• Keine Ergebnisse gefunden

Das Sein als höchste Gattung

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 116-123)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

2. Die Wissenschaft der Logik als vorneuzeitliche MetaphysikMetaphysik

2.1 Das Ergebnis der Kantkritik: Der Anfang bei der Wahrheit .1 Der Sinn der Phänomenologie des Geistes .1 Der Sinn der Phänomenologie des Geistes

2.1.2 Das Sein als höchste Gattung

Nicht weniger umstritten als die Frage nach der Einleitung in die Philosophie und eng mit ihr verwandt ist in der Hegel-Forschung das Problem des Anfangs der Philosophie. Da der erste Teil der Philosophie, in dem sich der Anfang befindet, nach Hegel der WdL entspricht, betrifft diese Frage direkt diese Untersuchung. Warum fängt die WdL beim Sein an? Was ist dieses Sein und worin unterscheidet es sich von anderen Begriffen? Welche Argumente liefert Hegel für diesen Anfang beim Sein? Diese und andere damit verbundene Fragen müssen wir jetzt beantworten.

Eine bekannte Schwierigkeit bei der Auseinandersetzung mit dem Anfang von Hegels Logik haben viele Interpreten darin gesehen, dass der Begriff eines Anfangs von seiner Natur her eine Unmittelbarkeit zu implizieren scheint. Jeder weiß aber, dass Hegel ein Erzfeind des Begriffes der reinen Unmittelbarkeit gewesen ist, und selbst am Anfang der WdL vergegenwärtigt er seine Kritik.

Hier mag daraus nur diß angeführt werden, daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sey, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält, als die Vermittlung, so daß sich diese beyden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt (GW 21, 54).

Die Idee eines Anfangs der Wissenschaft scheint also darauf hinauszulaufen, dass entweder Hegels Kritik der Unmittelbarkeit zumindest eine Ausnahme gestattet oder der Anfang der Wissenschaft kein reiner Anfang ist. Es haben sich dementsprechend zwei Parteien gebildet.

Die erste, der sich eine Menge von Hegelkritikern in Anlehnung an Schelling angeschlossen hat, behauptet, dass der Anfang der WdL deswegen kein wahrer Anfang sein kann, weil er sehr viele Denkkategorien und Ideen stillschweigend voraussetzt.74 Die zweite Partei, die hingegen

74 Dieser Einwand gegen Hegels Philosophie war schon zu Hegels Lebzeiten sehr verbreitet (Dazu B. Burkhardt, Hegels Wissenschaft der Logik im Spannungsfeld der Kritik 1993) und wurde nach Hegels Tod ausführlich weitergetrieben. Für eine, wenn auch unvollkommene, Liste der Vertreter dieses Einwandes vgl. S. Houlgate: The Beginning of Hegel’s Logic 2006, S. 29 ff. Ich stimme Houlgate allerdings nicht zu, dass Heidegger diese Meinung vertreten hat, denn ich denke, Heidegger zählt zu den wenigen, die den Sinn des Anfangsproblems bei Hegel korrekt verstanden haben. Ich glaube in der Tat, dass Heideggers Hegel-Interpretation in nahezu jedem Punkt in Übereinstimmung mit meiner gebracht werden kann – mit der Ausnahme, dass Hegel bei Heidegger vor allem derjenige ist, der die neuzeitliche Philosophie zur Vollendung gebracht hat (vgl. M. Heidegger, Hegel 1975, und M. Heidegger, Hegels Begriff der Erfahrung 1975), bei mir hingegen derjenige, der auf ihre Überwindung zumindest implizit hingewiesen hat. Aber wenn man versteht, worauf diese Thesen hinauslaufen, ist der Unterschied wirklich gering. Dies zu zeigen, ist aber eine zu aufwändige Aufgabe für diese Untersuchung.

