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Verstand, Vernunft und der Sinn des Widerspruches

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 187-198)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

2. Die Wissenschaft der Logik als vorneuzeitliche MetaphysikMetaphysik

2.3 Hegels Auffassung des Widerspruches

2.3.1 Verstand, Vernunft und der Sinn des Widerspruches

Die im vorherigen Paragraphen nach Hegel entwickelte Auffassung der Philosophie versetzt uns in die Lage, die Bedeutung der hegelschen Auffassung des Widerspruches zu untersuchen.

Wie das Problem des Anfangs der Philosophie, das im ersten Paragraphen dieses Kapitels untersucht wurde, und wie die Frage nach der Natur der Dialektik, die im zweiten Paragraphen beantwortet wurde, und größtenteils aufgrund der Verbindung damit ist der Widerspruch ein weiteres klassisches Thema der Hegel-Forschung, obwohl es in den letzten Jahren, dem Bedeutungsverlust des hegelschen Systems folgend, an Anziehungskraft verloren zu haben scheint.140

Die Schwierigkeit der Frage hängt teilweise damit zusammen, dass Hegel nach einer verbreiteten Meinung als ein Gegner – oder vielmehr als der Gegner – des Satzes vom Widerspruch gilt.141 Liest man die Passagen, wo Hegel sich mit dem Widerspruch auseinandersetzt, ist es unmöglich, diese Meinung für unbegründet zu halten. Als eklatantestes Beispiel dafür wird häufig die erste These der hegelschen Habilitationsschrift zitiert, wo Hegel den Widerspruch zur Regel des Wahren und den Nicht-Widerspruch zur Regel des Falschen erklärt.142

Diese Untersuchung ist nicht in der Lage, solche Aussagen vollständig plausibel zu machen.

Es wird deswegen nötig, ein weiteres Mal auf den Unterschied zwischen Sinn und Buchstabe zu rekurrieren. Was begründet werden kann, ist der Sinn der hegelschen Haltung zum Widerspruch, und ich glaube, dass dieser sehr viel davon erklären kann, was Hegel in Bezug auf den Widerspruch behauptet. Nichtsdestoweniger bleibt etwas übrig, wozu z. B. Hegels komplette Zurückweisung des Satzes vom Widerspruch gehört. Dieser Überrest ist der bloße Buchstabe der hegelschen Auffassung des Widerspruches. Er wird sich dementsprechend nicht durch den Wahrheitsinhalt oder den Sinn der hegelschen Philosophie, sondern nur als ein Irrtum erklären lassen. In Bezug auf den Buchstaben wird also die richtige Frage nicht sein, was er bedeute, sondern, warum Hegel ihn behaupte bzw. warum Hegel ausgerechnet diesen Fehler mache. Eine Antwort darauf oder zumindest ein Hinweis auf diese Antwort wird allerdings nur

140 Die zuletzt erschienene monographische Studie zum Thema ist nach meinem Wissen: S.Schick, Contradictio est regula veri. Die Grundsätze des Denkens in der formalen, transzendentalen und spekulativen Logik 2010. Die klassischen Studien zum Widerspruch bei Hegel datieren einige Jahre zurück: vgl. z. B. G. Siewerth, Der Widerspruch im Werk des jüngeren Hegel 1971; M. Wolff, Der Begriff des Widerspruches. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels 1981.

141 Vgl. z. B. G. Siewerth, Der Widerspruch im Werk des jüngeren Hegel 1971, S. 98.

142 »Contradictio est regula veri, non contradictio falsi« (GW 2, 533).

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im letzten Kapitel dieser Untersuchung geliefert, wo auch die anderen Fehler Hegels erklärt werden sollen. Dort wird sich sogar zeigen, dass diese Fehler alle zusammenhängen.

Zum Zweck der Klärung des Sinnes der hegelschen Auffassung vom Widerspruch scheint es mir notwendig, zunächst auf Kants Auffassung vom Widerspruch Bezug zu nehmen.

