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Philosophie als Dialektik

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 153-163)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

2. Die Wissenschaft der Logik als vorneuzeitliche MetaphysikMetaphysik

2.2 lógon didónai: Begründung, Dialektik und Gerechtigkeit .1 Philosophie als begründetes Wissen .1 Philosophie als begründetes Wissen

2.2.2 Philosophie als Dialektik

Eine der größten Fragen der Hegel-Forschung, welche in Unterschied zu vielen anderen bis heute noch kein Desinteresse gesehen hat, ist die Frage nach Hegels Dialektik. Ein Teil der Unklarheit über den Begriff der Dialektik verdankt sich meines Erachtens Hegels Wortwahl.

Denn er verwendete, um sie zu definieren, einen Begriff, der überall dort herrscht, wo das Denken fehlt. Er sagte nämlich, die Dialektik sei die Methode der Philosophie.

Diese Definition schuf Platz für den Verdacht, dass die Dialektik, weil die Methode ein fundamentales Element einer Philosophie sei, unbedingt eine Begründung erfordere. Allerdings findet sich in Hegels Werken keine Begründung der Dialektik. Daraus ist ein großes Problem entstanden.

Einerseits nutzten Hegels Kritiker diesen Umstand aus. Sie behaupteten, dass die mangelnde Begründung der Dialektik das ganze hegelsche System entwerte.117 Denn wenn die Dialektik die Methode des ganzen Systems sei, aber es für sie keine Begründung gebe, sei wohl einzuräumen, dass Hegel die Dialektik einfach voraussetze. Dadurch drängt sich die Frage auf, warum man in der Philosophie nicht eine andere Methode statt der Dialektik verwenden könnte.

Wenn die Begründung der Dialektik fehlt, erscheinen ein alternativer Versuch und die Ergebnisse, die sich daraus ergeben könnten, als völlig berechtigt.

Die Hegelianer haben dagegen, selbst wenn sie das entgegengesetzte Ziel im Blick hatten, nichtsdestotrotz die Herangehensweise der Kritiker akzeptiert. Sie haben versucht, Hegel zu retten, indem sie gefragt haben, wie die Dialektik begründet werden kann.118 Hierbei haben sie allerdings festgehalten, dass die Dialektik eine mögliche Methode der Philosophie sei, neben der sozusagen noch weitere Möglichkeiten bestehen, wobei sie natürlich auch versucht haben zu zeigen, dass Hegels Wahl gerechtfertigt sei. Ein weiteres Mal haben die Hegelianer Hegels Aussagen nicht ganz ernst genommen, dass die Dialektik die einzige Methode der Philosophie sei. Wahrscheinlich wollten sie durch die Relativierung der hegelschen Behauptung der Tatsache Rechnung tragen, dass eine oberflächige Betrachtung der Philosophiegeschichte sehr

117 Die Kritiker der Dialektik sind häufig auch Kritiker der mangelnden Voraussetzungslosigkeit von Hegels Denken(vgl. Fußnote 73). Vgl. zudem noch J. Habermas, Erkenntnis und Interesse 2008, S. 14 ff.; M. Rosen, Hegel’s Dialectic and ist Criticism 1982.

118 Vgl. z. B. M. Forster, Hegel’s dialectical method 1998; M.Forster, Hegel and Skepticism 1989, S. 171 ff.; M. G.

M. Wölfle, Die Wesenslogik in Hegels „Wissenschaft der Logik“ 1994, S. 86 ff.; P. Stekeler-Weithofer, Hegels Analytische Philosophie 1992, S. 14 ff. (Stekeler-Weithofer setzt Hegels Dialektik mit seiner Methode der Begriffsanalyse gleich.) G. v. Düffel, Die Methode Hegels als Darstellungsform der christlichen Idee Gottes 2000 S. 9 ff.

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viele nicht-dialektische Philosophien aufweist. Wie dem auch sei, die Hegelianer haben sich mit der Behauptung zufrieden gestellt, dass die Dialektik eine gewisse Notwendigkeit innerhalb von Hegels System besitze – was auch immer diese gewisse Notwendigkeit sein soll. Die Dialektik sei aber – so die Hegelianer – bei weitem nicht die einzig mögliche philosophische Methode.119 Damit wurde in der Hegel-Forschung die Suche nach der Begründung der Dialektik begonnen.

