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Der Buchstabe von Hegels Apperzeption

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 95-109)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

1.3 Hegels Umdeutung der Apperzeption .1 Hegels Apperzeption als problematischer Begriff .1 Hegels Apperzeption als problematischer Begriff

1.3.3 Der Buchstabe von Hegels Apperzeption

Die dargestellte Ausdeutung der hegelschen Umdeutung der Apperzeption verweist notwendigerweise auf die systematische Interpretation Hegels. Es ist zunächst zuzugeben, dass eine solche Deutung, sofern ihre Begründung nur anhand der entsprechenden Textpassagen versucht wird, einer kantianisierenden Interpretation wie etwa der von Robert Pippin nachsteht.

Beschränkt man sich nämlich auf die von Pippin zitierten Passagen, kommt ohne Zweifel die Vermutung auf, dass Hegel ein Kantianer gewesen sei.

Mein Argument gegen die prima-facie-Plausibilität von Pippins Interpretation beruht also darauf, den Zusammenhang von Hegels Apperzeptionsdeutung mit der Gesamtheit von Hegels System hervorzuheben. Da Hegels System – wie die Interpretation der hegelschen Kantkritik schon in diesem Kapitel bewiesen hat und wie das nächste Kapitel bestätigen soll – grundsätzlich antikantisch aufgefasst werden muss, muss auch Hegels Interpretation der Apperzeption als ein Teil dieses Systems und daher gemäß meinem Vorschlag gelesen werden, obwohl dieser Vorschlag, angewendet auf die betroffenen Textstellen, sozusagen eine lectio difficilior darstellt.

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Vertritt man aber eine solche lectio difficilior, also eine Interpretation, die nicht sozusagen unmittelbar aus den Textpassagen hervorgeht, so muss man zusätzlich in der Lage sein zu erklären, warum dies der Fall ist. Einfacher formuliert muss ich erklären können, warum Hegel seine Theorie des Selbstbewusstseins mit Kants Apperzeptionslehre in Verbindung bringt, da der Gehalt seiner Theorie ein ganz anderer ist als die der kantischen.

Dass eine Gesamtinterpretation Schwierigkeiten mit gewissen Textpassagen hat, ist freilich ein sehr übliches Phänomen. Eine bestimmte Interpretation ist also nicht immer dazu verpflichtet, sich mit solchen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, sollte aber – zumindest idealerweise – bereit sein, darauf zu antworten. Aber diese Auseinandersetzung ist in diesem Fall besonders wichtig, da es letztendlich eine Fehlinterpretation des hegelschen Urteils über Kants Apperzeption ist, welcher sich der zeitgenössische kantianisierende Hegelianismus verdankt. Gegen diesen wendet sich aber dieses Kapitel. Es soll also gefragt werden, warum Hegels Ausdrucksweise die Fehlinterpretation seiner Philosophie von Seiten der Kantianer, die heute verbreiteter ist als deren richtige Interpretation, begünstigt habe.

Um diese Frage zu beantworten, werde ich erstens die Unterschiede zwischen Hegels Theorie des Selbstbewusstseins und Kants Apperzeptionslehre verdeutlichen. Schließlich werde ich eine erste Erklärung liefern, warum Hegel dazu tendiert, diese Unterschiede zu übersehen. Die vollständige Erklärung bezieht dann die Auseinandersetzung mit der Problematizität von Hegels Philosophie mit ein, welche nicht in diesem, sondern erst im letzten Kapitel stattfinden wird.

„Die Einheit der Apperzeption bzw. des Ich denke ist die Bedingung für die Objektivität.“ Diese Formulierung des Grundgedankens der Apperzeptionslehre scheint eine solche zu sein, die sowohl Kant als auch Hegel befriedigen würde. Verständlich werden muss hier aber die unterschiedliche Bedeutung, die Kant und Hegel dieser Formulierung beimessen.

Im vorherigen Abschnitt wurde behauptet, dass Hegel sich, wenn er in Bezug auf das Selbstbewusstsein vom Denken redet, nicht auf das Denken im Sinne des lateinischen putare bezieht. Dass der Mensch Selbstbewusstsein hat, bedeutet für Hegel nicht, dass der Mensch Überzeugungen hat, d. h., dass der Mensch etwas für wahr hält. Denn in diesem Sinn sind auch Wahrnehmungen eine Art von Denken und demnach können auch Tiere, die wahrnehmungsfähig sind, etwas denken: Sie können nämlich vieles für wahr halten.64 Andererseits meint Kant jedoch gerade diese Bedeutung von „denken“, das Denken als ein Für-wahr-Halten, wenn er vom Ich denke spricht.