Sowohl in seiner Logik als auch in der Kritik der reinen Vernunft (AA 9, 49-53; KrV A 150-153; B 190-193) definiert Kant den Satz vom Widerspruch als ein »bloß negatives Kriterium aller Wahrheit«. Die Kohärenz eines Begriffes oder einer Überzeugung, d. h. die Tatsache, dass aus einem Begriff oder aus einer Überzeugung kein Widerspruch ableitbar ist, sei laut Kant noch keine Garantie der Wahrheit dieser Überzeugung, sondern nur eine notwendige Bedingung dafür. Entdecke man hingegen, dass ein Begriff oder eine Überzeugung Widersprüche implizieren, müsse man sie sofort für falsch erklären.

Abschnitt 2.2.2 hat bewiesen, dass Kants Auffassung des Satzes vom Widerspruch in Bezug auf sehr viele Begriffe und Überzeugungen zutreffend ist. Denn bezüglich sehr vieler Überzeugungen und Begriffe hat es sich als unmöglich erwiesen, einen eventuell vorliegenden Fehler zu bemerken und zu berichtigen. Das Beispiel war dort, dass ich die falsche Überzeugung über das Alter meiner Schwester (unter gewissen Umständen) nicht berichtigen kann, es sei denn, ich entdecke irgendeinen Umstand, welcher unmittelbar oder vermittelt meiner falschen Überzeugung widerspricht – z. B., indem ich sie zufällig an ihrem Geburtstag besuche und ihr wirkliches Alter herausfinde. Da aber eine solche Entdeckung nicht von mir abhängt und ich absichtlich nichts tun kann, um sie zu verursachen, könnte es auch sein, dass ich lebenslang eine widerspruchsfreie, aber falsche Überzeugung über das Alter meiner Schwester hätte: nämlich in dem Fall, dass sich kein passender Umstand ereignet. Die Unmöglichkeit der Berichtigung vieler derartiger Überzeugungen ist in Bezug auf Fälle wie den des Beispiels offensichtlich gleichbedeutend der von Kant hervorgehobenen Tatsache, dass der Satz vom Widerspruch kein vollständiges, sondern ein bloß negatives Kriterium der Wahrheit ist.

Kants Behauptung bezieht sich allerdings nicht nur auf solche Fälle, sondern sie beansprucht eine allgemeine Gültigkeit für die Gesamtheit der Überzeugungen und der Begriffe jedes möglichen Menschen. Sie bezieht deswegen die Philosophie mit ein.

Die Situation für einen Wahrheitsliebenden sähe an diesem Punkt nicht so günstig aus. Kant benennt zwar neben dem Satz vom Widerspruch noch den Satz vom zureichenden Grund als geltendes Wahrheitskriterium. Allerdings spricht er diesem ebenfalls nur die negative Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch zu (AA 9, 51). Wenn es aber kein Kriterium gibt, an

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dem ich mich bei der Suche nach der Wahrheit orientieren kann, könnte ich mich dann nicht in allem irren, ohne mir des Irrtums bewusst zu werden?

Bei Kant erfährt man aber zum Glück auch, dass der Satz vom Widerspruch – so, wie der Satz vom Grund – zwar kein echtes Wahrheitskriterium ist, aber dass das daran liegt, dass dieser Satz ein bloß formaler ist. Der Satz vom Widerspruch betrifft daher gar nicht den wichtigsten Teil der Untersuchung über die Wahrheit von Begriffen und Überzeugungen. Diesem Teil der Untersuchung, der – wie Kant ihn sich vorzustellen scheint – im Anschluss an die Überprüfung davon kommt, ob das negative Kriterium der Kohärenz erfüllt ist, kommt die Aufgabe zu, durch materialen Rekurs auf die Erfahrung Begriffen und Überzeugungen die Wahrheit zu- oder abzusprechen. Es ist eher dieser materiale Teil, dem sich ein echter Wahrheitsliebender widmen sollte; denn daran liegt sozusagen die Substanz der Wahrheitszuschreibung.