Hegel selbst scheint in allen seinen Werken die Ansicht fremd zu sein, dass die Dialektik einer Begründung bedürfe, die von der Begründung der philosophischen Wissenschaft unterschieden ist.

Die Exposition dessen aber, was allein die wahrhafte Methode der philosophischen Wissenschaft seyn kann, fällt in die Abhandlung der Logik selbst; denn die Methode ist das Bewußtseyn über die Form der inneren Selbstbewegung ihres Inhalts (GW 21, 37).

Da Hegel die Dialektik versteht als »die Methode […], die dieses System [der Wissenschaft]

an ihm selbst befolgt« (GW 21, 38), ist er der Meinung, dass derjenige, der richtig verstanden hat, was die philosophische Wissenschaft ist, ihm notwendig darin zustimmen muss, dass die Philosophie dialektisch ist. Die philosophische Wissenschaft ist für Hegel aber, wie im letzten Abschnitt gezeigt wurde, die platonische epistēme: das wahre und begründete Für-Wahr-Halten.

Es wurde außerdem gezeigt, dass diese Definition der Wissenschaft so viel sagt wie, dass die philosophische Wissenschaft begründetes Wissen ist.

Wenn man in der Hegel-Forschung sagt, dass die Dialektik die Methode der hegelschen Philosophie sei, scheint dieser Satz zunächst einem Satz, wie dem, dass die Substitution die Methode für die Lösung eines gewissen Integrals ist, sehr ähnlich zu sein. Wie es aber viele Methoden für die Lösung von Integralen gibt und demnach der Begriff „Lösung eines Integrals“ von der dafür verwendeten Methode unabhängig ist, so scheint es, dass es viele Methoden der Philosophie gibt, und dass der Begriff „Philosophie“ von diesen Methoden unabhängig sei. Und wie dann jemand, der ein Integral lösen muss, sich für eine gewisse Methode entscheidet und dies durchaus mit Gründen tut – denn erstens seien nicht alle Integrale durch alle Methoden lösbar und zweitens sind auch bei denen, die durch mehrere Methoden

119 Selbst die Hegel-Forscher, die Hegels Behauptung der Einzigartigkeit der philosophischen Methode am ehesten ernst genommen haben, würden diese Einzigartigkeit keineswegs in dem Sinn dieses Paragraphen interpretieren. S. Houlgate (vgl. The Opening of Hegel’s Logic 2006, S. 32 ff.) behauptet z. B. zwar, dass Hegels Philosophie keine Methode im klassischen Sinn hat, aber verneint damit nicht, dass es wohl unterschiedliche Ansätze (»traditional standards«) geben kann. Diese anderen Ansätze sollten nach Houlgate zwar nicht auf Hegel angewandt werden, weil diese Anwendung äußerlich (»external«) wäre. Aber Houlgate meint damit nicht, dass diese anderen Ansätze unbegründet und letztendlich falsch sind.

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lösbar sind, einige Methoden wesentlich vorteilhafter –, so scheint es, dass Hegel sich – durchaus mit Gründen – für eine der vielen philosophischen Methoden entschieden habe.

Um zu verstehen, in welchem Sinn die Dialektik die Methode der Philosophie ist, ist dieses mathematische Beispiel meines Erachtens irreführend. Viel passender ist es, an etwas wie an ein Gesetz zu denken. In modernen politischen Systemen muss ein Gesetz von einer Versammlung beschlossen und danach verkündet werden, um überhaupt als Gesetz zu gelten.

Definitionsgemäß ist ein Gesetz eine Regel (nächste Gattung), die von einer Versammlung beschlossen und danach verkündet wird (spezifische Differenz). Wenn man nun fragt, ob es eine Methode für die Gesetzgebung gibt, dann ist die Antwort: Ja, sie muss von einer Versammlung beschlossen und verkündet werden. Aber diese Methode ist nicht – wie im Fall der Lösung der Integrale – gleichgültig für die Definition des Begriffes „Gesetz“, sondern die Methode spielt in dieser Definition eine wesentliche Rolle: Sie ist die spezifische Differenz.

