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Philosophie als Vollendung des Menschen

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 163-187)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

2. Die Wissenschaft der Logik als vorneuzeitliche MetaphysikMetaphysik

2.2 lógon didónai: Begründung, Dialektik und Gerechtigkeit .1 Philosophie als begründetes Wissen .1 Philosophie als begründetes Wissen

2.2.3 Philosophie als Vollendung des Menschen

Der vorige Abschnitt hat die Frage nach einer Definition der Philosophie in engerem Sinne aufgeworfen. Während es zunächst in einem breiten Sinne hinreichend wäre zu sagen, dass Philosophie dem Denken, nämlich dem begründeten Meinen, entspricht, erweist sich diese Definition als zu locker, wenn es darum geht, die Philosophie von anderen Formen des Nachdenkens zu unterscheiden. Schließlich hat der vorige Abschnitt die folgende Definition

123 Für Fragen, die mit diesem Problem eng zusammenhängen, vgl. auch Paragraph 2.3 über den Widerspruch.

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geliefert: Philosophie ist dasjenige Denken, dessen Falschheit sich jeder Mensch bewusst werden kann. Allerdings sind wir noch auf der Suche nach einem Verständnis dieser Definition.

Bevor ich mich darauf einlasse, muss ich den Leser warnen: Es wird in diesem Abschnitt so aussehen, als ob diese Suche uns vom Hauptanliegen dieser Untersuchung wegführe. Dieser Schritt hat jedoch zwei Gründe. Der erste ist schon an diesem Punkt ersichtlich. Die Suche nach Begründung in meiner Untersuchung hat mich zu dieser Frage geführt und, wenn ich diese Begründung liefern will, muss ich diese Frage beantworten. Aber man könnte in einer thematisch beschränkten Untersuchung auch manchmal auf die Begründung verzichten und man muss das sogar – implizit oder explizit – manchmal tun. Auch in dieser Untersuchung ist und wird das geschehen. Es ist nichtsdestotrotz wichtig, dass gerade diese Frage beantwortet wird und dass meine Begründung weiter in die besagte Richtung vorrückt. Denn ansonsten würde viel zu viel von Hegels Philosophie und von ihrem ersten Teil – der Logik – unerklärt bleiben. Der zweite Grund für diesen Schritt kann aber nicht jetzt angegeben werden. Er wird aus dem letzten Kapitel sichtbar werden, wenn ich mich mit der Frage beschäftigen werde, warum Hegel sein philosophisches Projekt nicht genau in der Form vertreten hat, die diese Untersuchung aus seinen Werken herauszuarbeiten versucht. Bis dahin muss ich den Leser um Geduld bitten.

Bevor ich mich der Antwort auf diese Frage widme, muss ich darüber hinaus etwas erbitten.

Die folgenden Seiten enthalten viele Thesen, die für einen modernen Leser sicherlich sehr ungewöhnlich sind. Aufgrund ihrer Ungewöhnlichkeit bedürften diese Thesen einer viel ausführlicheren Erörterung als der, die ich hier anführen kann. Ja diese Thesen bedürften einer anderen Untersuchung. Der Grund dafür ist, dass diese Thesen in andere Teile der Philosophie hineingehören als in die Logik bzw. in die Metaphysik. Sie gehören nämlich in die Teile, die bei Hegel Naturphilosophie und Philosophie des Geistes heißen und die in der Antike Physik und praktische Wissenschaft geheißen hätten. Obwohl es einerseits nicht überraschend ist, dass innerhalb einer systematischen Philosophie die vollständige Begründung einer These auf unterschiedliche Teile des Systems verweist, wird der Leser andererseits hoffentlich Verständnis dafür haben, dass eine solche Begründung in dieser Untersuchung nur bis zu einem gewissen Grad durchgeführt werden kann.