117

die Kohärenz des Anfangsbegriffes bei Hegel verteidigen will, hat sich bemüht zu zeigen, dass die Voraussetzungslosigkeit des Anfangs tatsächlich eine gültige und richtige Behauptung darstellt.75

Ich bin der Ansicht, dass das Vorkommen dieses Dilemmas in einer kantischen bzw.

dualistischen Perspektive gefangen bleibt, von der uns die Überlegungen des ersten Kapitels befreit haben. Ich glaube daher, dass es möglich ist zu behaupten, dass der Anfang der Philosophie sowohl Voraussetzungen – im Sinne argumentativer Prämissen – hat (und deswegen nicht in dem Sinn, den Hegel kritisiert, unmittelbar ist) als auch einen wahren Anfang darstellt. Diese Aussage fällt letztendlich mit dem zusammen, was Hegel im ersten Abschnitt der WdL wiederholt behauptet. Die Mehrheit der Interpreten hat sich genötigt gefühlt, dieser Aussage direkt oder indirekt zu widersprechen. Dies darf man, rein hermeneutisch gesehen, prinzipiell tun und wird selbst in dieser Untersuchung häufig getan. Aber wenn man das tut, verpflichtet man sich zu der Behauptung, dass die Aussage des Autors unhaltbar sei. Daraus folgt, dass die Mehrheit der Interpreten nicht an Hegels Aussage glauben, dass der Anfang der Philosophie vermittelt und doch ein Anfang sei. Dies geschieht, wie ich gleich zeigen werde, weil die Interpreten, zumindest implizit, mit neuzeitlichen Kategorien operieren. Da wir aber gesehen haben, dass Hegel die Unhaltbarkeit dieser Kategorien in seiner Kantkritik bewiesen hat, werde ich auch zeigen, dass eine antikantische Hegel-Interpretation es vermag, Hegels Aussagen über den Anfang der Philosophie endlich ernst zu nehmen.

Wenn Hegel über die Unmöglichkeit der reinen Unmittelbarkeit spricht, meint er etwas Ähnliches wie das, was Wilfried Sellars im folgenden Satz von Empirismus und Philosophie des Geistes ausdrückt:

man [kann] kein Beobachtungswissen irgendeiner Tatsache haben, ohne daß man auch eine Menge anderer Dinge weiß.76

Dies ist Hegels Unmittelbarkeitskritik nur ähnlich, aber nicht gleich. Denn Hegel würde dieser Aussage zweierlei ergänzen. Erstens würde Hegel sagen, dass nicht nur das Wissen von Tatsachen – nämlich das, was wir normalerweise mit dem Verb „wissen“ meinen – notwendigerweise voraussetzungsreich ist. Er würde sagen, dass auch das Erfassen, das Begreifen und das Erkennen diese Struktur aufweisen. Die zwei Verbklassen unterscheiden sich darin, dass nach „wissen“ (fast) immer eine Proposition, aber nach „erfassen“, „begreifen“ oder

„erkennen“ häufig ein Nominalausdruck vorkommt. Und das kann in philosophischer Sprache

75 Das ist die Partei, der sich Houlgate selbst anschließt; vgl. S. Houlgate, The Beginning of Hegel’s Logic 2006, S.

29 ff. Vgl. auch S. Rosen, Hegel’s Science of Logic 2014, S. 69 ff.

76 W. Sellars, Der Empirismus und die Philosophie des Geistes 1999, S. 65.

118

auch so formuliert werden, dass sich „wissen“ nur auf Tatsachen bezieht, während sich

„erfassen“, „begreifen“ und „erkennen“ auch auf Entitäten beziehen. Der Sinn der hegelschen Unmittelbarkeitskritik ist dementsprechend nicht nur, dass man, um zu wissen, dass hier ein Baum ist, auch eine Menge anderer Tatsachen wissen muss, sondern auch, dass man, um den Baum zu erkennen, eine Menge anderer Dinge erkannt haben muss. Zweitens würde Hegel die Einschränkung auf das Beobachtungswissen, die Sellars’ Aussage enthält, auflösen (aber das würde wahrscheinlich auch Sellars selbst in anderen Kontexten tun). Denn es sind nicht nur Beobachtungen, die keine reine Unmittelbarkeit aufweisen, sondern auch andere Arten von Wissen bzw. Erkennen.

