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Von der Wahrheit zum System: Ein Vergleich mit Donald Davidson

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 135-149)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

2. Die Wissenschaft der Logik als vorneuzeitliche MetaphysikMetaphysik

2.1 Das Ergebnis der Kantkritik: Der Anfang bei der Wahrheit .1 Der Sinn der Phänomenologie des Geistes .1 Der Sinn der Phänomenologie des Geistes

2.1.4 Von der Wahrheit zum System: Ein Vergleich mit Donald Davidson

Der bisherige Argumentationsgang dieses Kapitels hat wahrscheinlich unter anderem auch Klarheit darüber geschaffen, warum ich glaube, dass der im ersten Kapitel ausführlich erörterte antikantische Charakter von Hegels System auf Hegels allgemeinere Ablehnung der Voraussetzungen der neuzeitlichen Philosophie, auf denen Kants Projekt letztendlich beruht, zurückzuführen ist. Ein Beweis dieser These kann leider nicht in der Ausführlichkeit geführt werden, die wahrscheinlich erforderlich ist. Aber es scheint mir, dass, wenn man die Grundzüge von Hegels Kantkritik ins Auge fasst, deren Erweiterung auf den Großteil der nachockhamschen Philosophie auf ziemlich unmittelbare Weise folgt. Angesichts dieser Erweiterung wird allerdings evident, dass der Sinn der vorliegenden Untersuchung nicht nur darin besteht, Hegels Antikantianismus zu zeigen, sondern auch darin, durch Hegels Antikantianismus letztendlich auch seinen Antimodernismus zu zeigen. In diesem Antimodernismus besteht aber meines Erachtens der Beitrag, den Hegels Philosophie in unserer Zeit leisten kann: nämlich darin, dass Hegel für uns unabdingbar ist, wenn wir die neuzeitlichen Kategorien überwinden wollen, in denen die Philosophie unserer Zeit immer noch eingesperrt ist.

Schaut man sich die Geschichte der Philosophie des letzten Jahrhunderts an, so sind zwei der wichtigsten Philosophen, die relevante philosophische Versuche in antimoderner Richtung unternommen haben, Martin Heidegger und Donald Davidson. Diese Aussage ist keine

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Selbstverständlichkeit und bedarf also einer Erörterung. Allerdings nicht gleichermaßen in Bezug auf Heidegger und auf Davidson. Denn dass Martin Heidegger ein Oppositioneller der Neuzeit gewesen sei, werden wohl die wenigsten bestreiten wollen. Allenfalls stellt sich bezüglich Heidegger für mich die Frage, warum ich eine Überwindung der Neuzeit im Geiste Hegels und nicht (zumindest nicht direkt) Heideggers versuche. Weil aber diese Frage für die Untersuchung nicht relevant ist und weil außerdem im Verlauf des Textes hervorgehen wird, dass auch Heidegger unsere Heilung der Moderne – wenn auch meistens indirekt – unterstützt, kann ich sie unbeantwortet lassen.

Was Davidson angeht, ist dagegen sehr fraglich, ob er wirklich als Oppositioneller der Neuzeit verstanden werden kann. Erstens verstand sich Davidson zeitlebens als Angehörigen der progressistischen Tradition der analytischen Philosophie, die sich sicherlich eher als Radikalisierung denn als Kritik der neuzeitlichen Philosophie interpretieren lässt. Zweitens machte er mehrmals die Abhängigkeit seiner Philosophie von Autoren wie Quine und Sellars deutlich, deren philomoderne und manchmal szientistische Überzeugung sehr offensichtlich ist.

Schließlich hat sich ein gewisser Pragmatismus, welcher hauptsächlich mit den Namen Richard Rortys und Robert Brandoms in Verbindung steht, in den letzten Jahren die Philosophie Davidsons zu eigen gemacht.95 Dabei haben die Pragmatisten behauptet, Davidson lasse sich am besten als ein (zwar manchmal etwas zu radikaler) Vertreter des auf Peirce und Dewey zurückgehenden Pragmatismus ausdeuten.