Hegel scheint geglaubt zu haben, es gebe eine Fähigkeit, anhand derer sich der Mensch vom Tier unterscheiden lasse und auf der die Denkfähigkeit, die der Mensch im Unterschied zum Tier besitze, beruhe. Diese Fähigkeit sei – so Hegel – die Fähigkeit zur Anerkennung. Gemäß dieser Fähigkeit sei ein Mensch imstande, die Tatsache zu verstehen, dass andere Lebewesen

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ihm intentionale Zustände zuschreiben. Formelhaft ausgedrückt bedeutet das, dass ich als Mensch und im Unterschied zu einem Tier weiß, dass du weißt, dass ich weiß.

Das spezielle Wissen, dass du weißt, dass ich weiß, ermöglicht uns Menschen ein Bewusstsein über die Erwartungen, welche die anderen in uns stecken, und das macht uns verantwortlich oder zurechnungsfähig in Bezug auf diese Erwartungen. „Zurechnungsfähig in Bezug auf die Erwartungen der anderen“ bedeutet aber so viel wie

„zurechnungsfähig“ schlechthin. Das heißt, die Anerkennung macht uns zu den zurechnungsfähigen bzw. verantwortlichen Lebewesen, die wir sind. Der Mensch ist nach Hegel ein zurechnungsfähiges Lebewesen – was im Wesentlichen nichts anderes ausdrückt als die bekannte aristotelische Definition des Menschen als politisches Lebewesen.124 Aufgrund der Zurechnungsfähigkeit hat er auch alle anderen Eigenschaften, die ihn vom Tier unterschieden, wie z. B. und vor allem das Denken.

Häufig drückt Hegel diesen Gedanken aus, indem er sagt, dass der Mensch frei ist. Diese Terminologie scheint zunächst zu suggerieren, dass Hegel an die Existenz eines Vermögens zur Willensfreiheit geglaubt habe.125 Das würde aber ein großes Missverständnis von Hegels Position darstellen und würde uns hindern, das Implikationspotential der hegelschen These korrekt zu erfassen. Demnach muss dagegen kurz argumentiert werden.

Der Begriff eines Vermögens zur Willensfreiheit ist ein Begriff, der ein Geburtsdatum in der Geschichte der Philosophie hat. Er wurde vom Heiligen Augustinus in die Philosophie eingeführt, hauptsächlich als Lösung für das christliche Problem der Ursünde. Nachdem die aristotelische Scholastik – nämlich hauptsächlich in den Personen von Albert dem Großen und Thomas von Aquin – versucht hatten, diesen Begriff ein bisschen an die Seite zu drängen, genoss er großen Erfolg bei Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham: denselben, auf die die heutige Gestalt der Logik, der Metaphysik und der Erkenntnistheorie zurückzuführen ist.126 Der Begriff der Willensfreiheit spielte seitdem eine zentrale Rolle in der Philosophie.

Spinoza versuchte zwar zu zeigen, dass dieser Begriff vollkommen abwegig ist. Aber die politische Macht, welche die Willensfreiheit in der Zwischenzeit erreicht hatte, machte die philosophischen Argumente mundtot. Einem Philosophen steht allerdings nicht viel mehr offen, als gute Argumente anzubieten. Nachdem er dies getan hat, kann er nur noch warten, bis jemand

124 Aristoteles, Politik 1253 a 3.

125 Für eine ausführlichere Kritik dieser These, vgl. mein Vortrag Ist Hegels Anthropologie der Freiheit notwendig nachchristlich? 2020.

126 Vgl. 2.1.3.

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die anspruchsvolle Überzeugungskraft der Argumente gegenüber der einfachen der Gefühle bevorzugt.

Der Begriff der Willensfreiheit besagt, dass die Gesamtheit der Überzeugungen eines Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt und die Gesamtheit der Umstände, in denen er sich zu diesem Zeitpunkt befindet, nicht hinreichend sind, um zu erklären, warum er sich auf eine gewisse Weise verhält.