64 Vgl. 2.1.4.

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Kant und die Vertreter des Kantianismus glauben, dass das zur Objektivität Fähige in formaler Hinsicht notwendigerweise begrifflich sein muss und nur Bewusstseinsinhalte formal begrifflich sein können. Beide Seiten glauben außerdem, dass „formal begrifflich“ so viel wie

„propositional“ bedeutet. Nach dem ersten Paragraphen dieses Kapitels wissen wir, dass der Begriff „propositional“ im kantischen Kontext häufig als Hybrid zweier Begriffe verstanden wird,65 wobei die Kantianer und auch Kant selbst sich dieser Zweideutigkeit nicht bewusst sind.

Einerseits und wortwörtlich bedeutet „propositional“ einfach „satzförmig“. Demgemäß wären z. B. die Theorie, dass es außerirdische Lebewesen gibt, und die Tatsache, dass es Hunde gibt, propositional, das Denken an eine himmlische Stadt und der Hund meiner Cousine dagegen nicht propositional. Andererseits bedeutet „propositional“ so viel wie „intentional“, d. h. etwas, das einen geistigen Inhalt hat. Demgemäß wären z. B. die Theorie, dass es außerirdische Lebewesen gibt, sowie das Denken an eine himmlische Stadt propositional, während die Tatsache, dass es Hunde gibt, sowie der Hund meiner Cousine nicht propositional. Es ist wichtig, noch einmal zu betonen, dass der Kantianer diese beiden Bedeutungen nicht unterscheidet. Der Kantianer neigt immer dazu, diese beiden Bedeutungen zu vermischen oder zu vertauschen.

Was Kant in der transzendentalen Deduktion und besonders in den Paragraphen über die Apperzeption tut, lässt sich auf die Zweideutigkeit des Adjektivs „propositional“ zurückführen.

Kants Ziel ist zu zeigen, dass Bewusstseinsinhalte objektiv sein können. Bewusstseinsinhalte sind immer propositional im Sinne von „intentional“. Bewusstseinsinhalte sind z. B.: eine Rotwahrnehmung, das Denken an eine himmlische Stadt, die Theorie, dass es außerirdische Lebewesen gibt. Sobald Kant die Frage stellt, wie die Objektivität von Bewusstseinsinhalten möglich ist, verwechselt Kant die zwei Bedeutungen von „propositional“. Diese Verwechslung ist ja der Grund, warum es Kant sinnvoll erscheint, die Frage nach der Möglichkeit der Objektivität überhaupt zu stellen. Kant fragt also nicht, warum Bewusstseinsinhalte oder geistige Zustände intentional sind, denn die Antwort auf diese Frage wäre tautologisch, da

„intentional“ an sich so viel wie „geistig“ bedeutet. Er fragt vielmehr: Warum sind Bewusstseinsinhalte satzförmig? Diese Frage ist zwar falsch gestellt, da offenbar nicht alle Bewusstseinsinhalte satzförmig sind: Das Denken an eine himmlische Stadt oder der Begriff der Gerechtigkeit sind nicht satzförmig. Kant sieht den Fehler aber nicht, weil er diese Frage folgendermaßen formuliert: Warum sind Bewusstseinsinhalte propositional? Und wenn er sich

65 In Abschnitt 1.1.4 wurde diese These am Beispiel der Konzeptualisten Sellars und McDowell vertreten. Was im Folgenden einfachheitshalber durch das Adjektiv „satzförmig” bezeichnet wird, wurde dort der formale Sinn von

„propositional“ genannt. „propositional“ als Synonym von „intentional“ wurde dort dagegen als der inhaltliche Sinn von „propositional“ gekennzeichnet.

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dann fragt, ob tatsächlich alle Bewusstseinsinhalte propositional sind, kann er positiv antworten, indem er „propositional“ wieder als „intentional“ versteht. Denn tautologischerweise sind alle Bewusstseinsinhalte intentional.

