• Keine Ergebnisse gefunden

Der Zusammenhang zwischen der Konzeptualismus-Frage und Kants kritischem Projekt kritischem Projekt

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 35-45)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

1.1.3 Der Zusammenhang zwischen der Konzeptualismus-Frage und Kants kritischem Projekt kritischem Projekt

Kants Kritik der reinen Vernunft ist eine Untersuchung über die Objektivität der Erkenntnis.

Die Hauptfrage der Kritik ist also, inwieweit der Mensch der Objektivität fähig sei. So viel, glaube ich, lässt sich noch relativ unumstritten behaupten. In dieser Hinsicht kann es sinnvoll sein, die Kritik der reinen Vernunft als eine Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus zu betrachten. Dabei sollte man aber nicht verführt werden, den Begriff des Skeptizismus weiter zu bestimmen. Denn nur im allgemeinsten Sinne des Begriffes des Skeptizismus ist die Kritik der reinen Vernunft eine Beschäftigung mit diesem, d. h. nur insofern das Wort

36

„Skeptizismus“ nicht mehr als den Zweifel daran beschreibt, dass es eine (wenn auch nur teilweise) positive Antwort auf die Frage der Objektivität geben kann.23

Die Frage nach der Objektivität und die Überzeugung, eine neue Weise gefunden zu haben, um diesen Begriff zu artikulieren, erklären die Struktur beider Vorreden der KrV und die zentrale Stelle der Kritik der Metaphysik in ihnen.24 Kants Antwort auf das Problem der Objektivität verspricht auch den Beweis der Unlösbarkeit der metaphysischen Fragen (KrV A XII-XIII; B XX-XXI). Demzufolge soll die Metaphysik auf den Status einer Wissenschaft, wie den der Logik, der Mathematik und der Physik, endgültig verzichten. Allerdings beruhigt uns Kant, dass dieser Verlust im theoretischen Bereich Platz für einen wesentlich größeren Gewinn im praktischen Bereich schafft. Was die theoretische Vernunft als unlösbar erkennt, kann die praktische Vernunft aufgrund eines moralischen Interesses entscheiden (KrV B XXIX-XXX).

Da, wie die zwei Vorreden der KrV bezeugen, die Untersuchung der Objektivität das Gewicht des ganzen kantischen Projektes – nicht nur der KrV – trägt, fragt sich nun, worin sich der kantische Ansatz zu diesem Problem von früheren Untersuchungen unterscheidet. Die Antwort auf diese Frage hängt mit der kopernikanischen Wende der kantischen Philosophie zusammen.

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiemit eben so, als mit den

23 Es besteht natürlich die Möglichkeit, verschiedene Arten des Skeptizismus zu unterscheiden. Es ist allerdings klar, dass nur die radikale Skepsis der Pyrrhoniker als negativer Kanon für die Frage nach der Objektivität fungieren kann. Denn sie lehnt die Möglichkeit der Objektivität als solche ab, während die anderen Arten des Skeptizismus immer eine teilweise positive Antwort auf die Frage nach der Objektivität voraussetzen. In diesem Sinne ist Forsters These, dass Kants sich in der KrV vorwiegend mit der pyrrhonischen Skepsis beschäftigt, sicherlich richtig, aber vielleicht nicht besonders aussagekräftig (vgl.z. B. M. Forster, Kant and Skepticism 2008).

Die einst weitgehend anerkannte These, dass Kants Philosophie als eine Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus präsentiert werden kann, wurde letztlich von einigen Interpreten abgelehnt (vgl. z. B. L. Allais, Manifest Reality. Kant’s Idealism and His Realism 2015). Die Frage ist allerdings, ob diese Ablehnung die hier präsentierte These betrifft. Diejenigen, die verneinen, dass die KrV als Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus gelesen werden kann, behaupten häufig, dass, wenn die KrV so etwas täte, sie die Möglichkeit der Objektivität nicht voraussetzen könnte, was sie offensichtlich tut. Eine solche Behauptung beruht auf der Annahme, dass, wenn die Widerlegung des Skeptizismus nicht von vornherein ungültig sein soll, die Frage nach der Objektivität zunächst offengelassen werden muss. Aber wäre irgendeine Widerlegung des Skeptizismus überhaupt möglich, wenn diese tatsächlich ihre Vorbedingung wäre?

