des Eingriffs (16–20). Das Wohl (salus) des Patienten und die medizi- nische Indikation hingegen, die bei- de ebenfalls fundamentale Prinzipien ärztlichen Handelns und Aufforde- rung zum Tätigwerden sind und ih- ren festen Platz in ärztlichen Berufs- und Standesregeln haben, führen für sich genommen nicht zu einer straf- rechtlichen Rechtfertigung eines ärztlichen Eingriffs. Ob das Straf- recht diesen Prinzipien ausreichend Rechnung trägt, ist daher fragwür- dig. Der Patient kann sogar explizit auf sie verzichten, indem er sich Pro- zeduren wie etwa Schönheitsopera- tionen unterzieht, die weder medizi- nisch indiziert sind noch seinem Wohl entsprechen. Hier hat das

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aufseiten des Patienten abnimmt?

Einige Fälle aus der gynäkologi- schen Praxis, welche die Gerichte beschäftigt haben, sollen den Sach- verhalt verdeutlichen.

Fall 1: Eine erwachsene, schwan- gere Patientin verlangt kurz vor der Geburt einen Kaiserschnitt. Der Arzt sagt zu Recht, dass das Kind ohne Probleme durch den Geburts- kanal zur Welt kommen kann. Muss er sich dem Willen der Patientin beugen?

Hier verlangt eine einsichtsfähi- ge, volljährige Patientin einen Ein- griff in ihren Körper, der nicht zwingend notwendig, aber auch nicht kontraindiziert ist. Die Schwangere kann darüber entschei- den, was mit ihrem Körper ge- schieht. Die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper gehört zum Recht auf Selbstbestimmung, das durch das allgemeine Persönlich- keitsrecht und das Recht auf kör- perliche Unversehrtheit von unserer Verfassung verbürgt ist. Das Ver- langen eines Kaiserschnitts recht- fertigt die Körperverletzung, die der Arzt begeht, wenn er den Kai- serschnitt durchführt. Die Einwilli- gung der Schwangeren, die in die- sem Verlangen steckt, führt zur Straffreiheit des Arztes. Er kann den Kaiserschnitt durchführen.

Variante: Die Patientin will das Kind unbedingt auf natürlichem Wege zur Welt bringen. Der Arzt sagt zu Recht, dass das Kind nur si- cher durch einen Kaiserschnitt zur

Welt kommen kann. Muss der Arzt dem Willen der Patientin folgen?

Der Arzt hat auch Pflichten dem ungeborenen Kind gegenüber. Wür- de das Kind schwer beschädigt oder sogar tot zur Welt kommen, falls er die Geburt auf natürlichem Wege durchführt, macht der Arzt sich haftbar und strafbar. Mit dem Be- ginn der Eröffnungswehen wird der Embryo zu einer Person, die den vollen Schutz des Strafge - setzbuches erhält (25). Ab diesem Zeitpunkt kann sich der Arzt ei- ner schweren Körperverletzung (§§ 223, 226 StGB) oder sogar Tö- tung durch Unterlassen (§§ 212, 222, 13 StGB) strafbar machen, wenn er die Gesundheit oder das Leben des Kindes nicht rettet. Er kann und muss sich dem Wunsch der Schwangeren widersetzen, wenn er ansonsten das Leben des Kindes gefährden würde.

Besteht hingegen keine Gefahr für das Kind, sind aber erhebliche Risiken mit dem Kaiserschnitt für die Gesundheit der Schwangeren verbunden, so besteht keine Ver- pflichtung des Arztes, den Kaiser- schnitt zwangsweise vorzunehmen.

Fall 2: Eine gesunde, erwachse- ne Patientin verlangt ausdrücklich vom Arzt starke Medikamente, weil sie glaubt, diese würden ihr helfen.

Die Medikamente sind hingegen aus ärztlicher Sicht nicht medizi- nisch indiziert. Macht der Arzt sich strafbar, wenn er ihr die Medika- mente verschreibt oder sie bei ihr anwendet? Was ist, wenn später infolgedessen Gesundheitsschäden auftreten?

Dieser Fall betrifft eine Behand- lung ohne medizinische Notwen- digkeit. Behandelt ein Arzt seinen Patienten, ohne dass dafür eine In- dikation vorliegt, so verstößt er ge- gen die ärztlichen Standesregeln, die ihn zur „Lebensrettung, Heilung und Schmerzlinderung“ verpflich- ten. Denn diese Aufgabe kann er bei einem Nichtkranken nicht erfüllen.