Aus dem Gesagten folgt, dass es eine Hinsicht gibt, in der es im kantischen Projekt auf die unmögliche Erklärung kommt, warum alle Bewusstseinsinhalte propositional im Sinne von

„satzförmig“ sind. Wie gesagt, ist die zu erklärende Annahme einfach falsch, und eine Erklärung damit eigentlich widersinnig. Dennoch entsteht das Bedürfnis, sie zu erklären, und zwar daraus, dass der kantische Geist wegen des ambigen Gebrauchs von „propositional“ diese Falschheit nicht sieht. Diese Erklärung vollzieht sich bei Kant in der transzendentalen Deduktion66 und das Ich denke soll letztendlich diese Erklärung liefern.

Kant scheint Folgendes zu behaupten. Dass alle Bewusstseinsinhalte satzförmig sind, bedeutet, dass sie immer im Rahmen eines „dass“-Satzes auftauchen können. Denn alles Satzförmige kann in dieser Weise beschrieben werden: z. B. Die Tatsache, dass es Hunde gibt, und die Theorie, dass es außerirdische Wesen gibt. Aber alles, was jemand für wahr hält oder – in der putativen Bedeutung – denkt, taucht im Rahmen eines „dass“-Satzes auf: Z. B. Paul denkt, dass es außerirdische Lebewesen gibt. Und es gilt nach Kant – aufgrund der Zweideutigkeit von „propositional“ –, dass sich alle Bewusstseinsinhalte gemäß einem Satz wie

„jemand denkt, dass…“ beschreiben lassen. Kant schließt also, dass alles Satzförmige etwas ist, was ein Subjekt denkt oder für wahr hält.

Zunächst ist anzumerken, dass Kants Argument zwei entscheidende Fehler enthält. Erstens hat das Argument diese Form: Alle A sind B; aber alle C sind B; also sind alle A C. Selbst wenn beide Prämissen richtig wären, wären die Schlussfolgerung und daher das ganze Argument ungültig. Denn dieses Argument entspricht z. B. dem folgenden Fehlschluss: Alle Athener sind Menschen; aber alle Römer sind Menschen; also sind alle Athener Römer. Zweitens ist die zweite Prämisse des Arguments, dass alle Bewusstseinsinhalte durch einen Satz wie „er denkt, dass…“ beschrieben werden können, falsch. Der Grund dafür ist die Zweideutigkeit von

„propositional“, die vorhin analysiert wurde. Gegen Kant gilt, dass es Bewusstseinsinhalte gibt, die sich nicht gemäß einem Satz wie „er denkt, dass…“ beschreiben lassen: z. B. das Denken an eine himmlische Stadt und die Grünwahrnehmung. Denn was in diesen Beispielen geschieht,

66 Die Tatsache, dass das Vorhandensein der transzendentalen Deduktion letztendlich nur vor der konzeptualistischen Annahme der Propositionalität aller Bewusstseinsinhalte Sinn ergibt, ist der Grund, warum die Nonkonzeptualisten häufig zur Idee eines Kantianismus ohne transzendentale Deduktion – insbesondere ohne die massiv revidierte transzendentale Deduktion der zweiten Auflage der KrV bzw. die B-Deduktion gekommen sind (vgl. z. B. Hannahs These, dass die B-Deduktion eine Kluft (gap) aufweist, R. Hannah, Kant’s Non-Conceptualism, Rogue Objects, and The Gap in the B-Deduction 2015). Andererseits legen natürlich die Konzeptualisten den Akzent ihrer Interpretation gerade auf diesen Teil (vgl. J. McDowell, Having the World in View 2009, v.a. Kap 1-3; P. Strawson, The Bounds of Sense 1966, Kap. 2).

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ist, dass jemand an eine himmlische Stadt denkt bzw. Grünes wahrnimmt. Diese Sätze sind aber nicht der Form „er denkt, dass…“.67

Bisher ist nur erklärt worden, warum Kants Ausdruck „Ich denke“ das Verb „denken“ enthält.

Aber warum enthält er „Ich“? Die Antwort auf diese Frage kennen wir schon seit dem zweiten Paragraphen dieses Kapitels. Da Kant das Ich denke als Ursprung oder Bedingung der begrifflichen Form unserer Bewusstseinsinhalte präsentiert, ist er gezwungen, diesem Ich denke einen besonderen Status zuzuschreiben. Das Ich denke muss einerseits etwas in uns, andererseits aber von den sonstigen Bewusstseinsinhalten grundsätzlich unterschieden sein.