Wenn z. B. Georg am 12. August ein Eis ist, hat er gewisse Überzeugungen und befindet sich in gewissen Umständen. Er glaubt z. B., dass Eis essbar ist; dass das, was der Eiskiosk vor seinen Augen verkauft, ein Eis ist; dass ein Eis ihn zu diesem Zeitpunkt in eine bessere Laune versetzen würde. Er befindet sich z. B. vor einem Eiskiosk und an dem Ort, wo er ist, ist es sehr heiß. Die Gesamtheit der Überzeugungen und der Umstände eines Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt ist natürlich unzählbar groß. Man könnte meinen (und es ist tatsächlich häufig so), dass es aufgrund dieser Unzählbarkeit so schwierig ist, vorherzusehen, wie sich jemand verhalten wird. Aber der Begriff der Willensfreiheit besagt, es gebe einen weiteren und wichtigeren Grund für diese Unvorhersehbarkeit. Der Mensch besitze ein Vermögen, das es ihm ermögliche, sich sozusagen dem zu entziehen, was ihm die Gesamtheit seiner Überzeugungen zu einem gewissen Zeitpunkt befehle. Dies – darauf gilt es zu insistieren – sei nach dieser Theorie ein echtes Vermögen, welches sozusagen hinter dem Vermögen zum Für-Wahr-Halten (dem Erkenntnisvermögen) angesiedelt sei, und nicht einfach die Möglichkeit, dass die Überzeugungen des Handelnden aufgrund unberücksichtigter Umstände anders umgesetzt werden, als der Handelnde es sich vorgestellt hatte. Dieses Vermögen sei der Wille und der Wille sei frei, da er eine solche Entscheidung treffen könne.

Daher kann der Wille jedes beliebige Objekt wollen und nicht wollen und kann sich von jedem beliebigen Einzelakt zurückhalten. Und das kann ein jeder in sich selbst erfahren: Wenn ihm jemand irgendein Gut anbietet [...], kann er sich hiervon abwenden und keinen Willensakt hierzu hervorbringen.127

Um die Möglichkeit einer Entscheidung zu garantieren, welche unabhängig von der Gesamtheit der Überzeugungen eines Menschen zu einem Zeitpunkt stattfindet, hypothesiert der Begriff der Willensfreiheit ein von dem Erkenntnisvermögen separates Vermögen und nennt es „Wille“.

Zu sagen, dass die Gesamtheit der Überzeugungen einen Menschen zu einer gewissen Handlung zwingt, bedeutet so viel wie, dass die Handlung, zu der ein Mensch von der

127 J. Duns Scotus, Ordinatio, IV d. 49 q. 10 n. 10; die Übersetzung verdankt sich einem Vorlesungsmanuskript meines Professors Matthias Perkams.

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Gesamtheit seiner Überzeugungen gezwungen wird, von ihm notwendig als gut betrachtet wird.

Es mag sein, dass eine Handlung, die ein Mensch als gut betrachtet, nicht gut ist, da er falsche Überzeugungen hat. Aber das betrifft den Begriff eines Vermögens zur Willensfreiheit nur am Rande. In Bezug auf diesen Begriff ist es viel wichtiger hervorzuheben, dass, wenn es ein Vermögen zur Willensfreiheit gibt, dann daraus folgt, dass ein Mensch sich aktiv gegen das, was ihm als gut erscheint, entscheiden kann. Das Phänomen des Sich-aktiv-gegen-das-Gute-Entscheidens nennen die Vertreter der Willensfreiheit „das Böse“.

Das Problem des Begriffes der Willensfreiheit ist nicht schwer zu sehen. Vielleicht sind deswegen einige der wenigen Stellen in Spinozas Ethik, wo er sozusagen seine Geduld verliert, diejenigen, wo er gegen diesen Begriff argumentiert.128