Der an sich ziemlich evidenten Tatsache, dass es keine Entität und keine Tatsache gibt, deren Erfassen nicht das Erfassen von anderen Entitäten und Tatsachen impliziert, können dualistische Perspektiven sehr schlecht gerecht werden – wie im ersten Kapitel bei der Auseinandersetzung mit dem Konzeptualismusstreit schon gezeigt wurde. 77 Für eine Perspektive, die vom Heteromorphismus von Realität und Erkennen ausgeht, wäre es sehr vorteilhaft anzunehmen, dass es gewisse Entitäten (oder auch Tatsachen) gibt, die unmittelbar, nämlich ohne dass dafür andere Entitäten (oder Tatsachen) erkannt werden müssen, erkannt werden. Auf diese Weise wäre es sehr einfach zu erklären, warum objektive Erkenntnis trotz ihres formalen Unterschiedes zur Realität möglich ist. Denn alles, was als Erkenntnis gelten kann, ließe sich auf das unmittelbare Wissen zurückführen. Aber leider gibt es dieses unmittelbare Wissen nicht.

Wenn man annähme, dass Hegel ein Philosoph der Neuzeit gewesen sei, dann gäbe es für Hegel ein Problem des Anfangs. Dieses Problem bestünde darin, dass es sich vor dem Hintergrund, dass die Philosophie für Hegel wahres Wissen ist und außerdem begründbar sein muss, unmöglich denken ließe, wo diese Begründung anzufangen hätte. Denn es findet sich laut Hegel kein unmittelbares Wissen. Ein neuzeitlicher Hegel hätte dieses Problem wie auch alle anderen Philosophen der Neuzeit. Wie bei allen Philosophen der Neuzeit wäre schließlich die Kritik möglich, dass das Wissen, das sie an den Anfang gesetzt haben, gar kein Anfang ist, weil es nicht unmittelbar ist. Dieses Problem, auf das Hegel bezüglich vieler kantischer und neuzeitlicher Perspektiven seiner Zeit (vor allem in Bezug auf Reinhold und Fichte) hingewiesen hat, finden die Interpreten bei Hegel. Die erste der oben erwähnten Parteien wendet Hegels Kritik gegen ihn zurück, während die andere Partei versucht, Hegel zu

77 Vgl. 1.1.3.

119

verteidigen, indem sie das Anfangsproblem mit dem neuzeitlichen Instrumentarium zu lösen versucht, was aber niemals gelingen kann.

Aber gibt es noch ein Problem des Anfangs, wenn man annimmt, dass Hegel im Wesentlichen kein Kantianer und somit kein Philosoph der Neuzeit gewesen ist?

Hegel sagt uns häufig, was er unter Philosophie versteht. Gegenstand der Philosophie ist die Wahrheit, d. h. Philosophie ist die Erkenntnis der Wahrheit. In Bezug auf diese Stellungnahme kann man hauptsächlich zwei Fragen stellen. 1) Ist die Erkenntnis der Wahrheit überhaupt möglich? 2) Worin besteht die Wahrheit? Die erste Frage betrifft die Möglichkeit der Philosophie und wird in der Einleitung in die Philosophie positiv beantwortet. Die zweite Frage ist hingegen die, welche die Philosophie selbst zu beantworten hat. Das bedeutet, dass der Anfang der Philosophie einen Anfang in Bezug auf diese Frage darstellen muss, um überhaupt ein gelungener Anfang zu sein.

Das reine Wissen als in diese Einheit zusammengegangen, hat alle Beziehung auf ein Anderes und auf Vermittlung aufgehoben; es ist das Unterschiedslose;

dieses Unterschiedslose hört somit selbst auf, Wissen zu seyn; es ist nur einfache Unmittelbarkeit vorhanden.

Die einfache Unmittelbarkeit ist selbst ein Reflexionsausdruck, und bezieht sich auf den Unterschied von dem Vermittelten. In ihrem wahren Ausdrucke ist daher diese einfache Unmittelbarkeit das reine Seyn. Wie das reine Wissen nichts heißen soll, als das Wissen als solches, ganz abstract, so soll auch reines Seyn nichts heißen, als das Seyn überhaupt: Seyn, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung (21, 55-56).