Kants Unterscheidung zwischen einer formalen und einer materialen Komponente der Wahrheit und der Wahrheitszuschreibung ist die Ursache dafür, dass er die aristotelische Formulierung des Satzes vom Widerspruch kritisiert. Die bekannteste aristotelische Formulierung des Satzes vom Widerspruch lautet:

Dasselbe [kann] demselben und in derselben Beziehung (und dazu mögen noch die anderen näheren Bestimmungen hinzugefügt sein, mit denen wir logischen Einwürfen ausweichen) unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen.143

Kant wendet allerdings Folgendes ein:

Nun muß der Satz des Widerspruchs, als ein bloß logischer Grundsatz, seine Ansprüche gar nicht auf die Zeitverhältnisse einschränken, daher ist eine solche Formel der Absicht desselben ganz zuwider. Der Mißverstand kommt bloß daher: daß man ein Prädicat eines Dinges zuvörderst von dem Begriff desselben absondert, und nachher sein Gegentheil mit dessen Prädicate verknüpft, welches niemals einen Widerspruch mit dem Subjecte, sondern nur mit dessen Prädicate, welches mit jenem synthetisch verbunden worden, abgibt, und zwar nur dann, wenn das erste und zweite Prädicat zu gleicher Zeit gesetzt werden (KrV A 152-153; B 192).

Kant deutet die aristotelische Formulierung durch die Brille seiner Unterscheidung von formaler und materialer Komponente der Wahrheit aus. Ihr zufolge sind zeitliche Bestimmungen Teil der materialen Komponente der Wahrheit. Aber der Satz vom Widerspruch beschreibt eine rein formale Bedingung der Wahrheit. Also ist nach Kants Ansicht

143 Aristoteles, Met. 1005 b 19-22 (Übersetzung von H. Bonitz - kursiv von mir).

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Aristoteles‘ Formulierung dieses Satzes, welche das zeitliche Adverb „zugleich“ enthält, inadäquat.

Das folgende Beispiel sollte verdeutlichen, was Kant bei seiner Kritik an Aristoteles im Sinn hat. „Meine Flasche Wasser ist jetzt im Park“ und „Meine Flasche ist jetzt zu Hause“ sind nach Kant keine widersprüchlichen Sätze oder zumindest hängt ihre Widersprüchlichkeit nicht vom Satz vom Widerspruch ab.144 Denn im Begriff „meine Flasche Wasser“ liegen nicht die Eigenschaften, jetzt im Park bzw. zu Hause zu sein, da diese Eigenschaft zur Materie und nicht zur Form des Begriffes „meine Flasche Wasser“ gehören. Sie sind Eigenschaften, welche ich nur durch die Erfahrung erkennen kann. Die Form des Begriffes „meine Flasche Wasser“, die durch den Satz vom Widerspruch gestaltet wird, könnte allerdings mit beiden Eigenschaften kohärent sein. Dass diese Sätze nicht beide wahr sein können, hängt deswegen nicht (nur) vom Satz vom Widerspruch, sondern auch von einer materialen Untersuchung bzw. von der Erfahrung ab.

Es ist nicht schwer zu zeigen, dass Kant, indem er seine Interpretation des Satzes vom Widerspruch und seine Einteilung der Wahrheit in eine formale und eine materiale Komponente entwickelt, eine Tendenz zur Vollendung bringt, welche in der von Ockham eingeleiteten philosophischen Wende bereits im Kern enthalten ist. In Abschnitt 2.1.3 wurde behauptet, dass Kant am besten als ein besonders systematischer Vertreter der nachockhamschen Tradition interpretiert werden kann – nämlich als jemand, der die verschiedenen widersprüchlichen Tendenzen dieser Tradition mit großer Mühe zu versöhnen versucht. Auch die Unterscheidung einer formalen und einer materialen Komponente der Wahrheit ist nichts anderes als ein ziemlich radikaler Versuch, einerseits die Idee zu retten, dass die Logik nur die menschlichen Begriffe, aber nicht die wirklichen Dinge beschreibt, und andererseits, dass wahre Erkenntnis über die wirklichen Dinge trotzdem möglich ist.

