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Logik, Metaphysik, Ontologie

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 123-135)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

2. Die Wissenschaft der Logik als vorneuzeitliche MetaphysikMetaphysik

2.1 Das Ergebnis der Kantkritik: Der Anfang bei der Wahrheit .1 Der Sinn der Phänomenologie des Geistes .1 Der Sinn der Phänomenologie des Geistes

2.1.3 Logik, Metaphysik, Ontologie

Die Erklärung der Idee, dass das Sein der Anfang der Wissenschaft ist, ermöglicht es uns, die wichtige Frage zu untersuchen, ob Hegels Wissenschaft der Logik dem Leser eine Logik, eine Metaphysik oder eine Ontologie anbietet. Diese Frage ist aber zunächst mit der Schwierigkeit behaftet, dass die Begriffe der Logik, der Metaphysik und der Ontologie in der zeitgenössischen Debatte alles andere als klar sind. Viele Interpreten und Philosophen sind trotzdem mutig und wagen den Schritt, etwas als Logik, Metaphysik oder Ontologie zu bezeichnen, ohne wirklich sagen zu können, was diese drei sind. Mir erscheint dieses Verfahren zumindest unvorsichtig. Ich kann nicht verstehen, wie man sich wundern kann, wenn andere Interpreten und Philosophen, die diese Disziplinen anders verstehen, der eigenen Bezeichnungskonvention nicht zustimmen. Der Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Hegels WdL werde ich deswegen einen philosophisch-geschichtlichen Exkurs voranstellen, der das Wesen der Metaphysik, Logik und Ontologie von einem antikantischen oder antimodernen Standpunkt aus klären soll. Nach diesem Exkurs wird sich die Antwort auf die obige Frage nicht mehr als so schwierig herausstellen, wie sie es häufig zu sein scheint.

Die Logik ist die Untersuchung der Gesetze des Denkens. Die Metaphysik hingegen beschäftigt sich mit dem Sein als Sein, d. h. mit den allgemeinsten Bestimmungen des Seienden.

Dies besagt eine alte Lehre, die sich auf Aristoteles zurückführen lässt, obwohl Aristoteles weder den Begriff der Logik noch den der Metaphysik kannte. Diese Lehre ist also viel älter als die Neuzeit. Aber vielleicht würde sie eine interessante Verbindung zur Neuzeit aufweisen, wenn man auf die Antike nicht mehr mit neuzeitlichem Blick zurückschauen würde.

Dass Aristoteles mit den zwei Bezeichnungen – nämlich „Untersuchung der Gesetze des Denkens“ und „Untersuchung des Seins als Sein“ – zwei unterschiedliche Disziplinen meint,

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versichern die Aristoteliker seit Jahrhunderten.82 Währenddessen hat aber keiner erklärt, wie diese Trennung tatsächlich plausibel gemacht werden kann. Denn die Themen, die Aristoteles in seiner Logik behandelt, tauchen in seiner Metaphysik häufig wieder auf. Dabei ist mir alles andere als klar, worin sich die rein logische und die rein metaphysische Perspektive, die sich die Interpreten zugunsten ihrer Behauptung zunutze machen, unterscheiden sollten. Mit dieser Skepsis gegenüber der üblichen Interpretation des Aristoteles soll natürlich nicht gemeint sein, dass Aristoteles selbst nicht versucht habe, die Bereiche der Logik und der Metaphysik zu unterscheiden. Diese Skepsis suggeriert nur, dass die bessere hermeneutische Herangehensweise möglicherweise darin bestünde, die Unklarheit dieser Unterscheidung bei Aristoteles als Anstoß für das Hinterfragen ihrer philosophischen Gültigkeit statt als Dogma zu nehmen. Ein solcher Perspektivenwechsel würde allerdings das Verständnis einbeziehen, dass Philosophie und Interpretation nicht trennbar sind, wovon die Aristoteles-Forschung – wie jede angeblich bloß historische Forschung – sehr weit entfernt ist.

