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Die Schlüssigkeit von Hegels Argument

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 60-70)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

1.2 Hegels Metakritik des kantischen Projektes

1.2.2 Die Schlüssigkeit von Hegels Argument

Im vorigen Paragraphen hat sich herausgestellt, dass die minimale Charakterisierung des kantischen Projekts, welche alle teilen, die sich berechtigterweise als Kantianer verstehen, etwa folgendermaßen lautet:

Kants philosophisches Projekt ist der Versuch, die Grenzen und die Gültigkeit der menschlichen konzeptuellen und propositionalen Erkenntnis zu untersuchen, ohne den unaussprechlichen Dingen an sich, aus denen die Welt besteht, eine propositionale Rolle zuzuerkennen. Darin unterscheidet sich Kants Projekt von anderen philosophischen Projekten, welche den Dingen an sich eine propositionale Rolle zuschreiben.

Nun wird die leitende Frage unserer Untersuchung sein, warum Hegel denkt, dass dieses Projekt mit der unmöglichen Forderung eines Erkennens vor dem Erkennen zusammenfällt.

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Beim Hinterfragen und beim Erproben dieser Kritik soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, aus welchem Problem jene Forderung entsteht; denn die Idee, dass Kants Projekt ein Erkennen vor dem Erkennen fordere, ist natürlich nicht das Problem selbst, sondern vielmehr Hegels Feststellung, dass dieses Problem unlösbar ist.

Hegels Pointe rückt in greifbare Nähe, sobald man bei dem Versuch, eine Rechtfertigung des kantischen Unternehmens zu liefern, dessen wissenschaftliche Natur in Betracht zieht.

Kants Kritik der reinen Vernunft und im Allgemeinen die kritische Philosophie sind Versuche, etwas zu untersuchen, das heißt, sie sind Erkenntnisversuche. Wenn der von der KrV unternommene Versuch erfolgreich ist, dann stellt der Inhalt dieses Buches eine Erkenntnis oder eine Wahrheit dar. Wie oben dargelegt, finden allerdings Begriffe wie „Erkenntnis“ und

„Wahrheit“ innerhalb eines kantischen Horizonts häufig problematische Anwendung. Was bedeutet es genau, dass die KrV einen Wahrheitsanspruch erhebt? Ist dieser Wahrheitsanspruch ähnlich wie der, den unsere sonstigen intentionalen Zustände erheben, oder ist er anderer Art?

Aus der bloßen Formulierung des kantischen Projektes geht hervor, dass die von der KrV untersuchte Erkenntnis keine Bezugnahme auf die Dinge an sich impliziert, und gerade dadurch unterscheidet sich dieses Projekt von der alten Metaphysik. Aber bezieht sich die Erkenntnis, die mit der KrV identisch ist, auf Dinge an sich? Um die Sache noch deutlicher zu formulieren:

Ist das, was wir durch die Lektüre der KrV über den menschlichen Geist lernen, wirklich das Ansich unseres Geistes oder nicht?

Ein Hinweis auf die Schwierigkeit dieser Frage besteht zunächst darin, dass sie von Kant nie explizit angesprochen wird. Das Programm des Kritizismus scheint die Möglichkeit einer Untersuchung über die Erkenntnis vorauszusetzen, ohne sie zu hinterfragen. Das ist auch der Grund, warum Hegel den Anschein der Plausibilität dieses Programms der Gedankenlosigkeit des Menschenverstandes zuschreibt. Es ist, als ob Kant auf einen für ihn interessanten Gedanken gestoßen wäre und versucht hätte, eine philosophische Lehre darauf zu bauen, ohne zu merken, dass der Grundgedanke einen sehr grundlegenden Widerspruch enthält, der bei einer etwas näheren Untersuchung ans Licht gekommen wäre.