Wäre der Eingriff zudem noch kontraindiziert, würde der Arzt die oberste Aufgabe des Arztes „nicht zu schaden („primum non noce- re“)“ missachten (26–28).

Der bloße Verstoß gegen Stan- desregeln, ohne Verletzung von zi- vil- oder strafrechtlichen Rechtsgü- tern, kann nur mit berufsrechtlichen Sanktionen geahndet werden.

Unser Strafgesetzbuch hingegen enthält keine Strafvorschrift für nichtindizierte, medizinische Ein- griffe. Eine etwaige Körperverlet- zung ist durch die Einwilligung der Patientin gerechtfertigt und stellt den Arzt straffrei. Nur wenn der Arzt die Behandlung fehlerhaft oder mit mangelhafter Aufklärung durchführt und durch das Verschul- den des Arztes ein Gesundheits- schaden bei dem Patienten eintritt, verliert die Einwilligung ihre recht- fertigende Kraft; in eine solche Be- handlung hätte der Patient nicht eingewilligt. Die Körperverletzung wird strafbar. Das Gleiche gilt, wenn die Körperverletzung die Schwelle zur Sittenwidrigkeit über- schreitet, § 228 StGB.

Nach unserem Bürgerlichen Ge- setzbuch haftet der Arzt auch nicht zivilrechtlich für nichtindizierte, medizinische Eingriffe. Er kann nur schadensersatzpflichtig werden, wenn er durch eigenes Verschulden Medikamente fehlerhaft oder nach mangelhafter Aufklärung verschreibt oder anwendet und aufgrund des- sen ein Schaden beim Patienten eintritt (29).

Festzuhalten ist also, dass der Arzt sich grundsätzlich nicht straf- bar macht, wenn er auf Wunsch der Patientin nichtindizierte Medika- mente verschreibt oder verabreicht.

Das ermöglicht das Selbstbestim- mungsrecht der Patientin, das in Form der Einwilligung, also durch den bloßen ernsthaften Wunsch,

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auch unvernünftige oder nicht not- wendige ärztliche Behandlungen rechtfertigen kann. Kommt es aller- dings zu Gesundheitsschäden, so verliert die Einwilligung ihre recht- fertigende Wirkung, wenn der Arzt einen Behandlungs- oder Aufklä- rungsfehler begangen hat oder die Körperverletzung sittenwidrig war.

Der Arzt wird straf- und haftbar.

Hier dominiert die Fürsorgepflicht des Arztes, dem Patienten nicht zu schaden und sein Wohl nicht zu ver- letzen.

Fall 3: Eine Frau bringt ein schwergeschädigtes Kind zur Welt.

Der Grund dafür liegt entweder in einem erfolglosen Sterilisationsver- such, einem misslungenen, aber rechtmäßigen Schwangerschaftsab- bruch, einer fehlerhaften geneti- schen Beratung oder in einer zur Schwangerschaft führenden, fal- schen Arzneimittelabgabe. Die Frau verlangt die lebenslange Übernahme der Unterhaltskosten für das Kind und Schmerzensgeld vom Arzt.

Dieses Problem wird mit dem Stichwort „Kind als Schaden“ um- rissen. Solche Fälle sind juristisch kompliziert und sind bis vor das Bundesverfassungsgericht gelangt (BVerfGE 88, 203). Die Grundfrage ist, ob das Dasein eines Kindes als Schadensquelle angesehen werden kann. Das BVerfG hat diese Frage mit Rücksicht auf die Würde des Menschen verneint. Dennoch spricht der BGH in den genannten

Fällen der Schwangeren einen Un- terhaltsanspruch zu. Voraussetzung dafür ist immer das Verschulden des Arztes. Der BGH begründet sei- ne Rechtsprechung damit, dass nicht das Kind, sondern dessen Un- terhalt der Schaden sei (BGHZ 124, 128).

Dieser Kunstgriff ist nicht un- problematisch. Denn die Unter- haltszahlungspflicht ist so eng mit der Existenz des unerwünschten Kindes verknüpft, dass eine Diffe- renzierung kaum möglich er- scheint. Das BVerfG hat diese Rechtsprechung bislang gebilligt.