Nach der hellenistischen Zeit, während deren die Frage nach einer Unterscheidung zwischen einer Wissenschaft der Denkprinzipien und einer des Seins als Sein unangesprochen blieb, setzte mit dem Neuplatoniker Porphyrios, aber vielleicht schon früher im Mittelplatonismus, eine Kanonisierung der aristotelischen Logik ein, die über Boëthius und durch das ganze Mittelalter hindurch bis auf Kants Zeit das Verständnis des Logikbegriffs prägte. Ergebnis dieser Kanonisierung war aber zunächst lediglich eine gewisse Klarheit über die Inhalte, die die Logik zu behandeln hatte. Demzufolge wusste jeder, der sich der Philosophie in diesen 1500 Jahren genähert hat, dass z. B. die Definition von „Terminus“, die Prinzipien einer korrekten Definition und die Beschreibung der vielen Arten von Syllogismen zur Logik gehören. Aber zu einer argumentierten Auseinandersetzung mit der Frage, worin sich Logik und Metaphysik unterscheiden, trug diese Kanonisierung wenig bei. Diese Unterscheidung war bis zum Mittelalter eher das Ergebnis einer Schulpraxis als die Konklusion einer Theorie. Aber bis eine solche Theorie unentwickelt blieb, war letztendlich ebenfalls unklar, ob die von der Logik untersuchten Denkprinzipien nur Prinzipien des Denkens sind oder sie dadurch Denkprinzipien

82 Diese Idee geht letztendlich auf die Spätantike zurück: auf Ammonios Hermeiou und seinen Schüler Johannes Philoponos (vgl. Philoponi (olim Ammonii) in Aristotelis Categorias, CAG 13/I, 7.20 ff.). Deren Erfolg war aber seitdem so groß, dass es sich schwierig sagen lässt, wer sich dieser Tradition nicht angeschlossen hat. In neuerer Zeit waren z. B. die in der Aristoteles-Forschung enorm einflussreichen englischen Athenäen Anhänger dieser Tradition. Vgl. J.L. Ackrill, Aristotle. The Philosopher 1996, v. a. Kapitel 6 bis 9 (Oxford); M. Burnyeat, A Map of Metaphysics Zeta 2001, v. a. Kapitel 5 (Cambridge). Michael Frede hat zeitlebens in Anlehnung an Günther Patzig versucht, dieser Tradition entgegenzuwirken, aber ihre interessanten Versuche sind auf eine Schwierigkeiten gestoßen, die eine Kritik an der Unterscheidung zwischen Logik und Metaphysik innerhalb neuzeitlicher Kategorien notwendig beinhalten muss (vgl. M. Frede/ G. Patzig, Aristoteles,Metaphysik´. Text, Übersetzung, Kommentar 1988; M. Frede, Essays in Ancient Philosophy 1987, Aufsätze 3 bis 6).

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sind, dass sie Prinzipien der Realität, des Seins, sind. Erst an der Schwelle der Neuzeit tauchten Theorien über das Wesen der Logik auf, die diese Frage in einer Weise zu beantworten versuchten, die unser neuzeitliches Verständnis der Logik prägte. Nur vor dem Hintergrund dieser Theorien lässt sich erklären, dass es ein Zeitgenosse für befremdlich halten würde, dass ein Denkprinzip wie der Satz vom Widerspruch vielleicht nicht bloß ein Prinzip des Denkens ist, sondern dadurch ein Prinzip des Denkens ist, dass es ein Prinzip der Realität ist. Aristoteles selbst erwähnt in der Tat diesen Satz nicht in seiner Logik, sondern in seiner Metaphysik.83

Eine gewisse neuplatonische und wahrscheinlich schon platonisch-aristotelische Tendenz innerhalb der mittelalterlichen Philosophie ist verantwortlich für die scholastische Lehre, es gebe zumindest vier Prädikate, die allem, was erkannt und in einer wahren Rede genannt werden kann, bloß deswegen zukommen, weil es erkannt und wahrheitsgemäß genannt werden kann. Diese vier Prädikate sind daher die allgemeinsten der möglichen Prädikate und werden deswegen „Transzendentalien“ genannt, da sie allen konkreten Bestimmungen übersteigen oder transzendieren. Aufgrund ihrer Allgemeinheit stellen sie den Gegenstand der Metaphysik, der Wissenschaft der allgemeinsten Bestimmungen des Seienden, dar. Diese vier Prädikate sind

„seiend“ (ens), „wahr“ (verum), „eins“ (unum), „gut“ (bonum).84 Um überhaupt Gegenstand wahrer Rede zu sein, muss etwas seiend, wahr – was im mittelalterlichen Gebrauch vielmehr