Welcher angehende Philosoph hat noch nie an einer Diskussion teilgenommen, wo aufgrund der Schwierigkeit, unter den verschiedenen Meinungen eine zu finden, die alle Teilnehmer überzeugte, der Gedanke aufgetaucht ist, dass es vielleicht gar keine wahre Meinung gibt? Wer einen solchen Gedanken präsentiert, stellt sich, ähnlich wie man in Hegels Beschreibung des kantischen Projekts in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie nachlesen kann, wohlhäufig als jemand vor, der »einen Fund« gemacht hat. Der improvisierte Skeptiker merkt nur nicht, dass seine Lösung einen Widerspruch enthält, der bei näherer philosophischer

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Untersuchung ans Licht kommt: Die Behauptung, es gebe keine Wahrheit, beansprucht, eine Wahrheit zu sein.

Hegels Behauptung ist nun, dass der Kantianer sich ähnlich wie der improvisierte Skeptiker verhält.46 Unserer Untersuchung ist allerdings an diesem Punkt noch nicht erlaubt, Hegels Vorwurf an Kant für begründet zu halten. Es ist hier noch zu untersuchen, ob Kants methodologische Gedankenlosigkeit ähnlich der des improvisierten Skeptikers ist und zu einem unlösbaren Widerspruch führt. Vielleicht ist Kants unreflektierte Idee einer Untersuchung über die Erkenntnis letztendlich gerechtfertigt, weil diese Idee möglicherweise doch keine unauflösbaren Probleme beinhaltet. Außerdem sind die Kantianer, gegen welche Hegels Argumente auch Anwendung finden, nicht gezwungen, Kants Gedankenlosigkeit zuzustimmen.

Man darf Kants philosophisches Projekt wohl verteidigen, wenn man zugibt, dass Kant mehr über dessen methodische Rechtfertigung hätte sagen sollen. Weil allerdings beide Positionen – die simplifizierende, welche Kants Schweigen über diese Frage für begründet hält, und die mildere, welche diese Frage als erklärungsbedürftig, aber nicht als gefährlich anerkennt – letztlich auf der Harmlosigkeit dieses Problems für Kants Projekt beharren, bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Stellungnahme zu überprüfen.

Die Frage, aus der Hegels Kantkritik entsteht, wurde eben folgendermaßen formuliert: Ist das, was wir durch die Lektüre der KrV über den menschlichen Geist lernen, wirklich das Ansich unseres Geistes oder nicht? Zunächst gibt es natürlich nur zwei mögliche Antworten auf diese Frage.

1. Nehme man zunächst an, die kritische oder transzendentale Untersuchung der KrV bezöge sich nicht auf die Dinge an sich. Diese Ansicht bietet sich anfänglich als die einfachste an, da sie die unpraktische Vervielfältigung der Erkenntnisweisen vermeidet, was alle anderen Alternativen erzwingen. Dieser Ansicht nach sollten die in der KrV enthaltenen Theorien nicht als Beschreibung unseres Erkenntnisvermögens, wie es an sich ist, verstanden werden, denn dazu haben wir gemäß dem kantischen Agnostizismus bezüglich der Dinge an sich keinen

46 Dass Hegel in Kants Philosophie eine Parallele zum Skeptizismus (zumindest einer gewissen Art des Skeptizismus) sieht, ist eine These, die ich nicht stark machen will. Für meine Zwecke reicht es hier, die Ähnlichkeit zwischen der Naivität, die Hegel Kant zuschreibt, und der des improvisierten Skeptikers, sozusagen unabhängig von Hegel, zu betonen. Hegels Auseinandersetzungen mit Kant weisen allerdings häufig darauf hin, dass Hegel an eine solche Parallele tatsächlich gedacht hat. Hegel schreibt z. B. in den Vorlesungen: »Die Kantische Philosophie ist theoretisch die methodisch gemachte Aufklärung, nämlich, daß nichts Wahres, sondern nur die Erscheinung gewusst werden könne« (GdPh 20, 333). In Hegels Auseinandersetzung mit Schulze in seinem Skeptizismusaufsatz ist es außerdem nicht schwierig zu sehen, dass gewisse Kritiken an dem Skeptiker Schulze auch für Kants Philosophie gelten würden. Tatsächlich schreibt Hegel ziemlich explizit: »Dieser Skepticismus [von Schulze] hat zu seinem Spiel vollends nur Einen einzigen Gang und nur Eine Wendung, und auch diese ist ihm nicht eigen, sondern er hat sie vom Kantianismus hergeholt« (GW 4, 224).