Diese Passage am Anfang des Abschnittes über den Anfang der Wissenschaft in der WdL beschreibt den Übergang von der ersten zu der zweiten der angesprochenen Fragen. Die Phänomenologie hat bewiesen, dass es das wahre Wissen gibt. Die Wissenschaft fängt also mit der Frage an, was diese Wahrheit sei. Hegel antwortet: Die Wahrheit ist das Sein. Was bedeutet das?

Dass es das wahre Wissen gibt, bedeutet zunächst, dass die folgende Schlussfolgerung immer korrekt ist: S weiß, dass p, also ist p wahr.

Die Tatsache, dass diese Schlussfolgerung immer korrekt ist, beinhaltet, dass das Prädikat

„wahr“ auch folgendermaßen definiert werden kann: „Wahr“ ist das, was gewusst werden kann:

„wahr“ ist das Wissbare. Die einzige Möglichkeit, diese Implikation zu bestreiten, wäre die, die Existenz von Aspekten der Wirklichkeit zu unterstellen, welche nicht Gegenstand eines Wissens und deswegen keinesfalls Gegenstand wahrer bzw. falscher Urteile sein können.

Sofern eine solche Position auch noch an die Objektivität glaubt – was hier angenommen wird –, fällt sie mit dem kantischen Projekt zusammen. Da es sich in diesem Paragraphen darum handelt, eine Interpretation der WdL zu entwickeln und da diese – wie der vorherige Abschnitt

120

bewiesen hat – die Kritik am kantischen Projekt voraussetzt, kann in diesem Kontext die Gleichsetzung des Wahren und des Wissbaren als durchaus berechtigt gelten. Sollte ein Kantianer einwenden, dass diese Gleichsetzung die unerkennbaren Teile der Realität nicht berücksichtigt, kann ich ihn nur, ein wenig entmutigt, auf das erste Kapitel der Abhandlung verweisen. Dabei wäre meine Entmutigung dadurch bedingt, dass in einem gewissen Sinn das ganze erste Kapitel zur Vermeidung dieses Einwands gedient haben müsste. Wenn also der Kantianer diesen Einwand erhebt, heißt das wohl, dass ihn mein erstes Kapitel nicht überzeugt hat. Aber vielleicht sollte nicht ich entmutigt sein. Denn, wenn der nicht überzeugte Kantianer ausgerechnet an diesem Punkt seinen Skeptizismus geltend macht, könnte das vielleicht auch bedeuten, dass er nicht so sehr das erste Kapitel nicht überzeugend gefunden hat, sondern vielmehr die Reichweite seiner Implikationen nicht ganz verstanden hat. Ansonsten müsste er wohl, wenn schon nicht, dass meine Kantkritik schlüssig ist, wenigstens einsehen, dass seine skeptische Wortmeldung hier fehl am Platz ist. Indem wir also den Kantianer auf das erste Kapitel zurückverweisen, können wir doch die Gleichsetzung des Wahren und des Wissbaren als bewiesen nehmen und deren Folgen nach Hegel weiter untersuchen.

Wir haben vorhin gesehen, dass Hegels Gebrauch des Verbs „wissen“ vor dem Hintergrund der nachfregeschen Diskussion und der entsprechenden Betonung des Unterschiedes zwischen Propositionen und Termini etwas idiosynkratisch erscheint. Hegel verwendet „wissen“ in einer Weise, die am besten dadurch zu erklären ist, dass man „wissen“ durch „erkennen“ oder eventuell „erfassen“ oder „begreifen“ ersetzt. Diese Ersetzung dient vor allem dazu zu verstehen, dass nach Hegel nicht nur Tatsachen, sondern auch Entitäten gewusst werden können.

Wenn es so ist, ist dem Ergebnis der Phänomenologie, nämlich dass es das wahre Wissen gibt, eine leicht unterschiedliche Schlussfolgerung zuzuschreiben: S erkennt O, also ist O (vorhanden).

Parallel zur ersten Schlussfolgerung ist es auch in diesem Fall möglich zu sagen, dass das Prädikat des Schlusses ausgehend von der Prämisse charakterisiert werden kann. In diesem Fall kann man entsprechend sagen, dass das, was ist, das Erkennbare ist. Das Sein ist das Erkennbare.