24 Dass die verzweifelte Lage der Metaphysik in der Vorrede A ganz am Anfang, in der Vorrede B aber erst nach dem Beispiel erfolgreicherer Wissenschaften erwähnt wird, lässt sich durch die unterschiedlichen Zustände erklären, die die zwei Auflagen bei den Lesern voraussetzen. Vgl. H. Cohen, Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft 1989, S. 1-7; E. Förster, Die Vorreden 1998.

37

ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Object der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen (KrV B XVI-XVII).

Was Kant kopernikanische Wende nennt, bezeichnet den Übergang zwischen zwei verschiedenen Ansätzen zum Problem der Objektivität. Die alte Auffassung, die Kant der klassischen Metaphysik zuordnet, besagt, dass die Objektivität der Erkenntnis nur durch deren Korrespondenz mit dem Ansich der Dinge gewährleistet werden kann. Im Gegensatz dazu bringt Kant die Hypothese ein, dass es vielleicht eine andere Strategie für die Garantie unserer Erkenntnis gibt. Kants Kandidat für diese alternative Garantie ist die Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens, die er Kritik der reinen Vernunft nennt.

An dieser Stelle könnten schon einige Zweifel entstehen: Sagt Kant, dass alle unsere Überzeugungen nicht wahr, sondern nichts als bloße Erscheinung sind? Kann das, was nach dem Verzicht auf die vorkantische Auffassung der Erkenntnis übrigbleibt, wirklich Erkenntnis genannt werden? Diese und ähnliche Zweifel beziehen sich auf eine gewisse Ambivalenz, die Kants philosophischer Vorschlag in die Begriffe „Erkenntnis“ und „Wahrheit“ – und möglicherweise in andere verwandte Begriffe – einbringt. Kants Projekt sieht tatsächlich so aus, dass es, wenn man es für gelungen hält, eine Reform der Semantik dieser Begriffe mit sich bringt. Ein echter Kantianer ist gedrängt, die Begriffe „Erkenntnis“ und „Wahrheit“ mit einer anderen Bedeutung zu gebrauchen als dem eines Nicht-Kantianers und dem eines Vorkantianers. Um Kants Projekt auf eine Weise zu präsentieren, die sowohl von den Kantianern als auch von den Nicht-Kantianern akzeptiert werden kann, muss man also die Begriffe „Wahrheit“ und „Erkenntnis“ auf eine sehr vorsichtige Weise verwenden, sodass deren Gebrauch für die Charakterisierung des kantischen Projektes zunächst nicht wesentlich sein sollte.

Ein besserer Kandidat für eine ökumenische Charakterisierung des kantischen Projekts ist der Begriff der Realität an sich. Dementsprechend wäre der Vorschlag Kants, eine Garantie für unsere Überzeugungen zu liefern, die nicht auf die Realität an sich rekurriert. Eine solche Charakterisierung wird aber wohl nicht von allen zeitgenössischen Kantianern für schlüssig gehalten werden, zumindest nicht unter allen möglichen Interpretationen des Begriffes der Realität an sich. Die hermeneutische Tradition, welche auf Wilfrid Sellars zurückgeht und

38

welche heutzutage am stärksten von John McDowell vertreten wird, behauptet, die Zustimmung zum kantischen Projekt beinhalte nicht zwangsläufig eine Unterstellung der Existenz einer Realität an sich.25