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Zugang, sondern als Beschreibung unseres Erkenntnisvermögens, wie es uns erscheint (um Kants Terminologie zu verwenden).

Das Hauptproblem, mit dem dieser Vorschlag konfrontiert ist, hat Hegel in einer sehr schwierigen Passage seines Aufsatzes Glauben und Wissen angesprochen.

Man sieht, daß es um der beliebten Menschheit und ihres Erkenntnißvermögens willen geschieht, daß Kant seinen Gedanken, daß jene [seine Gedanken] vielleicht an sich nicht so ungleichartig, sondern [es] nur in der Erscheinung seyen, sowenig ehrt, und diesen Gedanken für den bloßen Einfall eines Vielleichts und nicht für einen vernünftigen hält (GW 4, 333).

Hegel suggeriert, dass, wenn die Grundthese der KrV und des kritischen Projektes, nämlich dass die menschliche Erkenntnis keinen Zugang zu den Dingen an sich habe, selbst nicht das Ansich unseres Erkenntnisvermögens betrifft, es dann sein kann, dass der Mensch in der Tat zur Erkenntnis der Dinge an sich fähig ist. Vielleicht haben wir keinen Zugang zu den Dingen an sich, vielleicht aber doch, denn was wir darüber sagen können, beschreibt nicht die wesentliche Natur dieses Zugangs. Es gibt keinen Grund, warum Kant sich für die pessimistische Variante entscheidet und darauf seine ganze Philosophie baut; auf etwas, das wir seiner Grundidee gemäß eigentlich gar nicht erkennen können.

Kant und der Kantianer dürfen offensichtlich diese Schlussfolgerung nicht zulassen, weil sie eine zerstörerische Auswirkung auf das ganze kritische Projekt hätte. Sie würden einwenden, dass Hegels Ausdeutung des kantischen Agnostizismus über die Dinge an sich allzu kritisch sei.

Die Aussage, dass wir die Dinge an sich nicht erkennen können, ist nicht dasselbe wie die These, dass wir sie uns auch anders vorstellen könnten. Hegels Rede von einem „vielleicht“ als eine der möglichen Seinsweise des Ansichs (in diesem Fall des Erkenntnisvermögens) legt nahe, dass Kants Theorie aus einer willkürlichen Entscheidung entsteht, welche auch anders hätte ausfallen können. Nichtsdestoweniger sei diese Idee – so der Kantianer – ein volles Missverständnis. Denn so, wie es nicht willkürlich, sondern sogar objektiv ist, dass unser Erkenntnisvermögen sich in gewissen Umständen z. B. einen Baum vorstellt, obwohl es keinen Zugriff zu dem zugrundeliegenden Ding an sich hat, ist es nicht willkürlich, sich das Erkenntnisvermögen gemäß den Vorschlägen der KrV vorzustellen. Objektivität und Agnostizismus über das Ansich sind, wie Kant andauernd geltend macht, nicht widersprüchlich.

Dieser Verteidigung des Kantianismus lässt sich Folgendes erwidern. Dass sich Objektivität und Agnostizismus über das Ansich nicht widersprechen, ist freilich eine Hauptthese Kants.

Um sie zu beweisen, schlägt Kant vor, eine Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens zu unternehmen. Diese Untersuchung und das, was dabei behauptet wird, ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Vorschlags. Der Verzicht auf die Idee der Entsprechung

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zwischen Ansich und geistigen Vorstellungen zwingt Kant dazu, die Objektivität dieser Vorstellungen, welche aus dieser Entsprechung unmittelbar folgen würde, auf andere Weise zu garantieren, nämlich durch die Untersuchung des Erkenntnisvermögens. Dass Objektivität und Agnostizismus über die Dinge an sich nicht widersprüchlich sind und dass demzufolge auch die Objektivität der KrV und der Agnostizismus über die wahre Natur des Erkenntnisvermögens nicht widersprüchlich sind, diese Behauptungen mögen also in Kants Intentionen wahr sein. Aber welche Rechtfertigung besteht dafür?