Vor diesem Hintergrund scheint es unplausibel, dass Davidson ein Antineuzeitlicher gewesen sei. Meines Erachtens beweisen allerdings all diese Tatsachen lediglich, dass Davidson und seine bisherigen Interpreten sich nicht hinreichend bewusst gewesen sind, wie antineuzeitlich seine Philosophie oder zumindest einige ihrer wichtigen Tendenzen tatsächlich sind. Wenn es sich allerdings zeigen lässt, dass Davidsons Philosophie wichtige Parallele mit dem hegelschen Projekt zulässt, wird es zuzugeben sein, dass ein angemessenes Verständnis Davidsons auf den antineuzeitlichen Aspekten seiner Philosophie zu beharren hat und dass die neuzeitlichen Aspekte der Philosophie Davidsons, die zwar vorhanden sind, nur als Überreste der analytischen Tradition zu interpretieren sind. In Kürze würde ein erfolgreicher Vergleich mit dem richtig verstandenen Hegel zeigen, dass das, was in der zeitgenössischen Debatte von

95 Vgl. R. Rorty, Pragmatism, Davidson and Truth 1989; R. Rorty, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie 1981, v. a. S. 343 ff.; R. Brandom, Articulating Reasons 2000, v. a. S. 22-34.

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Davidson übrig ist, gerade dem entspricht, was überwunden werden müsste, und dass das, was heutzutage von Davidson tot ist, eine Wiederentdeckung verdient.

Der Vergleich zwischen Hegel und Davidson, der in diesem Abschnitt erörtert wird, soll aber nicht nur zu einer korrekten Interpretation Donald Davidsons beitragen. In diesem Fall wäre wohl der Einwand berechtigt, dass dieser Abschnitt, wenn auch inhaltlich zutreffend, gar nicht in eine Untersuchung über Hegels Philosophie hineingehört. Der Vergleich mit Donald Davidson soll demnach auch einen Beitrag für unser Verständnis Hegels leisten. Dies wird dadurch geschehen, dass dieser Vergleich uns zeigen wird, warum sich eine Philosophie, die bei der Wahrheit anfängt, notwendig systematisch gestaltet ist. Am Ende dieses Abschnittes und aufgrund des Vergleiches mit Davidson werden wir also über eine erste, unvollkommene Antwort auf die Frage verfügen, warum Hegel ein Systematiker ist. Die Verfeinerung dieser Antwort wird sich dann in den nächsten Paragraphen vollziehen.

Das Ausgangsproblem der davidsonschen Philosophie besteht in der Frage nach einer Theorie der erlenbaren Sprachen. Diese Frage kann etwa folgendermaßen formuliert werden:

Wie muss eine Theorie aussehen, damit es vor deren Hintergrund möglich ist, eine Sprache zu lernen? Oder, einfacher formuliert, was muss man unbedingt wissen, um eine Sprache lernen bzw. verstehen zu können?96

Nachdem Davidson viele konkurrierende Theorien, die aber alle vom ursprünglich fregeschen Begriff von der Bedeutung ausgehen, ausschließt, kommt er zu der Idee, dass die allgemeinste Voraussetzung einer Theorie der erlernbaren Sprache, das Prädikat „wahr“ oder ein gleichbedeutendes Prädikat ist.97 Grund dafür ist, dass jemand, um eine Sprache zu verstehen, in der Lage sein muss, die Aussagen dieser Sprache mit den (oder zumindest gewissen) Umständen in Verbindung zu setzen, in denen sie wahr bzw. falsch sind; d. h., er muss Schlussfolgerungen wie die folgende gedanklich formulieren können: s ist wahr dann und nur dann, wenn p.

Wenn der Lernende bzw. der Interpret der Sprache die Aussage tatsächlich versteht, wird p eine Übersetzung von s oder, im Grenzfall, der gleiche Satz wie p sein. Dann werden Interpretationen entstehen wie: „der Schnee ist weiß“ ist wahr dann und nur dann, wenn der Schnee weiß ist.

Aber die gleiche Bedeutung von p und s in Sätzen der beschriebenen Art kann natürlich keine Voraussetzung für eine Theorie einer zu lernenden Sprache sein, denn daraus würde folgen, dass jemand, um eine Sprache zu lernen, schon die Sprache beherrschen muss, und zwar

96 Vgl. D. Davidson, Bedeutungstheorien und lernbare Sprachen 1986, und D. Davidson, Wahrheit und Bedeutung 1986.

97 Vgl. D. Davidson, Wahrheit und Bedeutung 1986, S. 47 ff.

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vollständig. Diese Erklärung wäre offensichtlich zirkulär und daraus würde außerdem die berechtigte Frage entstehen, ob der Zustand der vollkommenen Beherrschung einer Sprache überhaupt denkbar ist. Schließlich würde diese Erklärung den Begriff der Bedeutung, der am Anfang beseitigt wurde, und die vielen damit verbundenen unbeantwortbaren Fragen, wie z. B.

wann zwei Sätze dasselbe bedeuten, wieder ins Spiel bringen.