Zweifelsohne unterliegt diese These häufig einer gewissen interpretatorischen Schwierigkeit, weil Kants Werke Passagen wie die eben zitierte enthalten. Nicht zufällig war Wilfrid Sellars gezwungen einzuräumen, dass diese These vielmehr dem Geist der kantischen Philosophie als ihrem Buchstaben entspricht. Wir sind hier allerdings auf der Suche nach einer Charakterisierung des kantischen Projekts, die nicht nur von den orthodoxen Kantianern, sondern auch von den Kantianern nach dem Geist akzeptiert werden muss. Andernfalls wäre nicht zu verstehen, warum ich behaupte, dass es eine Verbindung zwischen der Idee einer kopernikanischen Wende in der Philosophie und den Schwierigkeiten des Konzeptualismusstreites gibt.

Mein Vorschlag für eine minimale Charakterisierung des kantischen Projektes beruht auf einem Begriff, der meines Wissens von allen, die sich als Kantianer bezeichnen, sowie von allen Teilnehmern am Konzeptualismusstreit akzeptiert wird, nämlich dem Begriff der nicht-propositionalen Entitäten. Dieser Begriff muss zunächst vom Begriff der nicht-nicht-propositionalen Bewusstseinsinhalte sorgfältig unterschieden werden. Denn selbstverständlich kann der letztere Konzeptualisten wie Sellars und McDowell nicht unproblematisch zugeschrieben werden.

Selbst die radikalsten Konzeptualisten würden allerdings nicht leugnen, dass die Adjektive

„propositional“ und „konzeptuell“ nur auf Gehalte eines menschlichen Bewusstseins angewandt werden können. Weder die Realität an sich noch die tierische Wahrnehmung der Welt können mithilfe der Propositionalität beschrieben werden. Die Nonkonzeptualisten würden zudem noch behaupten, dass auch ein relevanter Teil dessen, was von einem Menschen erkannt wird, nicht-propositional ist. Daran zeigt sich allerdings, dass Konzeptualisten und Nonkonzeptualisten die wichtige Unterscheidung zwischen einem begrifflichen bzw.

propositionalen Bereich und einem natürlichen bzw. nicht-propositionalen Bereich teilen.

Kants philosophisches Projekt ist der Versuch, die Grenzen und die Gültigkeit der menschlichen konzeptuellen und propositionalen Erkenntnis zu untersuchen, ohne den nicht-propositionalen Entitäten, aus denen die Welt besteht, eine propositionale Rolle zuzuerkennen.

Darin unterscheidet sich Kants Projekt von anderen philosophischen Projekten, welche den nicht-propositionalen Entitäten in der Welt eine propositionale Rolle zuschreiben.

Ich behaupte, dass, wenn ein Philosoph nicht zumindest diese Vorstellung des kantischen Projektes unterschreibt, er sich keineswegs als Kantianer bezeichnen kann. Dementsprechend

25 Vgl. W. Sellars, Some Remarks on Kant’s Theory of Experience 2007; J. McDowell, Mind and World 1996.

39

wird der, der sich als Kantianer bezeichnet, auch zugeben, dass das ganze Projekt des Kritizismus bestritten wird, wenn es sich zeigt, dass eine solche Erklärung widersprüchlich ist.

Der naheliegende Einwand, der gegen meine Beschreibung des kantischen Projektes erhoben werden könnte, ist, dass sie vielleicht korrekt sein mag, aber sie gleichzeitig völlig undurchsichtig und unterbestimmt ist. Viele termini technici werden gebraucht, ohne vorher definiert zu werden und das Endergebnis ist eine Beschreibung, die sich auf sehr viele Weisen interpretieren lässt. Wenn meine Beschreibung diesen Eindruck erweckt, dann habe ich wahrscheinlich mein Ziel erreicht, eine möglichst inklusive Beschreibung des Kantianismus zu liefern. Denn die Undurchsichtigkeit der Beschreibung und der undefinierte Gebrauch der termini technici haben gerade die Funktion, alle möglichen Interpretationen des Kantianismus einzuschließen.