In dem gleichen Sinn ist bei Hegel die Dialektik die Methode der Philosophie. Die Dialektik ist die spezifische Differenz in der Definition der Philosophie. Aber wir wissen, dass die Philosophie begründetes Wissen ist. Also muss „Dialektik“ in Hegels Verständnis so viel bedeuten wie „Begründung“. Aber was bedeutet das?

Wenn Hegel sagt, die Philosophie bedürfe einer Begründung, behauptet er auch, dass das so viel bedeute wie, dass die Philosophie eine denkende Betrachtung der Gegenstände sei. Das Begründet-Sein der Philosophie muss deswegen damit zusammenhängen, dass sie eine Denktätigkeit ist.

Uns kommt an dieser Stelle einmal mehr Platon zu Hilfe.

Sokrates. Und denken [διανοεῖσθαι], verstehst du darunter eben das wie ich?

Theaitetos. Was verstehst du darunter?

Sokrates. Eine Rede [λόγον], welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige was sie erforschen will. Freilich nur als ein Nichtwissender kann ich es dir beschreiben. Denn so schwebt sie mir vor, daß, so lange sie denkt [διανοουμένη], sie nichts anderes tut als sich unterreden [διαλέγεσθαι], indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint. Wenn sie aber langsamer oder auch schneller zufahrend nun etwas feststellt, und auf derselbigen Behauptung beharrt, und nicht mehr zweifelt, dies nennen wir dann ihre Vorstellung. Darum sage ich das Vorstellen ist ein Reden, und die Vorstellung ist eine gesprochene Rede, nicht zu einem Andern mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst.120

Sokrates‘ Definition des Denkens in Platons Theätet zeigt, dass Hegels Behauptung, dass die Philosophie notwendig dialektisch sei, und die Idee, dass die Philosophie einer Begründung

120 Platon, Theait. 189 e-190 a.

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bedürfe, eng verbunden sind. Die Tätigkeit, durch die eine Begründung des eigenen Wissens gesucht wird, ist das Denken. Wenn Hegel sich traut, die Dialektik als die einzige Methode der Philosophie zu bezeichnen, muss er damit gemeint haben, dass die Philosophie erst durch die dialektische Bewegung, deren Paradigma der Dialog ist, zustande kommt. Aber da das Denken nichts anderes ist als ein innerer Dialog, ist es klar, dass die Philosophie notwendig eine Denktätigkeit sein muss. Erst die argumentative Bewegung, welche die Dynamik des Dialogs und des Denkens ausmacht, versetzt das Subjekt – den Philosophen – in die Lage, seine Thesen begründen zu können und somit Philosophie zu betreiben. Die dialektische Bewegung kann stets gemäß den folgenden drei Phasen beschrieben werden.

1) Was es vor aller Dialektik gibt, ist eine Überzeugung, vielleicht sogar ein Wissen – wenn die Überzeugung wahr ist –, aber kein Denken und daher keine Philosophie. Denn infrage stehende Überzeugung ist ungerechtfertigt. Sie könnte nicht den Angriffen der Kritiker standhalten. Zumindest in manchen Fällen folgt aus diesem Zustand, dass der, der diese Überzeugung hat, wenn er vor einen Einwand gestellt wird, zu zweifeln anfängt, da er über keine Antwort verfügt.

2) Das Zweifeln an der Richtigkeit der Überzeugung und die Betrachtung der möglichen oder der wirklichen Einwände führen das denkende Subjekt zur Frage: Warum? Diese Frage löst die echte Untersuchung aus. Zwei Szenarien sind an diesem Punkt möglich: Entweder stellt sich die Ausgangsüberzeugung nach der Untersuchung als falsch heraus und deswegen tritt eine andere, der ersten entgegengesetzte Überzeugung an ihre Stelle; oder die Ausgangsüberzeugung stellt sich als wahr heraus und sie kann ihre Stelle im Überzeugungssystem beibehalten.

3) In beiden Fällen kommt der aus der Untersuchung resultierenden Überzeugung ein unterschiedlicher epistemischer Zustand zu als der Ausgangsüberzeugung. Der Vertreter dieser letzten Überzeugung wird über eine Antwort auf die Warum-Frage verfügen. Er wird einen Grund für seine Überzeugung haben.