„wirklich“ bedeutet –, eins und gut sein. Das letzte Transzendentale, das Gute, beruht auf einer teleologischen und theologischen Auffassung der Realität, die in dieser Untersuchung nicht erklärt und hinterfragt werden kann. Das transzendentale Eine werde ich ebenfalls nicht untersuchen können. Am interessantesten für unsere Zwecke sind aber die ersten zwei Transzendentalien, „seiend“ und „wahr“ bzw. „wirklich“. Denn es wird aufgefallen sein, dass diese Lehre, beschränkt auf diese zwei Prädikate, mit dem Inhalt des vorherigen Abschnittes übereinstimmt. Auch nach Hegel sind „seiend“ und „wirklich“ – wenn diese als Synonyme verstanden werden – nichts anderes als Bezeichnungen der höchsten Gattung. Sie sind das, was über alles Erkennbare wahrheitsgemäß ausgesagt wird, worüber selbst aber nichts ausgesagt werden kann. Schließlich ist anzumerken, dass dieses Verständnis des Seienden die von Aristoteles in den Kategorien dargelegte Lehre genau umkehrt. Denn ihr zufolge ist das Seiende bzw. die Substanz das, worüber alles andere ausgesagt wird, was selbst aber über nichts anderes

83 Vgl. Aristoteles, Met. 1005 a-b.

84 Ich beschränke mich hier auf diese vier, sogenannten einfachen, Transzendentalien. Vgl. K. Bärthlein, Die Transzendentalenlehre der alten Ontologie: die Transzendentalienlehre im Corpus Aristotelicum 1972, S. 7 ff.

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ausgesagt wird Das sind nach den Kategorien die Einzelgegenstände, wie dieser bestimmte Mensch und dieses bestimmte Pferd.85

Die mittelalterliche Lehre der Transzendentalien hatte zwei große Probleme. Das erste war, dass diese Lehre im aristotelischen Kontext der Scholastik mit der aristotelischen Idee der Substanzialität der Einzelgegenstände, der sie so offensichtlich widerspricht, in Einklang gebracht werden musste. Denn dieser Theorie des frühen Aristoteles, die sich in der bekanntesten Schrift der Logik, den Kategorien, befand, durfte freilich nicht direkt widersprochen werden. Das lief allmählich darauf hinaus, dass die Transzendentalienlehre und die Idee der Substanzialität der Gegenstände, welche sich eigentlich widersprechen, als Antworten auf verschiedene Probleme angesehen wurden, sodass der inhaltliche Widerspruch, wenn auch freilich nicht vermieden, zumindest sorgfältig verborgen werden konnte. Die Transzendentalien waren Hauptgegenstand der Wissenschaft des Seienden als seiendes, nämlich der Metaphysik. Die Lehre der Substantialität der Gegenstände hingegen war die Antwort, fast immer nur durch Rekurs auf eine Intuition begründet, auf eine andere Frage: Was gibt es in Wirklichkeit? Die Lehre, die besagt, woraus die Wirklichkeit besteht, und die immer wieder Aristoteles‘ Idee bestätigte, dass die Wirklichkeit aus Gegenständen besteht, war der Vorgänger dessen, was in späteren Zeiten Ontologie genannt wurde. Das Bedürfnis, die Transzendentalienlehre mit der Idee der Substantialität der Gegenstände in Einklang zu bringen, erzeugte langsam den Eindruck, dass die Frage, was das Seiende als seiendes ist, und die, was die Realität ist – gestellt als die Frage, woraus die Realität besteht – auseinandergingen. Damit verwandelte sich die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Metaphysik in die nach dem Verhältnis von Logik, Metaphysik und Ontologie.

Das zweite Problem der mittelalterlichen Transzendentalienlehre war, dass ihr der Platonismus, auf den sie zurückgeht, die Gewohnheit hinterließ, die Transzendentalien als die Namen Gottes auszudeuten. Nun, es wäre an sich kein großes Problem, das Sein oder die Wirklichkeit Gott zu nennen. Spinoza zeigt, dass man das machen kann. Nur auf eines müsste man in diesem Fall verzichten: Man kann sich Gott nicht als etwas vorstellen, das befehlt, sich ärgert, entscheidet, usw. Man könnte nämlich Gott nichts anderes zuschreiben als seine Namen:

das Sein und das Wirkliche. Den Mittelalterlichen stand aber diese Möglichkeit nicht offen.

85 Vgl. Aristoteles, Cat. 1 a-b.

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Denn sie durften in ihrer Philosophie den Lehren der geoffenbarten Religion nicht widersprechen, an die sie und die Institutionen, deren Angehörige sie waren, glaubten.