Wenn es ein Vermögen zur Willensfreiheit gibt, dann sind menschliche Handlungen letztendlich unerklärbar. Wir haben gesehen, dass das Böse per definitionem eine unbegründbare und deswegen unerklärbare Handlung bezeichnet. Es sähe daher zunächst so aus, als wären nur böse Handlungen unerklärbar, nämlich diejenigen Handlungen, die vom Willensvermögen durch die Ablehnung dessen, wozu die Überzeugungen eines Menschen ihn verpflichten, hervorgebracht werden. Aber da die Möglichkeit der Ablehnung, wenn es das Willensvermögen gäbe, bei jeder Handlung frei stünde, wäre auch in Bezug auf gute Handlungen unerklärbar, warum sich der Handelnde für das Gute und nicht für das Böse entschieden hat, obwohl er das gekonnt hätte. Es wäre nicht erklärbar, warum sich der Handelnde für das Erklärbare und nicht für das Unerklärbare entschieden hat. Wird ein Vermögen eingeführt, durch das man sich für das Unerklärbare entschließen kann, werden auch diejenigen Entscheidungen unerklärbar, die ohne die Annahme dieses Vermögens erklärbar wären und die Totalität der Entscheidungen ausmachen würden.

Die Annahme, dass menschliche Handlungen unerklärbar sind, ist in jeder Hinsicht inakzeptabel. Sie verstößt gegen den Satz vom Grund, dem zufolge es für alles einen Grund geben muss, und widerspricht demnach der alltäglichen Wahrheit, dass die menschlichen Handlungen erklärbar, wenn auch manchmal schwierig zu erklären, sind. Dies ist das Fundament der gesellschaftlichen Organisation und allgemein der Möglichkeit, sich im Leben zu orientieren. Daher ist es klar, dass der Begriff eines Vermögens zur Willensfreiheit nur in einer widersprüchlichen Weise vertreten werden kann und deswegen falsch sein muss.

Diese höchste Spitze des Phänomens des Willens, der bis zu dieser absoluten Eitelkeit – einem nicht-objectiven, sondern nur seiner selbst gewissen Gutseyn und einer Gewißheit seiner selbst in der Nichtigkeit des Allgemeinen – verflüchtigt ist, sinkt unmittelbar in sich zusammen. Das Böse als die

128 Vgl. B. Spinoza, Ethik, T. 2 LS 48-49 und Anmerkungen.

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innerste Reflexion der Subjectivität in sich gegen das Objective und Allgemeine, das ihr nur Schein ist, ist dasselbe, was die gute Gesinnung des abstrakten Guten, welche der Subjektivität die Bestimmung desselben vorbehält; – das ganz abstrakte Scheinen, das unmittelbare Verkehren und Vernichten seiner selbst. Das Resultat, die Wahrheit dieses Scheinens, ist nach seiner negativen Seite die absolute Nichtigkeit dieses Wollens, das für sich gegen das Gute, wie des Guten, das nur abstrakt seyn soll; nach der affirmativen Seite im Begriffe ist, so in sich zusammenfallend, jenes Scheinen dieselbe einfache Allgemeinheit des Willens, welche das Gute ist (GW 20, 494).

Spinoza nennt das freie Willensvermögen eine Einbildung (figmentum).129 Hegel bezeichnet ihn als (bloßes) Phänomen, also als bloße Erscheinung. Beide sehen ein, dass dieser Begriff enorme Widersprüche beinhaltet, welche anhand des Begriffes des Bösen am ersichtlichsten sind, und dass ihn die Philosophie daher loswerden muss.

Diese Ausschweifung über die Willensfreiheit, die freilich viel zu knapp für die Wichtigkeit des Themas ist, soll die folgende These rechtfertigen: Wenn Hegel über die Freiheit bzw. über die Zurechnungsfähigkeit des Menschen spricht, meint er damit nicht, dass der Mensch ein Vermögen zur Willensfreiheit gemäß der eben dargestellten Auffassung habe. Deswegen darf man nicht denken, dass Hegel die daraus resultierende Trennung zwischen einem praktischen Vermögen des Wollens und einem theoretischen Vermögen des Für-Wahr-Haltens angenommen habe.

Der Begriff der Zurechnungsfähigkeit besagt nur, dass das menschliche Tun im Unterschied zu dem tierischen eine ganze Klasse von Gründen hat bzw. haben kann, welche allen anderen Lebewesen abgesprochen werden muss. Kein anderes Lebewesen kann etwas deswegen tun, weil es weiß, dass ein anderes Lebewesen weiß, dass es weiß. Dass Menschen im Unterschied zu Tieren zurechnungsfähig sind, liegt an einem Unterschied in dem, was sie wissen können.