Wenn die spezifische Differenz der Philosophie im Vergleich zum einfachen Wissen in der Begründung – d. h. darin, Denken zu sein – besteht und wenn die Begründung in der Fähigkeit besteht, die Frage nach dem Warum zu beantworten, ist klar, dass die Philosophie eine gewisse Dreischrittigkeit aufweisen muss, die nichts anderes ist als der Begründungsprozess des Denkens schlechthin. Diese Dreischrittigkeit, die natürlich kein statisches Korsett sein darf, kommt daher, dass das Denken sozusagen in einer Antwort auf Einwände besteht. Denken zu

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können, und deswegen auch Philosophie zu betreiben, bedeuten, auf Einwände antworten zu können.121

Wie stark auch immer belegt die Idee der intrinsischen Dialektizität der Philosophie in Hegels Werken sein mag, deren sachliches Verständnis bereitet trotzdem viele Schwierigkeiten.

Diese müssen jetzt behoben werden.

Eine erste Schwierigkeit mit der Idee, dass das Denken eine Art Dialog darstellt, besteht darin, dass das Wort „denken“ in unserem Alltag häufig auf Weisen verwendet wird, die sich schwer gemäß Hegels Vorschlag erklären lassen. Unserem Partner sagen wir z.B., dass wir den ganzen Tag an ihn gedacht haben. Und einen unzuverlässigen Freund bitten wir bei einer Verabredung, an die Pünktlichkeit zu denken. In Bezug auf dieses Problem sagt Hegel in der Enzyklopädie:

In unserem gewöhnlichen Bewußtseyn sind die Gedanken mit sinnlichem und geistigem geläufigen Stoffe angethan und vereinigt, und im Nachdenken, Reflectiren und Räsonniren vermischen wir die Gefühle, Anschauungen, Vorstellungen mit Gedanken (GW 20, 42).

Hegels terminologischer Wahl muss man nicht unbedingt zustimmen. „Nachdenken“ und

„reflektieren“ können von ihrer negativen Konnotation bei Hegel einfach losgelöst werden und eine reine Denktätigkeit bezeichnen. Der Sinn von Hegels Rede ist aber, dass der gewöhnliche Gebrauch von „denken“ und anderen verwandten Begriffen häufig – um einen aristotelischen Terminus zu verwenden – homonym ist und nicht wirklich das Denken bezeichnet. Im gleichen Sinn, wie wir unseren unzuverlässigen Freund bitten, an die Pünktlichkeit zu denken, können wir uns vorstellen zu sagen, dass ein Löwe beim Jagen an das Geräusch seiner Schritte denken muss, weil die Beute ihn ansonsten hören könnte. Was diese Ausdrücke bezeichnen, ist einfach ein gewisses Schenken von Aufmerksamkeit. Das jedoch ist vielleicht ein Bestandteil des Denkens, aber noch nicht das Denken schlechthin.

Eine größere Schwierigkeit liegt darin, dass Hegel manchmal Denken und Philosophie bzw.

Wissenschaft nicht nur als verwandte Begriffe versteht, sondern gleichzusetzen scheint. Davon ausgehend zwänge sich allerdings eine Bedeutung von „Philosophie“ auf, die als viel zu breit erscheint. Man könnte z. B. sagen, man habe lange über seine Zukunft nachgedacht, und damit tatsächlich die Art innerlichen Dialog mit sich selbst meinen, die Hegel in Nachfolge Platons

121 Der bekannteste Schüler Platons drückte einst diesen gleichen Gedanken aus, indem er sagte, dass Philosophie ein Wissen durch Gründe ist (Aristoteles, Met. 982 a ff.). Leider wurde aber das griechische Wort für Grund (aítion) ins Lateinische durch das Wort causa übersetzt und Aristoteles‘ Gedanke konnte demnach uns Neuzeitliche nicht unversehrt erreichen. So liest man heute, Aristoteles habe behauptet, dass die Philosophie ein Wissen durch die Ursachen (scire per causas) sei, und es liegt nahe, dass Aristoteles irgendetwas Physikalisches gemeint habe. (Für die Probleme der Übertragung des Begriffes von aítion vgl. 2.4.4 und M. Heidegger, Die Frage nach der Technik 1975).