Gerade weil Kants Unterscheidung materialer und formaler Komponente der Wahrheit und die daraus resultierende Interpretation des Satzes vom Widerspruch mit dem allgemeinen Projekt der modernen Philosophie, als deren Gipfel Kants Projekt anzusehen ist, zusammenhängen, so müssen sie auch zusammen mit jenem Projekt untergehen. Diese

144 Das Problem ist dabei, dass Kant natürlich weiterhin verfechten würde, dass diese zwei Sätze widersprüchlich sind, aber an diesem Punkt nicht mehr in der Lage ist, ihre Widersprüchlichkeit vom Satz vom Widerspruch abhängig zu machen; denn ansonsten könnte er die Weglassung der Zeitverhältnisse nicht konsequent vertreten:

Er könnte nichts gegen das „zugleich“ in Aristoteles‘ Formulierung des Satzes einwenden. Für Kant ist es also schwer zu sagen, was für ein Widerspruch der Widerspruch zwischen „Meine Flasche ist jetzt im Park“ und

„Meine Flasche ist jetzt zu Hause“ sein kann, wenn sie keine Instanz des Satzes vom Widerspruch sein soll.

Selbstverständlich sind lediglich Kant und die Kantianer mit dieser Schwierigkeit konfrontiert. Ich dagegen betrachte diese Schwierigkeit als eine Folge von Kants falscher Auffassung des Satzes vom Widerspruch.

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Schlussfolgerung sollte an diesem Punkt und aufgrund der vorangegangenen Teile der Untersuchung keinen weiteren Beweis benötigen.

In diesem Stadium der Untersuchung ist allerdings die Frage interessant, welche Spuren Kants Auffassung des Widerspruches, welche nur die Zuspitzung der Standardansicht der modernen Philosophie darstellt, in Hegels Philosophie hinterlässt. Ich bin der Meinung, dass die Erkenntnisweise, die Hegel im Gegensatz zur philosophischen Erkenntnisweise der Vernunft häufig und polemisch als Verstand bezeichnet, im Wesentlichen nichts anderes ist als die kantische und die kantianisierende Herangehensweise an die Philosophie unter besonderer Berücksichtigung ihres Verständnisses des Widerspruches.

Der zweite Paragraph dieses Kapitels hat gezeigt, dass die Philosophie nach Hegel das allgemeine Wissen gerechter Menschen ist. Die wahre Philosophie bzw. die Wissenschaft kann jedem Menschen allein schon deshalb zugerechnet werden, weil er ein Mensch ist. Die wahre Philosophie muss deswegen etwas sein, wozu jeder in gewissem Sinn in der Lage ist. Ein zurechenbares Wissen ist aber ein solches, das auch lediglich durch das Nachdenken erhältlich ist. Das heißt aber auch, dass die Abwesenheit zurechenbaren Wissens auf Widersprüche im Überzeugungssystem des Subjektes hindeutet, denn ansonsten könnte das Subjekt keinen Hinweis darauf haben, dass es sich auf die Suche nach Wahrheit begeben sollte. Kurzgefasst:

Widerspruchsfreiheit ist das einzige Wahrheitskriterium, das nicht relativ zu den Lebensumständen eines Menschen ist; da die Verpflichtung zur Philosophie und daher deren Möglichkeit in der Definition des Menschen enthalten sind, muss Widerspruchsfreiheit hinreichend für den Erwerb der Philosophie sein.

Die Widerspruchsfreiheit, oder die Kohärenz, stellt das einzig mögliche und das einzig erforderliche Wahrheitskriterium in der Philosophie dar. Zum anspruchsvollen Anschein dieser Aussage kommt natürlich die bescheidenere Überlegung hinzu, dass keiner – selbst der beste Philosoph – genau wissen kann, welche Inhalte die Philosophie umfasst, obwohl ein guter Philosoph sehr wahrscheinlich eine klarere Vorstellung davon hat als alle anderen.