Man sollte das eben Gesagte noch besser formulieren: Dass Menschen zurechnungsfähig sind, hängt damit zusammen, dass ihr Wissen immer zu einem Denken gemacht werden kann.

Die Argumentation für den Übergang von der ersten zur zweiten Formulierung läuft folgendermaßen. Aus der Tatsache, dass der Mensch zurechnungsfähig ist, folgt, dass der Mensch – in einem Sinn von „können“, der nicht die Willensfreiheit impliziert – immer anders handeln kann, als er tatsächlich handelt. Die richtige(n) Handlungsweise(n) entspricht bzw.

entsprechen lediglich einer bzw. nur wenigen Handlungsmöglichkeiten. Diese richtige Handlungsweise wird als gerecht bezeichnet und ist definitionsgemäß diejenige, die der Handelnde befolgen soll. Gemäß einer aristotelischen Terminologie könnte man sagen, dass der Akt, dessen Möglichkeit die Zurechnungsfähigkeit ist, die Gerechtigkeit ist. Da andererseits

129 Spinoza, Ethik, T. 2 LS 49 (Anmerkung).

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der Akt logisch früher ist als die entsprechende Möglichkeit, ist es klar, dass die Prädikation der Möglichkeit die Prädikation des entsprechenden Akts immer schon impliziert. Dass der Mensch zurechnungsfähig ist, bedeutet also, dass der Mensch immer anders handeln kann und immer gerecht handeln soll. Da der Mensch allerdings dadurch charakterisiert ist, dass er wissen kann, dass andere wissen, dass er weiß, bedeutet die Tatsache, dass der Mensch gerecht handeln soll, so viel wie, dass er die anderen Menschen und Lebewesen in seiner Entscheidung eben auf die korrekte Weise berücksichtigen soll. Was hierbei „auf die korrekte Weise“ bedeutet, kann nicht weiter bestimmt werden, denn das hängt von den endlosen möglichen Überzeugungen des Handelnden und von den endlosen möglichen Umständen der konkreten Handlung ab. Aber selbst eine auf dieser höchsten Abstraktionsebene angesiedelte Handlungstheorie vermag es, einige wichtige Dinge deutlich zu machen.

Die Theorie, die bisher entwickelt wurde, besagt, dass es in die Definition des Menschen gehört, dass der Mensch immer gerecht handeln soll. Die Gerechtigkeit ist die Vollendung dessen, was die Zurechnungsfähigkeit bzw. die Freiheit der Möglichkeit nach ist. Frei zu sein, bedeutet, gerecht sein zu können und gerecht sein zu sollen. Gerecht ist derjenige Mensch, für den ein korrekter Urteilsspruch immer die Unschuld ausspricht. Ungerecht ist im Gegenteil derjenige Mensch, für den ein korrekter Urteilsspruch manchmal die Schuld ausspricht. Aber was besagt der Urteilsspruch, wenn darin dem Ungerechten Verantwortung zugeschrieben wird?

Der Schuldige hatte nicht nur die Möglichkeit, anders zu handeln, denn auch Tiere können anders handeln; er hätte vielmehr anders handeln sollen. Man kann z. B. sagen, dass der Löwe, wenn er die Gazelle früher gesehen hätte, sie hätte fangen können. Die Zuschreibung von Verantwortung kann daher nur bedeuten, dass der Schuldige, wenn er nachgedacht hätte, anders gehandelt hätte. Wenn er versucht hätte, sein Handeln vor möglichen Einwänden zu rechtfertigen, hätte er anders gehandelt.

Die Tatsache, dass der Mensch wissen kann, dass die anderen wissen, dass er weiß, setzt ihn in die Lage, die möglichen Einwände der anderen auf sein Tun zu berücksichtigen. Die möglichen Einwände der anderen zu berücksichtigen, bedeutet – wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben – zu denken. Die Zurechnungsfähigkeit und deswegen die Gerechtigkeit, welche deren Vollendung darstellt, hängen damit zusammen, dass der Mensch denken kann.