Zwischen dem Ende des 13. und dem Anfang des 14. Jahrhunderts merkten die Franziskaner Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham,86 dass die Lehre der Transzendentalien, geprägt vom Hellenismus der Dominikaner Albertus Magnus und Thomas von Aquin, eine ernsthafte Gefahr für die christliche Lehre darstellen würde, sollte sie mit philosophischer Konsequenz zu einem Spinozismus ante litteram oder zu einem Platonismus post litteram entwickelt werden. Ockham schlug also vor, die Transzendentalien nicht mehr als höchste Gattungen zu interpretieren. Sie seien – so Ockham – nicht die Allgemeinsten aller Begriffe, letztendlich aber immer noch normale Begriffe, sondern Metabegriffe oder Metaprädikate, deren Funktion darin bestehe, eine Information über die Instanziierung der Begriffe in der Realität zu liefern.87 Ob etwas (wirklich) ist, lässt sich nach Ockhams Theorie nicht im Rahmen des Denkens selbst entscheiden. Dafür muss man sozusagen nach außen gehen und überprüfen, ob das Denken der Realität entspricht.88 Es ist sozusagen das Ergebnis dieses Überprüfens, das durch Verwendung der alten Transzendentalien – vor allem des Prädikats „seiend“ – vermittelt wird.

Die ockhamsche Wende hat interessante Auswirkungen auf unsere Ausgangsfrage, worin sich Logik und Metaphysik unterscheiden, die sich mittlerweile in die Frage verwandelt hat, worin sich Logik, Metaphysik und Ontologie unterscheiden. Ockhams Idee, dass die wichtige Bedeutung von „seiend“ außerhalb der Logik liege, indem es keine Gattung darstelle, ermöglicht es ihm, eine Auffassung der Logik zu entwickeln, welche die Unklarheit der Dominikaner über den Zustand der logischen Prinzipien in einer dezidiert antimetaphysischen Richtung auflöst. Die Prinzipien der Logik sagen uns zwar nach Ockham, wie unser Denken die Realität verarbeitet, aber sie haben zunächst nur auf der Ebene der Intentionen (intentiones) unseres Geistes eine Gültigkeit: Gattungen, Arten, Begriffe usw. sind nur als geistige Inhalte vorhanden.89 In der Realität aber, sagt Ockham im Geist der aristotelischen Kategorien, gibt es

86 Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham sind zwei Denker, deren Einfluss auf die neuzeitliche Philosophie sich antiproportional verhält zum Interesse, das sie in der philosophischen Forschung erwecken.

Wilfrid Sellars, welcher in seinen Werken selten etwas anderes tut, als Ockhams Begriffe in die zeitgenössische Terminologie zu übersetzen, hat deswegen den Ruhm eines der originellsten Philosophen des 20. Jahrhunderts verdient.

87 Vgl. W.v.Ockham, Summa Logicae, I, 38. Ockham erkennt zwar auch noch eine Bedeutung von „seiend“ als höchste Gattung an (»uno modo accipitur hoc nomen „ens“ secundum quod sibi correspondet unus conceptus communis omnibus rebus, praedicabilis de omnibus in quid, illo modo quo transcendens potest in quid praedicari«); diese Bedeutung nimmt er zur Kenntnis als einen Nachlass vorherrschender Schullehren. Doch wesentlich für seine neuartige Theorie ist die andere Bedeutung, der gemäß „seiend“ über die Instanziierung Auskunft gibt.

88 Ebenda III-2, 10.

89 Ebenda I, 15 ff.

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nichts anderes als die Einzelgegenstände. 90 Auf diese Weise verbindet Ockham sein subjektivistisches und antimetaphysisches Verständnis der Logik mit einer Ontologie der Einzelgegenstände. Auf der einen Seite, in der Realität, gibt es die Einzelgegenstände; auf der anderen Seite, im Subjekt, gibt es Regeln für die Verarbeitung der Einzelgegenstände. Aber diese Regeln treffen nicht auf die Gegenstände schlechthin, sondern nur auf unser Bild von den Gegenständen zu. Mit dieser Theorie umreißt Ockham die Konturen des Rahmens der neuzeitlichen Philosophie, innerhalb dessen wir uns noch befinden. Um in die Neuzeit einzutreten, bedarf es nur eines mutigen Vertreters dieses Logikverständnisses, der die kühne Frage stellt, was passieren würde, wenn ein böser Geist bewirken würde, dass unsere geistigen Vorstellungen die Realität systematisch verfehlen.