Es scheint, dass ein Interpret, wenn er nichts über die Bedeutung der Sätze weiß, keinen Hinweis hat, wann er das Prädikat „wahr“ anwenden kann. Aber Davidson behauptet, dieser Eindruck sei falsch.98 Die bloße Tatsache, dass gewisse Aussagen Aussagen eines Sprechers seien, lasse vermuten, dass diese Aussagen wahr seien. Die Annahme dieser Tendenz zur Vermutung der Wahrheit löst dann das Problem des Erlernens von Sprachen. Wir schreiben nach Davidson den anderen viel mehr wahre als falsche Überzeugungen zu, obwohl wir mit ihnen natürlich fast nur über diejenigen zu sprechen kommen, bei denen wir ihnen nicht zustimmen. »Das Vorhandensein einer […] großenteils wahren Weltansicht«99 ist deswegen die Grundlage der gelingenden Interpretation und der Grund, weshalb wir die Sprache der anderen verstehen können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Voraussetzung der Wahrheit am Anfang des Interpretationsprozesses die Bedingung der Möglichkeit für das Gelingen der Interpretation ist; und, da es sich zeigen lässt, dass die Interpretation möglich ist, folgt daraus, dass jeglicher Interpret die Wahrheit tatsächlich voraussetzt.

Wenn Davidsons Argument für die Annahme, dass andere Menschen eine größtenteils wahre Weltansicht haben, – so, wie ich glaube – schlüssig ist,100 dann darf der Interpret bzw. der Lernende einer Sprache Schlussfolgerungen wie die folgende ziehen: Wenn S sagt, dass p, dann p.

Solche Konditionale bieten offensichtlich eine optimale Voraussetzung für die Interpretation einer Sprache. Durch deren Anwendung kann der Interpret die Bedeutung der Aussagen des Sprechenden zunächst aufgrund des Vergleichs mit außersprachlichen Entitäten und Tatsachen ableiten. Erst danach und sehr langsam wird für den Interpreten auch die Möglichkeit entstehen, sich auf die schon gesammelte sprachliche Evidenz zu stützen, um weitere Aussagen zu interpretieren.

Was im Laufe des Prozesses der Verfeinerung der Interpretation nach Davidson geschieht, ist, dass der Interpret lernt, das Prädikat „wahr“ auf immer mehr Aussagen der zu interpretierenden Sprache anzuwenden. Während der Interpret am Anfang nur behaupten kann,

98 Vgl. D. Davidson, Radikale Interpretation 1986, und D. Davidson, Der Begriff des Glaubens und die Grundlage der Bedeutung 1986.

99 D. Davidson, Die Methode der Wahrheit in der Metaphysik 1986 (übersetzt von J. Schulte), S. 286.

100 Vgl. auch D. Davidson, A Coherent Theory of Truth and Knowledge 1989.

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der Sprechende sage (meistens) das Wahre, kann er in den folgenden Stufen der Interpretation auch erklären, worin dieses Wahre besteht. Die Vorannahme der Wahrheit füllt sich nach und nach mit konkreterem Inhalt, mit konkreteren Bestimmungen.

Es ist wichtig darauf zu insistieren, dass der Füllprozess des Verständnisses sich massiv durch die Entdeckung neuer wahrer Aussagen vollzieht. Das Kriterium, das dem Interpreten zeigt, ob der Sprechende eine Überzeugung für wahr hält, ist in der großen Mehrheit der Fälle die Wahrheit dieser Überzeugung. Daraus folgt allerdings, dass die Interpretation notwendig systematisch ist. Vor dem Hintergrund der Überzeugungen, die der Interpret dem Sprechenden zuschreibt, muss der Interpret annehmen, dass die anderen Überzeugungen des Sprechenden in massiver wahrheitsgemäßer Übereinstimmung mit den ihm bekannten stehen. Wir wissen aber, dass alles Wahre wahrheitsgemäß ausschließlich das Wahre impliziert und das Falsche ausschließt.101 Deswegen muss der Interpret dem Sprechenden tendenziell Wahres zuschreiben, obwohl natürlich Ausnahmen möglich sind.