Die spezifisch menschliche Fähigkeit, über Handlungen nachzudenken und sich gemäß diesem Nachdenken zu entschließen, nennt Hegel mit einem erklärungsbedürftigen

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Sprachgebrauch den Willen. Somit setzt sich Hegel der christlichen und nachchristlichen Standardauffassung des Willens als des Vermögens zur Willensfreiheit explizit entgegen:

Diejenigen, welche das Denken als ein besonderes, eigenthümliches Vermögen, getrennt vom Willen, als einem gleichfalls eigenthümlichen Vermögen betrachten und weiter gar das als dem Willen, besonders dem guten Willen für nachtheilig halten, zeigen sogleich von vorn herein, daß sie gar nichts von der Natur des Willens verstehen; eine Bemerkung, die über denselben Gegenstand noch öfters zu machen seyn wird (GW 14,1, 32).

Mit „Wille“ meint Hegel nicht das bloße Beabsichtigen, zu dem auch Tiere in der Lage sind und das im gewöhnlichen Sprachgebrauch häufig durch das Verb „wollen“ ausgedrückt wird.

Hegel meint das spezifische Beabsichtigen, das als Ergebnis einer Überlegung verstanden werden kann. Er meint die überlegte Wahl, die Aristoteles in der Nichomachischen Ethik die proaíresis nennt; das Sich-Entschließen, das ein spezifisches Merkmal des Menschen ist, da es eine Art des Denkens ist. Wenn Hegel über den Willen spricht, wie auch in vielen anderen Fällen, von denen einige in diesem Paragraphen untersucht worden sind, versucht er in einer modernen Sprache wie dem Deutschen den Geist des Altgriechischen aufzurufen.130

Statt etwas beschließen, d. h. die Unbestimmtheit, in welcher der eine sowohl als der andere Inhalt zunächst nur ein möglicher ist, aufheben, hat unsre Sprache auch den Ausdruck: sich entschließen, indem die Unbestimmtheit des Willens selbst, als das Neutrale aber unendlich befruchtete, der Urkeim alles Daseins, in sich die Bestimmungen und Zwecke enthält und sie nur aus sich hervorbringt (GW 14,1, 37).

Während das bloße Beabsichtigen, das gewöhnliche Wollen, ein bloßes Für-Wahr-Halten ist und deswegen allen wissensfähigen Lebewesen zukommt, ist der Wille im hegelschen Sinne, das Sich-Entschließen, eine Art des Denkens und kommt daher nur dem Menschen zu.131

Dass der Mensch über seine Handlungen nachdenken und sich entschließen kann, bedeutet nicht, dass er auch immer über alles nachdenken sollte. Manchmal ist es richtig, über etwas nicht nachzudenken. Außerdem sind die Sachen, in Bezug auf die es für einen bestimmten Menschen richtig ist, darüber nachzudenken, häufig unterschieden von den Sachen, in Bezug auf die es für einen anderen Menschen richtig ist, darüber nachzudenken. Wenn ich mich z. B.

130 Aristoteles sagt in der Nichomachischen Ethik (vgl. Nic. Eth. 1111 b 20), dass proaíresis und boúlēsis, wenn auch unterschiedlich, trotzdem verwandt sind. Das Verb bouléuein, das dem Substantiv boúlēsis entspricht, ist etymologisch verwandt mit dem lateinischen Verb velle und mit dem deutschen „wollen“. Das bedeutet natürlich nicht, dass bouléuein und „wollen“ gleichbedeutend sind. Das ist nur eine mögliche Erklärung, warum Hegel den Begriff des Willens benutzt, obwohl er damit nicht genau dasselbe wie der gewöhnliche Sprachgebrauch meint.

131 Auch Spinozas voluntas ist Verstand aber kein Denken (Vgl. Ethik, T. 2, LS 49 (Folgesatz)). Ich glaube, dass

131 Auch Spinozas voluntas ist Verstand aber kein Denken (Vgl. Ethik, T. 2, LS 49 (Folgesatz)). Ich glaube, dass

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