Meine These in diesem Abschnitt besagt, dass die bloße Formulierung des kantischen Projektes die Gründe des Konzeptualismusstreites enthält. Diese These kann in die folgende Behauptung paraphrasiert werden: Der Versuch eines besseren Verständnisses der vorgeschlagenen Formulierung des kantischen Projekts führt, zumindest einer möglichen und sehr wichtigen Entwicklungsrichtung folgend, zu den zwei Polen des Konzeptualismusstreites.

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als dies zu untersuchen.

Die vorgeschlagene Beschreibung des kritischen Projektes hängt im Grunde von zwei einfacheren Behauptungen ab:

1) In der Welt gibt es nicht-propositionale Entitäten, im Subjekt propositionale Entitäten;

2) Objektive Erkenntnis, welche propositional ist, ist möglich.

Wie lassen sich diese zwei Annahmen in ein systematisches Bild einbetten?

Eine erste Erklärung dieser Theorie besteht in der Annahme der Existenz von Zwischenentitäten, welche einerseits subjektiv und andererseits nicht-propositional sind. Diese Zwischenentitäten, die sich zunächst mit den sinnlichen Anschauungen identifizieren lassen, sind zwar schon nicht mehr die Dinge in der Welt, aber sie sind mit den Dingen in der Welt auf eine Weise verbunden, die propositional – d. h. nicht implikativ – ist. Weil sie nicht-propositional sind, können sie auch nicht falsch sein. Es ist deswegen auch besonders vorteilhaft zu vermuten, dass unsere propositionale Erkenntnis aus diesen Zwischenentitäten entsteht, denn so würden die Vorbedingungen der Objektivität der Erkenntnis ganz gut aussehen. Auf diese Weise wäre die Allgemeingültigkeit der propositionalen Erkenntnis durch die materielle Verbindung zu den nicht-propositionalen Entitäten in der Welt gesichert, die die sinnlichen Anschauungen anbieten. Denn die Dinge in der Welt sind natürlich unabhängig vom Subjekt und die Art und Weise, wie sie aufgenommen werden, ist auch ein Spezifikum des Menschen

40

und folglich nicht bloß subjektiv. Fehler und Unterschiede auf der Ebene der propositionalen Erkenntnis können ja geschehen, aber dafür sind nicht die Anschauungen verantwortlich, denn diese sind infallibel. Vielmehr beruhen die Fehler auf Problemen im Prozess der Entstehung der propositionalen Erkenntnis aus den Anschauungen. Schließlich folgt aus der Hypothese, die Zwischenentitäten bzw. die Anschauungen seien nicht-propositional, dass es einige Bewusstseinsinhalte gibt, nämlich die sinnlichen Anschauungen, die auf propositionale Weise keineswegs verstanden werden können. Das heißt, das Wesentliche an einer Anschauung kann nicht diskursiv erkannt werden.

Die beschriebene Position ist der Nonkonzeptualismus. In dem ersten Abschnitt wurde der Nonkonzeptualismus als eine Partei der zeitgenössischen Kant-Interpretation vorgestellt.

Natürlich ist das der Nonkonzeptualismus auch. Aber der Nonkonzeptualismus ist vor allem die philosophische Position, die ausgehend von den Prämissen des Kantianismus am unmittelbarsten entsteht. Er ist sozusagen das erste theoretische Angebot von jemandem, der Kants Standpunkt einnimmt.

Den Nonkonzeptualisten scheint es völlig unproblematisch, gleich am Anfang einer philosophischen Abhandlung zwischen einer rein perzeptiven Kognition, die als infallibel bestimmt wird, und dem diskursiven Erkenntnisvermögen, das sich hingegen irren kann, zu unterscheiden. Gleichwohl wird die Entstehung der propositionalen Erkenntnis aus der Wahrnehmung einfach postuliert, ohne zu vermuten, dass diese quasi-biologische Redeweise immens problematisch ist.26

Die Konzeptualisten sehen, dass der Vorstellung der Nonkonzeptualisten ein Mythos unterliegt. Die Idee eines infalliblen Substrats aller Erkenntnis, das im Subjekt durch den Zusammenstoß mit der Welt unmittelbar verursacht wird, ist ein fragwürdiger Gedanke. Ebenso fragwürdig ist die Idee, dass die propositionale Erkenntnis aus diesem Substrat entsteht. Diese Gedanken hören sich so lang plausibel an, bis man den Versuch unternimmt, genau zu verstehen, was sie bedeuten.