Ockham ist aber noch kein Neuzeitlicher. Er stellt sich diese Frage gar nicht. Zur Garantie der Entsprechung zwischen Realität und Erkenntnis, die seine Auffassung der Logik implizit in Frage stellt, kann Ockham noch die Metaphysik verwenden, oder vielmehr das, was davon nach der Abtrennung von der Logik und der Ontologie übrig bleibt. Die Metaphysik war – wie dargelegt wurde – nach den Dominikanern Albert und Thomas vorwiegend die Wissenschaft der höchsten Gattungen, der Transzendentalien. Da aber die Transzendentalien die Namen Gottes sind, war sie in diesem Sinn auch die Wissenschaft Gottes. Bei Ockham sind die Transzendentalien zwar nicht mehr die höchsten Gattungen – zumindest nicht in einem relevanten Sinn –, aber sie bleiben sowohl Namen Gottes als auch Gegenstand der Metaphysik.

Die Metaphysik muss also immer noch zeigen, dass Gott etwas Wirkliches ist. Wenn man beweisen kann, dass es einen guten Gott gibt, wie könnte der Verdacht entstehen, dass es einen bösen Geist geben kann?

Aber es ist ziemlich einfach zu zeigen, dass ein Gott, der das Sein ist, ist. Unmöglich hingegen ist zu zeigen, dass ein Gott, der vom Sein unterschieden ist, ist. Die nachockhamsche Metaphysik, die rationale Erkenntnis Gottes zu sein hatte, ohne auf eine spinozistische Weise Gott mit der Realität gleichsetzen zu dürfen, fand sich demnach vor eine widersprüchliche Forderung gestellt. Sie versuchte zwar wiederholt in Anlehnung an Ockham selbst,91 ihren Bereich zu erweitern und sich z. B. kosmologische Überlegungen zum Zweck des Gottesbeweises zunutze zu machen. Aber dieser Aufwand ähnelte dem eines verzweifelten

90 Ebenda I, 42.

91 Vgl. W.v. Ockham, Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis, Q. 132-136.

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Sterbenden, der andere gefährdet, um seinen unausweichlichen Tod zu vermeiden. Eine Metaphysik mit ockhamschen Voraussetzungen war zum Aussterben verurteilt.

Es ist nicht überraschend, dass sich Descartes, der im Kontext des von Ockham massiv beeinflussten Spätthomismus zur Philosophie erzogen wurde, mit dem Problem des genius malignus konfrontiert sah, da die nachockhamsche Metaphysik keine vernünftige Strategie abgeliefert hatte, um das Auftauchen dieses Problems zu verhindern.92 Descartes‘ Vorschlag ist bekanntlich, das Problem der Entsprechung von Erkenntnis und Realität nicht direkt durch einen metaphysischen Gottesbeweis zu lösen, sondern diesen Gottesbeweis selbst von einer subjektiven Überlegung über die Erkenntnis abhängig zu machen. Descartes‘ Strategie, die beim ersten Blick nur eine kleine Abweichung von der metaphysischen darstellt, läuft aber auf ein gänzlich neues Ergebnis hinaus: Die Objektivität der Erkenntnis zu garantieren, ist Descartes zufolge Aufgabe einer Untersuchung über die Erkenntnis, die von der nachockhamschen Metaphysik völlig unterschieden ist. Diese Untersuchung stellt daher die wichtigste und grundlegendste philosophische Disziplin dar und kann der alten Metaphysik den Rang der ersten Philosophie entwenden.

Nach der Veröffentlichung der cartesischen Meditationes de prima philosophia im Jahr 1641 sah das Problem der Unterscheidung zwischen Logik, Metaphysik und Ontologie etwa folgendermaßen aus. Die große Mehrheit der Philosophen hatte – auf implizite oder explizite Weise – zwei gemeinsamen auf Ockham zurückgehende Überzeugungen. Sie dachten einerseits, dass die Logik, die Wissenschaft der Denkprinzipien, nicht die Realität, sondern nur unser Denken betrifft, andererseits, dass die Frage „Was gibt es in der Wirklichkeit?“ sinnvoll formuliert werden kann und die richtige Antwort darauf ist, dass es in der Wirklichkeit nur die Einzelgegenstände gibt. In Bezug auf die Frage, was die grundlegendste philosophische Disziplin – die erste Philosophie – sei, ließen sich allerdings zwei verschiedene Grundtendenzen erkennen. Die Schulphilosophie, die die Tradition des von Ockham beeinflussten Spätthomismus fortsetzte, identifizierte die erste Philosophie mit den Resten der mittelalterlichen Metaphysik und verstand diese daher vor allem in Verbindung mit der Frage nach der Existenz Gottes. Die Cartesianer hingegen, zu denen (außer Spinoza)93 fast all diejenigen zählen, die in den heutigen Literaturen über die neuzeitliche Philosophie auftauchen,