Der BGH knüpft die Ersatzpflicht an einen Behandlungs- oder Bera- tungsvertrag, welcher zumindest auch den Schutz vor finanziellen Belastungen bezweckt (BGH NJW 2000, 1782; 2008, 2846). Diese Voraussetzung liegt nur dann nicht vor, wenn der Schwangerschafts- abbruch aufgrund medizinischer Indikation erfolgt ist. Neben dem Unterhaltsanspruch kommt für die Herbeiführung einer ungewollten Schwangerschaft ein Schmerzens- geldanspruch der Frau in Betracht, was selbst dann gilt, wenn die Schwangerschaft ohne pathologi- sche Begleiterscheinungen ver- läuft.

Hat die Schwangere mit dem Arzt einen bloßen Verhütungsver- trag geschlossen und kommt es zur Geburt eines unerwünschten Kin- des, so hat nicht nur die Schwange- re einen Anspruch gegen den schuldhaft handelnden Arzt, son- dern auch ihr Partner. Da die Verhü- tung auch der wirtschaftlichen Fa- milienplanung dient, soll auch der Partner geschützt werden, der für den Unterhalt aufzukommen hätte (30). Ob auch das Kind einen eige- nen Schadensersatzanspruch hat, ist umstritten (31–33). Richtig er- scheint es, dem Kind einen An- spruch auf Ausgleich seines Mehr- bedarfs zuzusprechen, wenn es vor- geburtlich geschädigt wurde (34, 35).

Die Fälle des „Kindes als Scha- den“ sind ethisch und rechtlich hei- kel. Sie zeigen, dass den Arzt eine recht weitgehende Fürsorge- und Schutzpflicht für das ungeborene Leben trifft. Diese Schutzpflicht

wandelt sich in eine ökonomische Pflicht zum Unterhalt um, wenn das Kind durch ein Verschulden des Arztes doch geboren wird.

Die Fürsorge des Arztes gegen- über dem Kind geht in diesen Fäl- len also über die Zeit der Schwan- gerschaft hinaus. Das mögen Frau- enärzte als ungerecht und zu weit- reichend empfinden. Es ergibt sich aber aus dem Status des Nasziturus, der ein mit einem eigenen Lebens- recht ausgestatteter Rechtsträger ist. Diesen Nasziturus nicht zu schädigen und bei einer schuldhaf- ten Schädigung einen Teil der fi- nanziellen Lasten mitzutragen, ist Aufgabe des Arztes. Das Leid, das mit einem geschädigten Kind für die Eltern verbunden ist, kann der Arzt ihnen ja hingegen nicht abneh- men.

Die drei Fälle aus der medizini- schen und rechtlichen Praxis haben gezeigt, in welchem Wechselspiel Fürsorgepflicht und Selbstbestim- mungsrecht stehen. Beide Prinzi- pien finden sich konkret in Arzt- pflichten und Patientenrechten wieder. Sie leiten das Verhalten des Arztes und entscheiden dar - über, welche Folgen das Gesetz an dieses Verhalten knüpft. Die Fälle belegen aber auch, dass ein Aus- gleich zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung immer nur von Fall zu Fall erreichbar ist. Da beide Prinzipien in einem Spannungsver- hältnis zueinander stehen, stellt sich immer wieder die Frage, ob im jeweiligen Einzelfall der Für- sorge oder der Selbstbestimmung der Vorrang einzuräumen ist. Die Prämisse hierfür sollte sein: So viel Selbstbestimmung wie mög- lich und so viel Fürsorge wie nötig.

Diese Balance zu finden, ist eine bleibende Herausforderung für je- den einzelnen Arzt.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2012; 109(18): A 918–21

Anschrift der Verfasserin Dr. iur. Dorothea Magnus, LL.M.

Universität Hamburg, Fakultät für Rechtswissenschaft Rothenbaumchaussee 33, 20148 Hamburg dorothea.magnus@uni-hamburg.de

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit1812

Foto: iStockphoto

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LITERATURVERZEICHNIS HEFT 18/2012, ZU:

RECHT

Fürsorge oder Selbstbestimmung?

Von Arztpflichten und Patientenrechten – rechtliche, ethische und medizinische Aspekte

Dorothea Magnus

LITERATUR

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