Der Sinn dieses tiefen davidsonschen Gedankens ist, dass ich einen Sprechenden desto besser verstehe, je mehr Überzeugungen, die er hat, ich angeben kann. Der Leitfaden, dessen ich mich in den meisten und noch wahrscheinlicher in den anfänglichen Fällen für diese Aufgabe bediene, kann allerdings nur die Wahrheit sein.

Zweierlei Missverständnissen ist vorzubeugen. Erstens folgt aus Davidsons Theorie nicht, dass dem zu interpretierenden Subjekt nicht eine Menge falscher Überzeugungen zugeschrieben werden kann. Ganz in Gegenteil ist es sehr wahrscheinlich, besonders in Bezug auf umstrittene Themen, dass die Interpretation nur mittels einer solchen Zuschreibung gelingen kann. Zweitens impliziert Davidsons Holismus nicht, dass die verschiedenen Überzeugungen des zu interpretierenden Sprechers einen Zusammenhang in dem Sinn aufweisen, dass sie in seinem Überzeugungssystem in einem Implikationsverhältnis stehen.

„Systematisch“ heißt bezüglich des zu interpretierenden Überzeugungssystems zunächst nur, dass er größtenteils wahr ist. Während allerdings zwei Überzeugungen wie „Eis schmeckt gut“ und „Eis ist essbar“ wahrscheinlich in einem implikativen Zusammenhang im zu interpretierenden Überzeugungssystem stehen, lässt sich dieses für „Eis ist essbar“ und „Dublin ist die irische Hauptstadt“ nicht behaupten. In Bezug auf die Wahrheit hängen allerdings auch

101 Auf einen ähnlichen Gedanken kommt auch G. Frege in Funktion und Begriff 2008, S. 9-10. Auf Frege bezieht sich Davidson in Wahrheit und Bedeutung und (meistens indirekt) in Getreu den Tatsachen 1986.

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die letzten beiden zusammen. Um das formelhaft auszudrücken: Gott wird sicherlich auch die letzten beiden, zusammen mit allen anderen wahren Sätzen, für wahr halten.

Wenden wir uns nun dem Vergleich des davidsonschen Projekts mit dem hegelschen zu, so fällt zunächst die Ähnlichkeit auf, dass beide auf der Idee des Anfangs bei der Wahrheit beharren. Sowohl nach Davidson als auch nach Hegel stellt das Prädikat „wahr“ den Anfang und nicht, wie nach der neuzeitlichen Ansicht, das Ende der Theorie dar. Das bedeutet natürlich nicht, dass man diese Idee der Existenz wahren Erkennens nicht weiter rechtfertigen kann.

Hegel und Davidson verfügen über mächtige und in vielen Punkten miteinander verbundene polemische Argumente gegen den Dualismus von Erkennen und Realität, von Schema und Inhalt.102 Das bedeutet nur, dass die Hauptfrage der Theorie nicht darin bestehen kann, ob es eine Wahrheit gebe, sondern darin, was wahr sei.

Ein auffälliger und wichtiger Unterschied zwischen Hegel und Davidson, mit dem auch viele weitere Unterschiede zusammenhängen, betrifft allerdings die Frage, was die beiden Philosophen unter dem Begriff „Theorie“ verstehen. Für Hegel ist die Theorie, die bei der Wahrheit anfängt, das Wissen selbst. Für Davidson hingegen ist sie die Interpretation, also das Wissen über das Wissen eines anderen. Was bedeutet dieser Unterschied?

In den vorigen Abschnitten hat sich die Bedeutung der hegelschen Behauptung herausgestellt. Die Gewissheit über Sätze wie „wenn S weiß, dass p, dann p“ oder, noch besser,

„wenn S O erkennt, dann ist O (wirklich)“ mache – so Hegel – den Anfang des Wissens aus.

Das Wissen konkreter Inhalte setze das Wissen, was „wissen“ bedeute, voraus. Das Wissbare, das Erkennbare sei das Wahre, das Seiende. Schließlich unterliegt die Philosophie, indem sie ein Wissen darstellen soll, auch der Notwendigkeit, mit dem Sein anzufangen.