92 Vgl. z. B. die Widmung an die Sorbonne, wo Descartes sagt, »daß die einzige Ursache, weshalb einige Gottlose nicht haben glauben wollen, daß es einen Gott gibt und sich der menschliche Geist vom Körper unterscheidet, darin liegt, daß, wie sie sagen, diese zwei Dinge bislang noch von niemanden haben bewiesen werden können«

(R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, S, 3; Übersetzung von C. Wöhlers).

93 Es kann vielleicht außergewöhnlich klingen, dass ich Spinoza nicht als Cartesianer verstehe, da sein erstes veröffentlichtes Buch den Titel Prinzipen der cartesischen Philosophie trägt. Meine Behauptung lehnt allerdings nicht ab, dass Spinozas Philosophie von den Problemen der cartesischen Philosophie ausgegangen ist. Sie lehnt lediglich ab, dass Spinozas Lösung cartesisch geblieben wäre.

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waren der Ansicht, die erste Philosophie müsse einer Untersuchung der menschlichen Erkenntnis entsprechen, auf der die anderen Teile der Philosophie beruhen müssten. Obwohl diese zwei Tendenzen sich häufig gegenseitig beeinflussten, wie man am Beispiel von Leibniz sehen kann, lässt sich zweifelsohne behaupten, dass zu Kants Zeit die philosophische Landschaft anhand dieser beiden Grundtendenzen charakterisierbar war und dass die erstere bei weitem noch die stärkere Tendenz in den Akademien war.

Wenn die kantische Philosophie einen positiven Beitrag zur Geschichte der Philosophie erbracht hat, besteht dieser darin, dass sie die Grundvoraussetzungen der nachockhamschen Philosophie und deren Verständnis des Verhältnisses zwischen Logik, Metaphysik und Ontologie zu ihren letzten Konsequenzen geführt hat. Kants Projekt geht von einem Verständnis von Logik und Ontologie aus, welches im Wesentlichen mit dem ockhamschen übereinstimmt. Kant glaubt sowohl, dass die Logik sich lediglich mit Denkprinzipien beschäftigt, als auch, dass die Realität aus Gegenständen, aus Dingen besteht. Auf Anregung der empiristischen Tradition macht Kant allerdings darauf aufmerksam, dass es, wenn unser Denken und die Realität heteromorph sind, sinnlos ist, von den wirklichen Dingen anders als von unerkennbaren Dingen an sich zu sprechen. Kant wird hierbei dennoch nicht bewusst, dass es, wenn unser Denken und die Realität heteromorph sind, dann auch sinnlos ist zu sagen, dass die Realität aus Dingen besteht. Allerdings hätte er, wenn er daran gedacht hätte, notwendig

Wenn die kantische Philosophie einen positiven Beitrag zur Geschichte der Philosophie erbracht hat, besteht dieser darin, dass sie die Grundvoraussetzungen der nachockhamschen Philosophie und deren Verständnis des Verhältnisses zwischen Logik, Metaphysik und Ontologie zu ihren letzten Konsequenzen geführt hat. Kants Projekt geht von einem Verständnis von Logik und Ontologie aus, welches im Wesentlichen mit dem ockhamschen übereinstimmt. Kant glaubt sowohl, dass die Logik sich lediglich mit Denkprinzipien beschäftigt, als auch, dass die Realität aus Gegenständen, aus Dingen besteht. Auf Anregung der empiristischen Tradition macht Kant allerdings darauf aufmerksam, dass es, wenn unser Denken und die Realität heteromorph sind, sinnlos ist, von den wirklichen Dingen anders als von unerkennbaren Dingen an sich zu sprechen. Kant wird hierbei dennoch nicht bewusst, dass es, wenn unser Denken und die Realität heteromorph sind, dann auch sinnlos ist zu sagen, dass die Realität aus Dingen besteht. Allerdings hätte er, wenn er daran gedacht hätte, notwendig

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 123-135)