Wenn nun die Objektivität der Untersuchung über das Erkenntnisvermögen (also der Kritik der reinen Vernunft) von dem Für-Wahr-Halten des Ergebnisses abhängt, das durch sie zu beweisen war, dann beruht Kants Projekt auf einem Zirkelschluss (A). Wenn behauptet wird, dass die Objektivität der Untersuchung über das Erkenntnisvermögen, welche ex hypothesi kein Wissen über das Ansich des Erkenntnisvermögens enthält, wiederum zu untersuchen ist, genauso wie die Objektivität der Erkenntnis durch eine Untersuchung des Erkenntnisvermögen zu untersuchen war, dann beruht die Glaubwürdigkeit des kantischen Projekt auf einer Untersuchung über die Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens, nämlich auf einer hypothetischen Kritik der Kritik der reinen Vernunft. Die Glaubwürdigkeit dieser Kritik der Kritik der reinen Vernunft ließe sich allerdings ebenfalls hinterfragen. Der Antwortversuch auf diese Fragen sähe ganz ähnlich aus wie der, der hinsichtlich der Kritik der reinen Vernunft stattfindet, und führte demgemäß zu der Annahme einer Kritik der Kritik der Kritik der reinen Vernunft, welche die Objektivität der Kritik der Kritik der reinen Vernunft untersuchen soll. Es ist leicht zu sehen, dass dieser Versuch, die Objektivität der KrV zu gewährleisten, sehr schnell auf einen unendlichen Regress hinausläuft (B). Wenn schließlich die Rechtfertigung der KrV und daher des ganzen kantischen Projektes auf einer Art Selbstevidenz sowohl der These der Heterogenität (in Hegels Ausdrucksweise »Ungleichartigkeit«) zwischen Ansich und geistigen Vorstellungen als auch der These der Objektivität und der intersubjektiven Gültigkeit der letzteren beruht, dann wäre die Richtigkeit der wichtigsten Ergebnisse der KrV einfach nur eine Annahme. Das Buch Kritik der reinen Vernunft hätte dementsprechend auch keinen anderen Wert als den, eine Entfaltung einer postulierten Lehre anzubieten, die der Leser aus unerfindlichen oder zumindest nicht philosophischen Gründen akzeptieren sollte. An diesem Punkt wäre es aber schwierig, sich Hegels Vorwurf entgegenzusetzen; denn Kants Theorie wäre nichts anderes als eine willkürliche Entscheidung (C).47

47 Die eingeklammerten Buchstaben – A, B und C – weisen darauf hin, dass sich meine Argumentation hier wie eine klassische skeptische Widerlegung entwickelt, nämlich durch den vereinten Gebrauch der Trope des Zirkelschlusses, des unendlichen Regresses und der unbegründeten Annahme (jeweils der fünfte, der zweite und der vierte der späteren Tropen von Agrippa) entwickelt. Diese komplexe Art der reductio ad absurdum wird von

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Der Versuch, die von Hegels Vorwurf angesprochene Schwierigkeit durch die Angleichung des in die KrV resultierenden transzendentalen Wissens an das von der KrV analysierte Wissen auszuschalten, führt in die eben beschriebene Sackgasse. Daher legt sich der alternative Vorschlag nahe, die Konsequenzen einer Absonderung des transzendentalen von dem gewöhnlichen Wissen zu untersuchen.

2. Der erste Schritt dieses Versuches besteht natürlich in der Behauptung, dass das transzendentale Wissen nicht formal analog zum gewöhnlichen Wissen ist. Während der Großteil unserer Erkenntnis keine Darstellung des Ansichs der Dinge liefert, kommt dem transzendentalen Wissen ein direkteres Verhältnis zu den Dingen an sich zu. Was die Kritik der reinen Vernunft erzählt, ist nicht bloß, wie unser Erkenntnisvermögen erscheint, sondern wie es tatsächlich ist. Daraus folgt, dass die Glaubwürdigkeit der Kritik anders als die des gewöhnlichen Wissens nicht aus einer reflexiven Untersuchung kommt, sondern vielmehr aus einem gewissermaßen direkteren Erkenntniszugang zu dem, wovon sie spricht.