Das Ergebnis des letzten Paragraphen zwingt uns, Kants Verständnis des Satzes vom Widerspruch in einem wichtigen Punkt zu widerlegen. Es bleibt nämlich wahr, dass der Satz vom Widerspruch in sehr vielen Fällen kein Wahrheitskriterium darstellt und dass er in diesen Fällen höchstens als eine Bedingung anzusehen ist, durch deren Erfüllung etwas als etwas Wahres infrage kommt. Aber im Fall der Philosophie leistet der Satz vom Widerspruch viel mehr: Seine korrekte und vollständige Anwendung gilt als Beweis der Wahrheit. Daher kann die wahre Philosophie als das Ergebnis der Aufhebung aller Widersprüche bzw. – unter

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Gebrauch eines allgemeinen Singulars – der Aufhebung des Widerspruches als solches bezeichnet werden.

Die Philosophie als eine durch Reflexion producirte Totalität des Wissens wird ein System, ein organisches Ganzes von Begriffen, dessen höchstes Gesetz nicht der Verstand, sondern die Vernunft ist; jener hat die Entgegengesetzten seines Gesetzten, seine Grenze, Grund und Bedingung richtig aufzuzeigen, aber die Vernunft vereint diese Widersprechenden, setzt beide zugleich und hebt sie auf (GW 2, 35-36).

Wenn Hegel die Wissenschaft als Aufhebung des Widerspruches beschreibt, verbindet er diese Beschreibung häufig mit einer Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft.

Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; ein solches beschränktes Abstractes gilt ihm als für sich bestehend und seyend. (GW 20, 118)

Das Speculative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Uebergehen enthalten ist (GW 20, 120).

Hegel glaubt, dass der Verstand aufgrund seiner Festigkeit und Beschränktheit dem Widerspruch unterliegt. In den Bestimmungen und in den Begriffen des Verstandes lassen sich immer Widersprüche aufzeigen. Diese Widersprüche können von einem Kritiker, von einem Skeptiker ausgenutzt werden, um die Begriffe des Verstandes für ungültig zu erklären. Nur die Vernunft ist imstande, eine Lösung für die vom Skeptiker aufgezeigten Widersprüche zu entdecken. Durch diese Lösung rehabilitiert die Vernunft entweder die Bestimmungen und Begriffe des Verstandes – dann natürlich in einer veränderten Form –, oder sie zeigt, durch welche Bestimmungen oder Begriffen sie sozusagen ersetzt werden müssen.

Eine erste Interpretation des hegelschen Gedankens kann aufgrund der bisher entwickelten Auffassung der Dialektik geliefert werden.

Wir wissen jetzt, dass der dialektische Charakter des Denkens nach Hegel darin besteht, dass das Denken als ein Dialog verstanden werden kann. Das Denken lässt sich immer als ein Versuch beschreiben, Thesen zu entwickeln, die gegen die Kritik eines Skeptikers immun sind.

Daraus folgt, dass sich die Widersprüche, auf die sich die Kritik eines Skeptikers beruft, am Ende des Denkprozesses als nur scheinbar erweisen müssen. Am Ende des Denkprozesses verfügt der Philosoph nämlich nicht nur über widerspruchsfreie Begriffe, sondern er ist auch in Bezug auf sehr viele Einwände – zumindest in Bezug auf die, die in die Philosophie gehören – in der Lage zu beweisen, dass die Widersprüche, die ein Kritiker aufzeigt, nur dem Kritiker als

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Widersprüche erscheinen, in Wirklichkeit aber keine Widersprüche sind. Um Hegels Sprache zu sprechen: Der Philosoph ist in der Lage, die Widersprüche aufzuheben.

In diesem Fall kann ein Beispiel helfen. Um die Sache, die schon kompliziert ist, nicht noch schwieriger zu machen, werde ich mich auf ein schon vorhandenes Ergebnis dieser Untersuchung beziehen und ich werde versuchen zu zeigen, wie man das Erreichen dieses Ergebnis durch Hegels Auffassung vom Widerspruch und von dessen Auflösung bzw.

Aufhebung ausdeuten kann.