Wie im zweiten Abschnitt behauptet wurde, lässt sich dieser Unterschied darauf zurückführen, dass der Akt, durch den das Ich denke erfasst wird, ein ganz anderer sein muss als der Akt, durch den die anderen Bewusstseinsinhalte erfasst werden: Denn der Akt der Apperzeption muss in der außerordentlichen Lage sein, das Ansich des Ich denke zu erfassen.

Der Grund, warum Kant von „Ich denke“ und nicht allgemein von „jemand denkt“ spricht, ist, dass er in der Nachfolge Descartes‘ der Selbsterkenntnis einen privilegierten Status zuerkennt. Er suggeriert nämlich, dass die außerordentlichen Ansprüche, die seine Theorie an den Akt der Apperzeption stellt, dadurch erfüllt werden können, dass die Apperzeption keine normale Erkenntnis, sondern Selbsterkenntnis ist. Worin allerdings die Spezifizität des Apperzeptionsaktes besteht, darüber streiten sich die Kantianer seit Jahrhunderten. Die prinzipielle Unlösbarkeit dieser Frage wurde durch die Kritik am kantischen Projekt gezeigt.

Daher bin ich jetzt vom Zwang ausgenommen, auf diese Frage zu antworten. Eine kantkritische Kant-Interpretation kann sich leisten, den Status der Apperzeption als den Status eines Irrtums anzusehen und damit ihre hermeneutische Aufgabe als erfüllt zu erklären.

Was Hegel angeht, kennen wir vom vorherigen Abschnitt den Wahrheitsinhalt oder den Sinn seiner Umdeutung der Apperzeption. Wir fragen uns jetzt, warum Hegel diesen Sinn in Kants Apperzeption wiederfindet. Die Antwort kann bei diesem Zitat in der Enyklopädie anfangen.

Sage ich Ich, so ist dieß die abstrakte Beziehung auf sich selbst und was in diese Einheit gesetzt wird, das wird von derselben inficirt und in sie verwandelt. Ich ist somit gleichsam der Schmelztiegel und das Feuer,

67 Das Beispiel des Denkens an eine himmlische Stadt entnehme ich aus Sellars Empiricism and the Philosophy of Mind. Es liegt für den Kantianer nahe, das Denken an eine himmlische Stadt als „das Denken, dass eine himmlische Stadt so und so ist“ auszudeuten, wobei es schwierig ist zu verstehen, ob Sellars dieser Ansicht war.

Die vom hypothetischen Kantianer vorgeschlagene Interpretation ist zunächst kontraintuitiv. „Ich denke an eine himmlische Stadt“ und „ich denke, dass eine himmlische Stadt so und so ist“ haben im Alltag völlig unterschiedliche Bedeutungen. Wenn nun der Kantianer diesen Unterschied normieren will, muss er zumindest erklären, warum. Aber es scheint mir, dass alles, was der Kantianer als Erklärung heranziehen könnte, in diesem Kapitel schon widerlegt worden ist. Eines ist jedenfalls sicher: Der Kantianer kann seine kontraintuitive Interpretation vom Denken an eine himmlische Stadt als von dem Denken, dass eine himmlische Stadt so und so ist, nicht einfach als eine mögliche Interpretation ausgeben.

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wodurch die gleichgültige Mannichfaltigkeit verzehrt und auf Einheit reducirt wird. Dieß ist es dann, was Kant reine Apperception nennt, zum Unterschied von der gewöhnlichen Apperception, welche das Mannichfaltige als solches in sich aufnimmt, wohingegen die reine Apperception als die Thätigkeit des Vermeinigens zu betrachten ist. – Hiermit ist nun allerdings die Natur alles Bewußtseyns richtig ausgesprochen. Das Streben der Menschen geht überhaupt dahin, die Welt zu erkennen, sie sich anzueignen und zu unterwerfen, und zu dem Ende muß die Realität der Welt gleichsam zerquetscht, d.h. idealisirt werden (GW 23,3, 841-842).