Was ist eine infallible Vorstellung von einem Gegenstand? Wenn man sich einen Gegenstand vorstellt, dann stellt man sich einen so oder so beschaffenen Gegenstand vor. Dass der Gegenstand so und so beschaffen ist, impliziert die Zuschreibung von Charakteristiken und eine solche Zuschreibung besitzt immer eine propositionale Form. Die Vorstellung eines

26 Meine Terminologie in dieser Passage beruft sich vor allem auf L. Allais, Manifest Reality 2015; Eine ähnliche Begrifflichkeit befindet sich aber auch bei R. Hanna, Kant and the Foundations of Analytic Philoosophy 2001. Die Tatsache, dass meine Rekonstruktion des Nonkonzeptualismus und des Konzeptualismus nur indirekt auf konkrete Perspektiven rekurriert, ist absichtlich. Das Ziel ist hierbei, die von den Nonkonzeptualisten und Konzeptualisten benutzten Begriffe in ihrer höchsten Allgemeinheit zu präsentieren. Demzufolge erhoffe ich mir vom Leser ein gewisses hermeneutisches Wohlwollen.

41

Gegenstandes als die Vorstellung von etwas, das sprachlich durch Nomina oder Nominalausdrücke ausgedrückt wird, kann natürlich so wenig falsch sein, wie das Wort

„Stuhl“ es sein kann. Aber warum sollte die Tatsache, dass die einfachen Vorstellungen von Gegenständen ebenso wie bloße Nomina nicht falsch sein können, eine Garantie der Erkenntnis darstellen? Singuläre Vorstellungen können ja nicht falsch, aber wohl inadäquat sein. Wenn jemand einen Baum sieht und sich einen Stuhl vorstellt, dann ist sicherlich seine Vorstellung nicht falsch, sondern nur inadäquat, aber der daraus entstehende Gedanke, dass sich vor ihm ein Stuhl befindet, wird durchaus falsch sein.

Was bedeutet es, dass die propositionale Erkenntnis aus dem perzeptiven Substrat entsteht?

Wenn ich den Inhalt der perzeptiven Vorstellung als Grund für eine (propositionale) Überzeugung anführen kann, dann muss dieser Inhalt schon propositional sein, denn ansonsten könnte ich meine Überzeugung nicht durch Bezugnahme auf diesen Inhalt begründen. Genau diese Begründungsfunktion will aber die quasi-biologische Redeweise vom Entstehen der Begriffe aus den Anschauungen leisten. Der Konzeptualist macht geltend, dass »nichts als Grund für eine Überzeugung in Frage kommt, was nicht selbst eine Überzeugung ist«27, und wirft dem Nonkonzeptualisten vor, die von ihm vorgeschlagene nicht-propositionale Begründung durch Anschauungen beinhalte eine Rehabilitierung der Argumentationsweise, die Kant der klassischen Metaphysik zugeschrieben hat.28

Ausgehend von dieser Kritik am Nonkonzeptualismus behauptet der Konzeptualist, dass alle Bewusstseinsinhalte propositional sein müssen. Nicht nur unsere Gedanken, Ideen und Theorien, sondern auch unsere Wahrnehmungen und Gefühle können durch Wörter und Propositionen ausgedrückt werden. Daraus folgt nicht, dass uns in vielen Fällen die Wörter nicht fehlen, um diese Inhalte auszudrücken; denn das Verb „können“ impliziert hier nur, dass diese Möglichkeit im Prinzip besteht. Die Entwicklung von Ausdrucksmöglichkeiten mag auch die komplizierte Schöpfung neuer Begriffe und Wörter erfordern. Es mag sogar sein, dass nur ein anderer (vielleicht künftiger oder sogar nie wirklich existierender) Mensch an unserer Stelle die richtige Ausdrucksweise für unsere Gedanken, Gefühle oder Wahrnehmungen findet.