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als das Wesen des Denkens ansieht. Das Ergebnis solchen Nachdenkens kann in der Tat eine wahre und begründete Meinung darüber sein, wie die eigene Zukunft auszusehen hat, wobei dies nicht notwendigerweise der Fall sein wird. Aber bedeutet das, dass man Philosophie betrieben hat?

Diese Schwierigkeit scheint sich zunächst sehr einfach beheben zu lassen. Sofort kommt der Vorschlag in Betracht, Hegels gelegentliche Gleichsetzung von Philosophie und Denken als Übertreibung zu betrachten, und zu sagen, in der Tat wolle Hegel damit nur die dialektische Form der Philosophie betonen, aber nicht behaupten, dass allein die Philosophie diese Form aufweise. Dementsprechend würde jemand, der über seine Zukunft nachdenkt und eine begründete Wahrheit darüber sucht, zwar denken, aber keine Philosophie betreiben. Man muss zweifellos diesen Weg gehen. Allerdings wirft diese Antwort eine weitere und viel schwierigere Frage auf: Worin unterscheiden sich denn Denken und Philosophie?

Eine erste Antwort würde auf der aristotelischen These beruhen, dass sich die Philosophie mit dem Notwendigen und nicht mit dem Zufälligen beschäftigt. Diese Antwort interpretiert die aristotelische These in dem Sinn, dass die Philosophie sich nicht mit individuellen Entitäten, wie z. B. mit meiner Zukunft oder mit diesem Baum, sondern mit allgemeinen Entitäten, wie z.

B. der Zukunft und dem Baum beschäftigt.122 Demzufolge würde die Philosophie versuchen, das zu bestimmen, was allen Einzelfällen einer gewissen Art oder Gattung notwendigerweise zukommt, und nicht das, was nur einem Einzelfall zufällig zukommt. Allerdings erweist sich diese Antwort bald als problematisch.

Indem das Nachdenken überhaupt zunächst das Princip (auch im Sinne des Anfangs) der Philosophie enthält und nachdem es in seiner Selbstständigkeit wieder in neuern Zeiten erblüht ist (nach den Zeiten der lutherischen Reformation), so ist, indem es sich gleich anfangs nicht blos abstract wie in den philosophirenden Anfängen der Griechen gehalten, sondern sich zugleich auf den maßlos scheinenden Stoff der Erscheinungswelt geworfen hat, der Name Philosophie allem denjenigen Wissen gegeben worden, welches sich mit der Erkenntniß des festen Maßes und Allgemeinen in dem Meere der empirischen Einzelheiten und des Nothwendigen, der Gesetze in der scheinbaren Unordnung der unendlichen Menge des Zufälligen beschäftigt […] hat (GW 20, 46).

Wie Hegel in Paragraph 7 der Enzyklopädie erkennt, wäre eine Definition der Philosophie als Denken über das Notwendige bzw. das Allgemeine im Sinne der – gewöhnlichen – Art und

122 Wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, ist diese Interpretation von Aristoteles‘ These der Notwendigkeit der Wissenschaft viel zu eingeschränkt. Diese Interpretation kann ja sogar als eine Fehlinterpretation bezeichnet werden, wobei nicht in dem Sinne, dass Aristoteles‘ These nicht zur Folge habe, dass sich die Wissenschaft nicht mit individuellen Entitäten beschäftigt. Aber diese ist gerade nur eine Folge der aristotelischen These. An sich besagt diese These auch viel mehr.

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Gattung immer noch zu breit. Gemäß dieser Definition wäre zwar das Nachdenken über die eigene Zukunft keine Philosophie, aber ein gutes Kochbuch wäre mindestens so philosophisch wie Aristoteles‘ Metaphysik.

Es ist nicht einfach, eine spezifischere Bedeutung des Philosophie- bzw.

Wissenschaftsbegriffes zu erreichen. Dies erscheint allerdings notwendig, um Kochbücher und ähnliche Kenntnissammlungen von der Philosophie auszugrenzen. Die Philosophie ist nicht nur ein Nachdenken über allgemeine Entitäten im Sinn der Art bzw. der Gattung, sondern die Arten und die Gattungen, mit denen sie sich auseinandersetzt, scheinen von allen Arten und Gattungen sozusagen die wichtigsten zu sein. Dies scheint Hegel vor Augen zu haben, wenn er in Paragraph 8 bis 12 der Enyklopädie die besprochene Schwierigkeit zu lösen versucht. Aber was soll mit der Rede von den wichtigsten Gegenständen gesagt werden? Warum sind die Gegenstände der Philosophie die Wichtigsten?