Hegel liest hier ein weiteres Mal seine Theorie des Selbstbewusstseins in Kants Apperzeptionslehre hinein. Indem der Mensch als Mensch nach der Kohärenz bzw. der Einheit des Selbstbewusstseins strebt und zu erkennen versucht, was er wirklich denkt, bringt er ein notwendiges und allgemeines Wissen zustande, welches die Philosophie ist. Diesen Gedanken bezieht Hegel fälschlicherweise auf Kant zurück.

Um Hegels Fehlinterpretation zu verstehen, ist der allererste Satz entscheidend: »Sage ich Ich, so ist dieß die abstrakte Beziehung auf sich selbst«. In Kants Apperzeptionslehre spielt die Sprache keine wichtige Rolle. Es ist für Kant nicht deshalb, weil ich „Ich“ sagen kann, der Fall, dass ich das Ich denke habe. Die Tatsache, dass ich vieles für wahr halte, hängt nicht davon ab, dass ich „Ich“ sagen kann. Kant ist hier recht zu geben. Denn auch Lebewesen, die nicht sprachfähig sind, halten vieles für wahr. Aber Hegel konzentriert sich gerade auf das Aussprechen von „Ich“. Warum?

Das Anziehende am Aussprechen von „Ich“ ist meines Erachtens, dass diese Fähigkeit nur denkfähigen Lebewesen zukommt. Aber ein Mensch muss nicht nur denkfähig, um „Ich“ zu sagen. Denn denkfähig sind in einem gewissen Sinn auch Babys, die noch nicht „Ich“ sagen.

Um „Ich“ sagen zu können, muss ein Mensch die Denkfähigkeit, die er besitzt, bis zu einem gewissen Grad entwickelt und aktiviert haben; d. h., dieser Mensch muss tatsächlich nachgedacht haben. Das Verständnis der Bedeutung der Wörter, welches nötig ist, damit man

„Ich“ sagen kann, erfordert, dass man bis zu einem gewissen Grad am Geben und Nehmen von Gründen schon teilgenommen hat. Dieser Prozess des Begründens ist aber nichts anderes als das Denken.68 Ich kann die Bedeutung z. B. von „Ich“ nicht richtig erfassen, wenn ich nicht weiß, was die anderen erwarten, wenn ich „Ich“ sage. Aber um das zu können, muss ich nachgedacht haben. Es gilt also erstens, dass ein Mensch, um „Ich“ zu sagen, eine Sprache – zumindest minimal – beherrschen muss, und zweitens, dass ein Mensch, um eine Sprache auch bloß minimal zu beherrschen, nachgedacht bzw. seine Denkfähigkeit aktiviert haben muss.

68 Vgl. 2.2.

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Wir wissen aber, dass das Denken nichts anderes ist als die Art und Weise, wie der Mensch nach Selbstbewusstsein strebt. Der Mensch denkt, um den Aufruf „erkenne dich selbst!“ zu beachten. Wenn dem so ist, dann gilt aber, dass jemand, der „Ich“ sagt, diesen Aufruf bis zu einem gewissen Grad beachtet hat. Wer „Ich“ sagt, ist bis zu einem gewissen Grad schon selbstbewusst: Er weiß bis zu einem gewissen Grad, was er für wahr hält. Folglich ist es nicht mehr so überraschend, dass Hegel Kants Ich denke als die Bedingung des allgemeinen und notwendigen Wissens, welches die Philosophie ist, ansieht. Statt „Ich denke“ liest Hegel „das Aussagen vom bzw. das Denken an das Ich denke“ und findet demnach bei Kant das Selbstbewusstsein. Denn diese Sprach- bzw. Denktätigkeit ist tatsächlich nur durch die Annahme eines (teilweise) realisierten Selbstbewusstseins möglich.

Was bisher dargelegt wurde, kann Hegels Fehlinterpretation zweifelsohne plausibilisieren.

Es lässt sich aber immer noch nicht behaupten, dass diese Fehlinterpretation erklärt ist.