Man könnte hier natürlich sagen, dass „wirklich“ oder „real“ viel passendere Adjektive für das wären, was Hegel beschreiben will. Die Gründe, warum Hegel hier nicht diese Adjektive verwendet, sind verschieden. Einerseits sind in Hegels Logik „Wirklichkeit” und „Realität”

unterschiedliche Kategorien. Andererseits bin ich der Meinung, dass sich bei dieser

121

Entscheidung der Einfluss einer ganzen philosophischen Tradition, die in Spinoza kulminiert, spüren lässt – ein Einfluss, der für meine Interpretation erklärbar ist.78

Es ist jedoch natürlich möglich, Hegels „Sein“ durch andere gleichbedeutende und vielleicht etwas deutlichere Wörter zu ersetzen. Wichtig ist allerdings, dass sie gleichbedeutend sind.

Dafür ist es entscheidend, dass man die Bedeutung von diesem Sein versteht. Dies ist einerseits sehr einfach und andererseits das Schwierigste. Alles entscheidet sich dadurch, ob man die neuzeitlichen Denkstrukturen wirklich loswerden kann. Denn bei denjenigen, die in neuzeitlichen Strukturen denken, werden sich diese immer in das hegelsche Sein einschleichen, wenn sie „Sein“ durch angebliche Synonyme ersetzen. Diese Tendenz des neuzeitlichen Philosophen, die eigenen falschen Denkkategorien in das Denken anderer hineinzulesen, und demnach Fehler zu finden, die sich eigentlich nur den eigenen Denkkategorien verdanken, ist der Grund, warum Hegel auch in terminologischer Hinsicht am Anfang der WdL sehr vorsichtig fortfährt.

Gemäß meiner Interpretation ist das reine Sein am Anfang der WdL nichts anderes als die höchste Gattung. Damit etwas überhaupt erkannt wird, d. h. damit wir überhaupt etwas Wahres über etwas sagen können, muss dieses etwas sein. Es muss in irgendeiner Weise existieren. So verstanden ist „Sein“ das Abstrakteste, das man wahrheitsgemäß von etwas sagen kann. Alle weiteren Bestimmungen fallen in das Sein, sie setzten es voraus. Daraus folgt, dass jeder Versuch, dieses Sein näher zu bestimmen, zum Scheitern verurteilt ist. Dies nicht deswegen, weil das Sein etwas Unaussprechliches oder besonders Geheimnisvolles ist, sondern weil die höchste Gattung nicht anders bestimmbar ist als dadurch, dass sie die höchste Gattung ist, denn sonst wäre sie nicht die höchste Gattung. Diese Abstraktion von allen möglichen Bestimmungen außer denjenigen, die sich aus seiner Definition unmittelbar ergeben, ist der Grund, warum Hegel am Anfang der WdL auf der Unmöglichkeit beharrt, das Sein weiter zu bestimmen.

So muß der Anfang absoluter oder, was hier gleichbedeutend ist, abstracter Anfang seyn; er darf so nichts voraussetzen, muß durch nichts vermittelt seyn, noch einen Grund haben; er soll vielmehr Grund der ganzen Wissenschaft seyn. Er muß daher schlechthin ein Unmittelbares seyn oder vielmehr nur das Unmittelbare selbst (GW 21, 56).

Diese Unmittelbarkeit ist nicht dieselbe, die am Anfang dieses Abschnittes besprochen wurde. Der Anfang soll nicht unmittelbar sein, in dem Sinne, dass dessen Verständnis nicht eine Menge anderer Erkenntnisse implizieren muss. In diesem Sinne lässt sich der Anfang anerkanntermaßen sehr gut bestimmen. Er kann zum Beispiel und hauptsächlich als die

78 Vgl. den nächsten Abschnitt und Abschnitt 2.4.2.

122

Negation dessen, was die Kantianer behaupten, bestimmt werden. Er ist das Ergebnis der Phänomenologie. Unmittelbar ist dagegen das Sein bzw. der Anfang nur in dem Sinne, dass es nicht definiert werden kann, wenn die Definition nach ihrem klassischen Verständnis die höhere Gattung benennen soll. Es gibt keine Gattung, in die das reine Sein fällt, denn es ist die höchste Gattung.