Es soll hier daran erinnert werden, dass der Grundunterschied zwischen dem menschlichen Wissen (oder zumindest dem Teil des menschlichen Wissens, welcher aufgrund seiner Intersubjektivität das Objekt der KrV ausmacht) und den Dingen an sich ist es, dass das erstere propositional, die letzteren nicht-propositional sind. Die minimale Definition von

„propositional“, die im vorigen Paragraphen entwickelt wurde, ist die folgende:

„Propositional“ ist das, was durch Propositionen oder Elemente von Propositionen (einzelne Wörter) ausgedrückt werden kann.

Vor diesem Hintergrund gibt es zwei Weisen, in denen man behaupten kann, dass das transzendentale Wissen einen Zugang zum Ansich seines Objektes (des Erkenntnisvermögens) hat. Entweder man behauptet, dass das Objekt der Kritik der reinen Vernunft, anders als die normalen Erkenntnisobjekte, propositional und deswegen sozusagen homogen mit dem

Sextus Empiricus ausführlich diskutiert und verwendet (vgl. Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, I 164-177). Obwohl Hegel eine solche Strategie nie direkt gegen Kant anwendet, befindet sich in dem Skeptizismusaufsatz eine ähnliche reductio ad absurdum der kantischen Position von Gottlob Schulze, wo sich sogar eine Bezugnahme auf die skeptischen Tropen, die in der Schrift ausführlich betrachtet werden, vermuten lässt. »[K]ein Vernünftiger wird in dem Besitze der Vorstellung von Etwas dieses Etwas zugleich selbst zu besitzen wähnen. Es äußert sich nirgends, daß dieser Skepticismus so consequent wäre, zu zeigen, daß auch kein Vernünftiger sich im Besitz einer Vorstellung von Etwas wähnen werde; indem ja die Vorstellung auch ein Etwas ist, kann der Vernünftige nur die Vorstellung der Vorstellung, nicht die Vorstellung selbst, und wieder auch nicht die Vorstellung der Vorstellung, da diese Vorstellung der zweyten Potenz auch ein Etwas ist, sondern nur die Vorstellung der Vorstellung der Vorstellung u.s. fort ins Unendliche zu besitzen wähnen; oder da die Sache einmal so vorgestellt wird, daß es zwei verschiedene Taschen gäbe, davon eine die Etwas, welche Vorstellungen, die andere die Etwas, welche Dinge [sind], enthalte, so sieht man nicht, warum jene die volle, diese die ewig leere bleiben solle. Der Grund, daß jene voll ist, daß wir diese aber nur voll wähnen, könnte kein anderer sein, als daß jene das Hemd, diese der Rock des Subjects wäre, die Vorstellungentasche ihm näher, die Sachentasche aber entfernter liege; allein so würde der Beweis durch ein Voraussetzen dessen geführt, was bewiesen werden sollte, denn die Frage geht ja eben um den Vorzug der Realität des subjectiven und des objectiven« (GW 4, 225).

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Erkenntnisvermögen ist, das es erkennen soll (2A); oder man nimmt an, dass das Objekt der Kritik der reinen Vernunft einer besonderen Klasse von Entitäten angehört, welche propositional sind und durch ein intuitives und vermeintlich propositionales bzw. nicht-begriffliches Wissen erkannt werden können (2B).

2A. Der erste Vorschlag erscheint zunächst sehr plausibel, denn er stützt sich anscheinend lediglich auf die Unterscheidung zwischen propositionalen und nicht-propositionalen Entitäten, welche das kantische Projekt charakterisiert, ohne dass aus dieser Unterscheidung widersprüchliche Konsequenzen folgen. Ein Teil oder alle menschlichen geistigen Zustände und ausdrücklich die Erkenntnis oder ein Teil davon sind propositional. Die menschliche Erkenntnis über diese propositionale menschliche Erkenntnis ist auch propositional. Das heißt, Objekt und Subjekt des transzendentalen Wissens (der KrV) stehen in einem unterschiedlichen Verhältnis als Objekt und Subjekt des gewöhnlichen Wissens, da beim letzteren nur das Subjekt, das Erkennende, propositional ist, während das Objekt, das zu Erkennende, nicht-propositional ist. Also ist die Kritik der reinen Vernunft aufgrund dieser formalen Homologie in der Lage, direkte Erkenntnis über das menschliche (propositionale) Erkenntnisvermögen anzubieten.