Unbeantwortet bleibt noch die Frage: Warum liest Hegel nicht „Ich denke“, sondern „das Aussagen von ‚Ich denke‘“? Die Beantwortung dieser Frage wird es mir ermöglichen, auch eine andere, oben schon tangierte, aber bisher noch nicht explizit angesprochene Schwierigkeit meiner Interpretation aufzulösen: Warum spricht Hegel so gerne vom Ich oder vom Selbstbewusstsein nicht nur als vom Ursprung des allgemeinen und notwendigen Wissens – der Philosophie –, sondern als vom Ursprung der Objektivität oder des Wissens überhaupt? Diese zwei Fragen betreffen die Komponente von Hegels Interpretation der Apperzeption, die sich anhand ihres Sinnes nicht erklären lässt. Um meine Interpretation trotzdem zu rechtfertigen, muss ich jetzt also zeigen, warum es für Hegel – und zwar für den Buchstaben seiner Philosophie – besonders günstig ist, Kant in dieser Weise zu lesen. Oder zumindest muss ich mich dieser Erklärung annähern.

Hegel hat eine starke Tendenz zur Verselbständigung oder, wie man auch sagen kann, sogar zur Vergöttlichung der Philosophie: eine Tendenz, die Karl Marx aus nachvollziehbaren Gründen einmal der Mystifikation bezichtigt hat.69 Es wurde vorweggenommen, dass die Philosophie für Hegel das allgemeine Wissen der Gerechten ist. Nach dieser Definition gibt es sicherlich einen Sinn, in dem die Gerechtigkeit der Grund oder die Ursache für das Vorhandensein der Philosophie im Menschen ist. Denn fragt man: Warum ist dieser Mensch

69 Z. B. »Wichtig ist, daß Hegel überall die Idee zum Subjekt macht, und das eigentliche, wirkliche Subjekt, wie die „politische Gesinnung“ zum Prädicat. Die Entwicklung geht aber immer auf Seite des Prädicats vor.« Und später hinsichtlich der politischen Verfassung: »Es handelt sich nicht darum, die bestimmte Idee der politischen Verfassung zu entwickeln, sondern es handelt sich darum, der politischen Verfassung ein Verhältniß zur abstrakten Idee zu geben, sie als ein Glied ihrer Lebensgeschichte (der Idee) zu rangiren; eine offenbare Mystifikation« (K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 1985, S. 11; S. 15). Marx bezieht sich zwar auf Hegels Rechtsphilosophie und auf die entsprechenden Begriffe. Wie ich im letzten Kapitel zeigen werde, wirkt sich diese Kritik allerdings auf das ganze hegelsche System aus.

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ein Philosoph?, so ist die richtige Antwort: Weil er gerecht ist. Hegels Vergöttlichung der Philosophie bewirkt allerdings, dass Hegel das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Philosophie umdreht. Dementsprechend würde Hegel nicht so sehr sagen, dass die Gerechtigkeit die Ursache der Philosophie ist, sondern vielmehr, dass die Philosophie die Ursache der Gerechtigkeit ist. Während gemäß dem Sinn des Hegelianismus die Gerechtigkeit des vollkommenen Menschen oder, besser, dessen Streben nach Gerechtigkeit die Philosophie generiert, gilt für Hegel vielmehr, dass die Philosophie die Gerechtigkeit des Menschen generiert.

Die erwähnte Definition der Philosophie hat, sofern man bloß deren Sinn beachtet, eine wichtige Folge bezüglich der Natur des Irrtums. Diese Folge wird in Abschnitt 2.2.3 ausführlich dargestellt werden, aber es ist hier erforderlich, sie vorwegzunehmen: Aus jener Definition folgt nämlich, dass der Irrtum selbst für den Philosophen möglich ist. Obwohl es sicherlich gilt, dass der Philosoph bzw. der Gerechte sich besonders wenig irrt, kann und realistischerweise wird der Irrtum trotzdem stattfinden. Fälle, wo der Fehler selbst für den Gerechten unausweichlich

Die erwähnte Definition der Philosophie hat, sofern man bloß deren Sinn beachtet, eine wichtige Folge bezüglich der Natur des Irrtums. Diese Folge wird in Abschnitt 2.2.3 ausführlich dargestellt werden, aber es ist hier erforderlich, sie vorwegzunehmen: Aus jener Definition folgt nämlich, dass der Irrtum selbst für den Philosophen möglich ist. Obwohl es sicherlich gilt, dass der Philosoph bzw. der Gerechte sich besonders wenig irrt, kann und realistischerweise wird der Irrtum trotzdem stattfinden. Fälle, wo der Fehler selbst für den Gerechten unausweichlich

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