Diese Aporie, auf die wir gekommen sind, muss zunächst unbeantwortet bleiben. Auf dem Weg zu deren Beantwortung müssen wir zwei weitere Schwierigkeiten ansprechen. Die Auseinandersetzung mit diesen wird dann die Grundlage für die Rückkehr zu der offen gelassenen Aporie schaffen. Deren Beantwortung wird dementsprechend im nächsten Abschnitt stattfinden.

Die zwei weiteren Schwierigkeiten, die auf unserem Weg liegen, sind die folgenden.

Die erste betrifft die Tatsache, dass Hegels Definition der Philosophie als (durch Dialektik) begründetes Wissen der Dialektik eine zweitrangige Rolle zuzuschreiben scheint – was der Zentralität der Dialektik in Hegels Philosophie völlig widerspräche. Man hat den Eindruck, dass die Dialektik nicht nur die Begründung von Hegels Thesen gibt, sondern dass sie direkt den Inhalt dieser Thesen beeinflusst und bestimmt. Dies aber scheint die Gleichsetzung von Dialektik und Begründung nicht erklären zu können. Es sieht daher so aus, als ob die Gleichsetzung, die in diesem Abschnitt vorgeschlagen wurde, die Bedeutung, welche die Dialektik bei Hegel hat, gewissermaßen abtäte.

Die zweite Schwierigkeit kündigt sich als viel sachlicher und sozusagen weniger hermeneutisch an als die erste. Sie beruht darauf, dass das aus drei Momenten bestehende Begründungsverfahren, welches mithilfe des platonischen Theätet beschrieben und mit dem Denken gleichgesetzt wurde, die Wahrheit nicht garantieren zu können scheint. Man könnte wohl über etwas nachdenken, daran zweifeln und sich darüber Fragen stellen, und schließlich zu einem Ergebnis kommen, das falsch ist. Aber Hegel behauptet, dass die philosophische

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Wissenschaft – nämlich das richtige Ergebnis des Philosophierens – notwendig wahr und deswegen ein Wissen ist.

Diese beiden wichtigen Probleme lassen sich zusammen behandeln. Deren Beantwortung erfordert jedoch, dass wir uns an den systematischen Charakter des Wissens erinnern, der im vorangegangenen Paragraphen anhand des Vergleiches zwischen Hegel und Donald Davidson sichtbar geworden ist. Wir müssen jetzt eine andere Bedeutung der Systematizität verdeutlichen, welche spezifisch für die Philosophie ist.

Im vorangegangenen Paragraphen hat sich herausgestellt, dass das Wissen systematisch ist, weil das Sein – die Realität – ein System ist. Alles, was wirklich ist, hängt zusammen, weil es wirklich ist. Das Wissen eines jeden Individuums ist aber immer denkbar als seine Antwort auf die Frage „Was ist wirklich?“. Alle korrekten Antworten auf diese Frage, welche per definitionem mit dem Wissen zusammenfallen, hängen also zusammen. Unter den Überzeugungen eines Individuums gibt es allerdings normalerweise einige, die nicht wahr sind und deswegen kein Wissen darstellen. Diese Überzeugungen werden allerdings vom Individuum für wahr gehalten und hängen deswegen seiner Ansicht nach mit den anderen

Im vorangegangenen Paragraphen hat sich herausgestellt, dass das Wissen systematisch ist, weil das Sein – die Realität – ein System ist. Alles, was wirklich ist, hängt zusammen, weil es wirklich ist. Das Wissen eines jeden Individuums ist aber immer denkbar als seine Antwort auf die Frage „Was ist wirklich?“. Alle korrekten Antworten auf diese Frage, welche per definitionem mit dem Wissen zusammenfallen, hängen also zusammen. Unter den Überzeugungen eines Individuums gibt es allerdings normalerweise einige, die nicht wahr sind und deswegen kein Wissen darstellen. Diese Überzeugungen werden allerdings vom Individuum für wahr gehalten und hängen deswegen seiner Ansicht nach mit den anderen

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