Davidsons Theorie ist bescheidener. Sie behauptet nicht, das Prädikat „wahr“ sei eine Voraussetzung des Wissens schlechthin, sondern nur, es sei eine Voraussetzung der Interpretation. Die größere Bescheidenheit Davidsons ist der Grund, warum er immer nur von

„wahr“ redet, aber nie von „wirklich“ oder „seiend“. Wir haben in der Tat im Abschnitt 2.1.2 gesehen, dass „wahr“ und „seiend“ sich darin unterscheiden, dass „wahr“ strenggenommen (allerdings nicht in Hegels Gebrauch) nur von propositionsförmigen Entitäten bzw. „dass“-Sätzen, während „seiend“ von allen denkbaren Entitäten ausgesagt werden kann. In Entsprechung mit „wahr“ und „seiend“ unterscheiden sich außerdem die Verben „wissen“ und

„erkennen“. Davidson rezipiert die Idee der analytischen Tradition, dieser Unterschied hänge davon ab, dass „wahr“ ein Prädikat und „wissen“ ein Zustand seien, deren nur Menschen fähig seien. Denn nur Menschen seien in der Lage, etwas Propositionsförmiges, wie z. B.

102 Vgl. z. B. D. Davidson, Was ist eigentlich ein Begriffsschema 1986.

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Überzeugungen, in ihrem Geist aufzunehmen. Wenn Davidson deswegen sagt, dass die Wahrheit der notwendige Anfang der Interpretation sei, meint er damit auch, dass, andere zu interpretieren, etwas spezifisch Menschliches sei.

Davidsons Theorie fußt auf einer Auffassung von Propositionalität, welche im ersten Kapitel kritisiert wurde.103 Dort wurde gezeigt, dass ein Verständnis der Propositionalität als Eigenschaft ausschließlich von geistigen Zuständen von einem circulus vitiosus abhängt. Denn einerseits beansprucht dieses Verständnis, einen formalen Unterschied zu finden zwischen z. B.

der Tatsache, dass es heute regnet, und dem Gedanken, dass es heute regnet; einen Unterschied, dem gegenüber sich der normale Sprachgebrauch undurchsichtig verhält, denn die Proposition

„dass es heute regnet“ ist dieselbe in beiden Fällen. Andererseits aber lässt sich jedes Kriterium, das sie für diese Unterscheidung angeben kann, auf den Unterschied zwischen „geistig“ und

"nicht-geistig“ zurückführen, zu dessen Erklärung sie ursprünglich herangezogen worden ist.

Zum fehlerhaften Verständnis von „propositional“ kommt bei Davidson noch hinzu, dass er, ebenfalls unter dem Einfluss der analytischen (aber auch schon neuzeitlichen) Tradition, denkt, dass nur Menschen über geistige und damit propositionale Inhalte verfügen. Demzufolge unterscheidet sich z. B. der Gedanke, dass es heute regnet, formal nicht nur von der Tatsache, dass es heute regnet, sondern auch von dem Eindruck eines Hundes, dass es heute regnet.

Demnach glaubt Davidson, dass nur Menschen wissen können, dass es heute regnet, während z. B. Hunde dies nicht können, obwohl wir normalerweise so reden.104

Die Kritik des ambigen Gebrauchs des Adjektivs „propositional“, die ich im ersten Kapitel vorgeschlagen habe, betrifft nun indirekt auch die These, dass das Wissen sowie das Glauben, das Meinen, das Für-Wahr-Halten usw. ein Prärogativ des Menschen seien. Wenn die Propositionalität mit dem Geist nichts zu tun hat, dann müssen die Philosophen auch aufhören, auf deren Grundlage das Wissen und das Glauben zu definieren. Mein Versuch führt dazu, die kontraintuitive Ausgrenzung der Tiere aus dem Bereich des Wissens zurückzuweisen. Dies bedeutet auch, dass die anthropologische Frage, worin sich der Mensch vom Tier unterscheide, nicht mehr durch das Wissen beantwortet werden kann. Dieser Unterschied hängt tatsächlich nicht mit der Fähigkeit zum Wissen, sondern nur mit den für den Menschen bzw. für das Tier wissbaren Inhalten zusammen. Sowohl Tiere als auch Menschen können wissen, aber der Mensch kann etwas wissen, was das Tier nicht wissen kann. Das erklärt, warum Menschen

103 Vgl. Abschnitt 1.1.4.

104 Vgl. D. Davidson, Vernünftige Tiere 2004; D Davidson, Die zweite Person 2004; D. Davidson, Die Entstehung des Denkens 2004.