Hegels Vorsicht gegenüber dem Versuch, das reine Sein durch eine klassische Definition zu beschreiben, zeigt, dass Hegel sich bewusst war, wie konkret das Risiko ist, dass dieser Versuch unternommen wird. Tatsächlich ist einer der abwegigsten Ansprüche der neuzeitlichen Philosophie der, dass man die ontologische Frage „Was ist real?” oder „Was existiert?” durch eine Art Definition beantwortet. 79 So lautet eine bekannte Antwort auf diese Frage, dass die Realität die Gesamtheit der Einzelgegenstände ist, während eine andere, vermeintlich entgegengesetzte Antwort besagt, dass »die Welt die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge [ist]«.80 Tatsächlich haben viele Interpreten, die sich zur Lektüre des Anfangs der WdL begeben, vorausgesetzt, dass Hegels Denken im Rahmen einer solchen Ontologie auszudeuten sei,81 und dabei nachgewiesen, dass Hegels Befürchtung völlig begründet war.

Ich bin der Meinung, dass Hegel diese Versuche für widersinnig gehalten hätte. Gegenstände und Tatsachen zusammen mit Begriffen, Theorien, Träumen, dem Willen des Volkes, dem römischen Recht, der Gerechtigkeit usw. sind oder existieren. Dies erhellt daraus und bedeutet lediglich, dass wir über diese Entitäten sehr viel erkennen und wahrheitsgemäß sagen können.

Sicherlich sind z. B. Begriffe, Träume und das römische Recht keine Gegenstände, denn sie haben keine räumliche und zeitliche Ausdehnung. Auch Tatsachen sind keine Gegenstände, denn Gegenstände können nicht wahr oder falsch sein. Zu verstehen, wie sich die verschiedenen Entitäten voneinander unterscheiden, ist Aufgabe der Philosophie. Aber diese Aufgabe vollzieht sich immer als Antwort auf die Frage „Was ist wirklich?“, oder, um der hegelschen Terminologie treu zu bleiben, „Was ist?“. Die Körperlichkeit der Träume, der Begriffe und des römischen Rechts und die Wahrheitsfähigkeit der Gegenstände sind nicht (wirklich).

Die Frage „Was ist wirklich?“ oder, mit Hegel gesagt, „Was ist?“ ist nicht eine besonders interessante Frage der Philosophie unter anderen, sondern sie ist, da alle anderen Fragen Spezifizierungen dieser ersten Frage sind, die einzige Frage der Philosophie. Es sollte jetzt aber klar geworden sein, warum das Sein der Anfang der Philosophie ist. Denn die Philosophie, als

79 Dieser Anspruch ist in der Neuzeit weit verbreitet, aber ist kein spezifisch neuzeitlicher Anspruch. Es ist nicht schwierig zu sehen, dass der Versuch auf Aristoteles zurückgeht. Das Problem wird in 2.4.1 und in 2.4.3 ausführlicher behandelt.

80 L. Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus 1969, Satz 1.1.

81 Vgl. z. B. P. Stekeler-Weithofer, Hegels analytische Philosophie 1992, S. 98 ff. Auch P. Stekeler-Weithofer, Kritik der Erkenntnistheorie. Zur Logik von Gegenstandsbezug und Wahrheit bei Hegel (und Wittgenstein) 2000.

123

wahres Wissen, ist nichts anderes als die Erkenntnis dessen, was ist; des Seins oder des Wirklichen. Da in diesem Sinne jede philosophische Frage eine Frage nach dem Sein darstellt, ist das Sein der Anfang der Philosophie.

Aber dieser Anfang ist ebenfalls vermittelt. Denn es lässt sich argumentieren, warum das Sein und nicht etwas anderes der Anfang sein soll, und diese Argumentation befindet sich – zumindest dem Sinn nach – in der Phänomenologie des Geistes. Anders gesagt, ist es wahr, dass man, um den Begriff „Sein“ zu verstehen, vieles andere wissen muss: Z. B. muss man die Kritik des Dualismus in der Phänomenologie verstanden haben.

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 116-123)