Am Ende von Paragraph 2.2 (Abschnitt 2.2.3) wurde die außergewöhnliche These untermauert, dass die Philosophie das allgemeine Wissen gerechter Menschen ist. Diese These hatte sich einerseits im Lichte der vorangegangenen Überlegungen als die einzig mögliche Antwort auf die Frage, was die Philosophie sei, herausgestellt. Andererseits war aber diese These auch der Ausgangspunkt eines neuen dialektischen Schrittes. Denn diese These erweckt bei einem Kritiker und, wenn man aufrichtig denkt, auch bei sich selbst den Verdacht, dass die Philosophie gemäß dieser Definition unbestimmt bleibt: Wenn die Philosophie lediglich als allgemeines Wissen der Gerechten definiert wird, dann ist es nicht schwierig zu zeigen – wie es getan wurde –, dass es unendlich viele Begriffe und Probleme gibt, von denen selbst der beste Philosoph nicht weiß, ob sie der Philosophie zugehören.

Diese Folge der Definition der Philosophie als allgemeines Wissen der Gerechten scheint zunächst im Widerspruch mit der Definition der Philosophie selbst zu liegen. Es scheint, dass diese Definition, wenn sie eine solche Folge hat, sicherlich nicht richtig sein kann. Ein Kritiker könnte deswegen glauben, diese Definition mit der Ableitung dieser Folge aus der Definition endgültig widerlegt zu haben.

Wenn allerdings die betroffene Definition wahr ist und wenn sie ein Teil der Philosophie ist, dann muss sich zeigen lassen, dass sich der Kritiker in seinem letzten Punkt irrt. Und zwar irrt er sich nicht darin, dass die Unbestimmtheit der Inhalte der Philosophie aus der Definition der Philosophie als allgemeines Wissen der Gerechten folgt, sondern darin, dass durch dieses Implikationsverhältnis ein Widerspruch aufgezeigt ist. Er irrt sich also in Bezug auf die Erkennung des Widerspruches. Er sieht einen Widerspruch, wo es keinen gibt. Der Philosoph bzw. der Denkende muss also in der Lage sein, dem Kritiker zu zeigen, dass das, was er als Widerspruch bezeichnet, kein Widerspruch ist.

In unserem Fall fand die Auflösung des Widerspruches dadurch statt, dass darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die Unbestimmtheit der Inhalte der Philosophie nur dann ein Problem ist, wenn man meint, dass diese Inhalte vollständig bestimmt sein müssen. Aber diese Forderung ist ja nicht sinnvoll. Deswegen kann man die Definition der Philosophie als

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allgemeines Wissen der Gerechten beibehalten und zugleich sagen, dass die Inhalte der Philosophie notwendig unbestimmt sind. Darin besteht kein Widerspruch.

Natürlich hätte der Kritiker an diesem Punkt Weiteres einwenden können, indem er aus der notwendigen Unbestimmtheit der Inhalte der Philosophie eine Folgerung gezogen hätte, die er für widersprüchlich hält. Wenn die These der Unbestimmtheit aber richtig und Teil der Philosophie ist, hätte ein Philosoph auch diesen zweiten Widerspruch auflösen müssen, usw.

Außerdem hätte der dialektische Prozess, selbst wenn diese Einwände kein Teil der Philosophie sind, weitergehen können und unter gewissen Umständen auch weitergehen müssen, bis der Philosoph und der Kritiker sich einig gewesen wären. Wie aber Platon einst schrieb, haben schriftliche Werke den wichtigen Nachteil, dass, »wenn du sie fragst, sie [sehr vornehm]

schweigen«.145 Es ist in einer schriftlichen Abhandlung unmöglich, auf konkrete Kritiker einzugehen. Wer schreibt, muss die Auswahl der zu erwähnenden Einwände beschränken.

Demnach ist es tatsächlich sehr häufig der Fall, dass die möglichen Einwände konkreter Kritiker nicht berücksichtigt werden. In der Auswahl von Abschnitt 2.2.3 gab es keinen Platz, um scheinbare Widersprüche zu erwähnen, die aus der These der inhaltlichen Unbestimmtheit der Philosophie folgen könnten.

Abgesehen vom intrinsischen Mangel der Schrift sollte die Metareflexion über den letzten

Abgesehen vom intrinsischen Mangel der Schrift sollte die Metareflexion über den letzten

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