Meine These ist, dass diese Argumentationslinie auf einem grundlegenden Fehlschluss fußt.

Nehme man an, jemand sei in Pisa und besichtige den schiefen Turm im Rahmen einer Stadtführung. Er lernt dabei, dass der Turm 57 Meter hoch ist.

In Bezug auf den schiefen Turm von Pisa muss der Kantianer seinem Projekt zufolge und der einzig schlüssigen Definition von „propositional“ entsprechend behaupten:

1) Der schiefe Turm von Pisa, das Ding in der Welt, ist nicht propositional.

Der Kantianer muss darüber hinaus die folgenden Thesen vertreten:

2) Die Proposition oder der Gedanke „der schiefe Turm von Pisa ist 57 Meter hoch“ ist propositional.

3) Der Ausdruck „der schiefe Turm von Pisa“ ist propositional, da sie – wie die Definition von „propositional“, die sich uns aufgezwungen hat, vorschreibt – durch ein Element einer Proposition ausdrückbar ist.

Wende man sich den folgenden Entitäten zu:

A) Die Proposition oder der Gedanke „die Proposition oder der Gedanke „der schiefe Turm von Pisa ist 57 Meter hoch“ ist propositional“;

B) Die Proposition oder der Gedanke „der Ausdruck „der schiefe Turm von Pisa“ ist propositional“.

Der Kantianer behauptet, wenn er auf die oben angesprochene Weise argumentiert, dass A) und B) in demselben Sinn propositional sind wie der Ausdruck „der schiefe Turm von Pisa“ und

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die Proposition „der schiefe Turm von Pisa ist 57 Meter hoch“. Diese Gleichsetzung beruht darauf, dass sowohl der Ausdruck „der schiefe Turm von Pisa“ und die Proposition „der schiefe Turm von Pisa ist 57 Meter hoch“ als auch A) und B) offensichtlich durch Propositionen oder Elemente von Propositionen ausgedrückt werden können, denn sie wurden eben durch Propositionen oder Elemente von Propositionen ausgedrückt.

Die Verwirrung, die dieser Ansicht zugrunde liegt, wird aber ersichtlich, wenn gefragt wird:

Warum sollte dann nicht auch der schiefe Turm von Pisa propositional sein, da er ebenfalls durch ein Element von einer Proposition eben ausgedrückt wurde, nämlich durch den Ausdruck

„der schiefe Turm von Pisa“? Das Problem der obigen Argumentationslinie lässt sich auf den ambigen Gebrauch des Adjektivs „propositional“ zurückführen, der im vorigen Paragraphen besprochen wurde. Wenn „propositional“ bloß die sprachliche Ausdrückbarkeit bezeichnet, kann man selbstverständlich sagen, dass die Erkenntnis über die Erkenntnis in demselben Sinn propositional ist, wie die Erkenntnis selbst. Aber aus dieser Perspektive wird es fraglich, wieso in diesem Sinne nicht auch die Entitäten in der Welt propositional sein sollten.

Der Kantianer könnte vielleicht noch einwenden, dass diese Wiedergabe nicht ganz korrekt ist. Der Grund, warum der schiefe Turm von Pisa im Unterschied zu dem Ausdruck „der schiefe Turm von Pisa“ nicht propositional ist, sei nicht bloß – so der Kantianer –, dass letzteres ein sprachlicher Ausdruck, der Turm selbst aber ein Ding sei, sondern vielmehr, dass der Ausdruck

„der schiefe Turm von Pisa“ den wirklich existierenden Turm gar nicht präzise wiedergeben könne. Dabei rekurriert der Kantianer auf die Idee der Unaussprechlichkeit der Dinge: Wenn

„der schiefe Turm von Pisa“ den wirklich existierenden Turm gar nicht präzise wiedergeben könne. Dabei rekurriert der Kantianer auf die Idee der Unaussprechlichkeit der Dinge: Wenn

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