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nicht nur wissen, sondern auch denken können, wozu Tiere offensichtlich nicht in der Lage sind.

Eine Anthropologie, welche Mensch und Tier nicht anhand des Wissens, sondern anhand dessen, was gewusst wird, unterscheidet, ist wohl viel eleganter und einfacher als die zeitgenössische, welche, da sie keine befriedigende Antwort finden kann, einfach eine Antwort postuliert und befiehlt, dass sich die Sprache an dieses Postulat anpasst: Wir sind in unserem Alltag letztendlich nicht so naiv, wenn wir etwa sagen, dass ein Hund sehr gut weiß, wer sein Herrchen ist.

Die eben angesprochene anthropologische Frage wird im nächsten Paragraphen etwas an Deutlichkeit gewinnen, wobei sie im Rahmen dieser Untersuchung leider nicht vollständig entwickelt werden kann.105 Was hingegen die Frage nach einer nicht auf der Propositionalität basierten Definition des Wissens angeht, gilt es zu untersuchen, ob die Erinnerung an die Kritik am zeitgenössischen Gebrauch von „propositional“ neues Licht auf Davidsons Philosophie und auf deren Vergleich mit der hegelschen werfen könne, sodass jetzt eine Antwort auf diese Frage möglich geworden sei.

Davidson sagt uns, dass das Vorhandensein des Prädikats „wahr“ die Bedingung der Möglichkeit erfolgreicher Interpretation darstellt. Hegel sagt uns, dass das Vorhandensein des Prädikats „wahr“ oder, noch besser, „seiend“ die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis bzw. des Wissens ist. Vor dem Hintergrund unserer Ergänzungen lässt sich fragen: Könnte es sein, dass das Phänomen, das Davidson korrekterweise beschreibt, auf das Phänomen, das Hegel beschreibt, zurückzuführen ist?

Ich glaube, dass wir diese Frage mit „ja“ beantworten müssen. Eine positive Antwort ist die einzige Möglichkeit, die Gründe von Davidsons These zu erklären. Man muss behaupten, dass die Unterstellung einer großenteils wahren Weltansicht, die wir beim Interpretieren vollziehen, von der Tatsache abhängt, dass wir ausgehend von unserem Selbstverständnis das zu interpretierende Subjekt ebenfalls als ein Erkenntnissubjekt verstehen.

Wir wissen nach Hegel, dass ein Erkenntnissubjekt notwendig über ein Prädikat wie

„seiend“ verfügt. Über ein Prädikat wie „seiend“ zu verfügen, bedeutet, der Wahrheit verpflichtet zu sein, denn es ist offensichtlich unmöglich, etwas für wahr zu halten, was zugleich als falsch erkannt wird. Indem wir das zu interpretierende Subjekt als Erkenntnissubjekt verstehen, schreiben wir ihm eine Verpflichtung zur Wahrheit zu. Da wir aber auch glauben, dass, wenn diese Verpflichtung zur Wahrheit nicht bis zu einem gewissen

105 Ich vertrete diese These ausführlicher in: F. Donini, Ist Hegel Anthropologie der Freiheit notwendig nachchristlich? 2020.

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und relativ hohen Grad erfüllt worden wäre, das zu interpretierende Subjekt mit der Welt nicht zurechtkommen würde, was es aber offensichtlich tut, schreiben wir ihm nicht nur die Verpflichtung zur Wahrheit, sondern auch die Wahrheit selbst zu. Da es aber auch möglich ist, anderen Subjekten Fehler und nicht nur die Möglichkeit des Fehlers zuzuschreiben und da es sehr wahrscheinlich ist, dass die anderen zumindest einige Fehler machen, erkennen wir ihnen

und relativ hohen Grad erfüllt worden wäre, das zu interpretierende Subjekt mit der Welt nicht zurechtkommen würde, was es aber offensichtlich tut, schreiben wir ihm nicht nur die Verpflichtung zur Wahrheit, sondern auch die Wahrheit selbst zu. Da es aber auch möglich ist, anderen Subjekten Fehler und nicht nur die Möglichkeit des Fehlers zuzuschreiben und da es sehr wahrscheinlich ist, dass die anderen zumindest einige Fehler machen, erkennen wir ihnen

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