Die verfeinerte Wahrnehmungsbeschreibung des Konzeptualisten lässt dem Nonkonzeptualisten wenig Raum für eine direkte Erwiderung. Selbst wenn der Nonkonzeptualist von seiner Position nicht zurücktritt, muss er ziemlich bald zugestehen, dass

27 Vgl. D. Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge 1989. Die Übersetzung von S. Rödl ist in J.

McDowell, Wie man den Mythos des Gegebenen vermeidet 2015. Obwohl dieser Satz Davidson gehört, spiegelt er auch die Positionen von Sellars und, bis der Veröffentlichung des zitierten Aufsatzes (2008), von McDowell wider; vgl. J. McDowell, Mind and World 1996.

28 Vgl. W. Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind 1997; J. McDowell, Mind and World 1996.

42

sich das Unaussprechliche an der Wahrnehmung durch deren direkte Analyse nicht erkennen lässt.29 Der Nonkonzeptualist verfügt allerdings über ein systematischeres Argument gegen den Konzeptualisten. Er könnte den Konzeptualisten zunächst daran erinnern, dass er an die Nicht-Propositionalität der Gegenstände in der Welt glaubt. Er könnte dann die Tatsache geltend machen, dass das Subjekt der propositionalen Zustände auch eine nicht-propositionale Entität in der Welt ist. Unter dieser Betrachtungsweise sind ferner auch die Zusammenstöße dieses Subjektes mit anderen Dingen in der Welt nicht-propositional. Würde sie konsequent vertreten, würde die Theorie des Konzeptualisten besagen, dass diese physikalischen Zusammenstöße des Subjektes mit den Dingen in der Welt nicht als Begründung für die Überzeugungen des Subjektes gelten können. Vor diesem Hintergrund kann der Nonkonzeptualist dann fragen: Wie lässt sich denn die Möglichkeit der Objektivität, an welche der Konzeptualist ex hypothesi glaubt, garantieren?

Die Antwort auf diese Frage erweist sich als ziemlich kompliziert für die Konzeptualisten.

Verschiedene Wege wurden begangen, deren Schlüssigkeit allerdings alles andere als gesichert ist. Einige haben behauptet, dass die Gesellschaft und die soziale Dimension der Sprache eine hinreichende Grundlage für die Objektivität schaffen.30 Für den Konzeptualisten könnte allerdings die Versuchung entstehen, wieder eine verdächtige Klasse von subjektiven und nicht-propositionalen Zwischenentitäten einzuführen, welche uns berechtigen, Dinge für so und so zu halten, und welche aber anschaulich, aber nicht propositional sind.31 Diese verdächtige

29 Vgl. R. Hanna, Avoiding the Myth of the Myth 2015, S. 32: »it was a big mistake for Non-Conceptualists to have deployed The Fineness of Grain Argument or FoGA against Conceptualism. This is because The FoGA mistakenly sidetracks the debate into a discussion about perceptual experiences involving failures of concept possession, which not only deflects attention away from the real issue about conceptual content – the existence or non-existence of non-conceptual content – towards state Non-Conceptualism, but also is a discussion that the suitably sophisticated Conceptualist can always win, just by pointing out that a mental state that involves a failure of concept-possession might still have content that is conceptual«.

30 Diese Richtung ist schon bei Wilfrid Sellars selbst teilweise vorhanden, vgl. z. B. W. Sellars, Philosophy and the

30 Diese Richtung ist schon bei Wilfrid Sellars selbst teilweise vorhanden, vgl. z. B. W. Sellars, Philosophy and the

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 35-45)