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Kants Apperzeption und das Problem der Selbsterkenntnis

Im Dokument Die Heilung der Moderne (Seite 70-81)

Konzeptualismus contra Nonkonzeptualismus 1.1.1 Der kantische Ursprung des Problems

1.2 Hegels Metakritik des kantischen Projektes

1.2.3 Kants Apperzeption und das Problem der Selbsterkenntnis

Die bisherigen Überlegungen zum methodologischen Status der Transzendentalphilosophie haben versucht, die Stringenz der hegelschen Kritik ausschließlich durch deren argumentative Überprüfung nachzuweisen. Viele Kant-Leser werden allerdings bei der Beschäftigung mit der Behauptung, dass das Vermögen der Selbsterkenntnis unterschiedlicher Natur sei als das erststufige Erkenntnisvermögen, an den umstrittenen Begriff der Apperzeption gedacht haben.

Die eben geführte Erprobung der Schlüssigkeit von Hegels Kantkritik wirft daher die Frage auf, inwieweit der Begriff der Apperzeption und das Interesse daran, das schon von Kantianern der ersten Stunde wie Reinhold und Fichte bekundet wurde, auf das von Hegels Kritik angesprochene Problem der Metaerkenntnis hinweist.

Der Vorteil einer Beschäftigung mit dieser Frage ist zweifach. In Bezug auf Kants Philosophie soll dadurch erläutert werden, warum der widersprüchliche methodologische Status der kantischen Philosophie trotz des hohen Interesses am Begriff der Apperzeption, welcher mit dem Problem der Metaerkenntnis stark verbunden ist, von Kant und von den Kantianern nie wirklich wahrgenommen wurde. In Bezug auf Hegels Philosophie wird die Analyse der kantischen und nachkantischen Apperzeption den Boden für die These bereiten, dass das, worauf sich Hegel bei seiner Kant-Rezeption bezieht, wenn er von Apperzeption spricht, sehr wenig mit dem kantischen Begriff zu tun hat, sodass es unmöglich ist, Hegels Lob der Apperzeption als Zeichen seiner Zustimmung zu Kants Projekt auszudeuten.

In Paragraph 16 der zweiten Auflage der KrV führt Kant die Apperzeption ein als den Akt, durch den das Ich denke hervorgebracht wird. Weil außerdem das Ich Denke nach Kant »alle meine Vorstellungen [muß] begleiten können«, kann dieses Selbstbewusstsein »von keiner [Vorstellung] weiter begleitet werden«. Die Apperzeption ist also ursprünglich.

Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subject, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperception, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperception, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, in dem es die Vorstellung: Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können,

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und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann (KrV B 131-132).

Was es bedeuten soll, dass das Selbstbewusstsein sein Objekt – nämlich die Vorstellung „Ich denke“ – hervorbringe, ist zunächst nicht klar. Denn man würde glauben, dass bei einem Akt des Selbstbewusstseins das Objekt und das Subjekt zusammenfallen. Wäre dem aber so, dann ergäbe die Aussage, dass das Subjekt des Selbstbewusstseinsaktes dessen Objekt hervorbringe, keinen Sinn. Soll man deswegen vielleicht denken, dass das Subjekt – das Wissende – und das Objekt – das Gewusste – des Selbstbewusstseinsaktes nicht zusammenfallen? Aber wie ist das überhaupt denkbar, wenn der Begriff „Apperzeption“ schon rein etymologisch ein Selbstbewusstsein bezeichnet? Wie abwegig auch immer dieser Gedanke scheinen mag, man muss zugeben, dass sich zumindest der Eindruck, dass Kant damit spielt, nicht so einfach ausschließen lässt. Aber warum? Was ist für Kant so inakzeptabel an dem Gedanken, dass die Selbsterkenntnis das Selbst erkennt?

Nach den Überlegungen des vorigen Abschnittes dürfte die Antwort nicht allzu schwierig ausfallen. Das Abwegige bei diesem Gedanken ist wohl, dass es, wenn er zutrifft, eine Vorstellung gibt, die eine vollständige Erkenntnis von dem Ding an sich, das sie vorstellt, – nämlich vom Selbst – beinhaltet. Wenn dies allerdings der Fall ist, dann gibt es zumindest eine Erkenntnis, die sich der allgemeinen Funktionsweise unseres Erkenntnisvermögens nicht angleicht. Ein solches Erkenntnisvermögen wäre aber nach den Überlegungen des vorigen Abschnittes alles andere als unproblematisch. Kants Zögern dabei, der Apperzeption alle Merkmale des Selbstbewusstseins zuzuschreiben, suggeriert also, dass er auf eine unbewusste Weise die Probleme dieser Zuschreibung erahnt.

Dieses Zögern drückt allerdings weder die einzige noch die Haupttendenz der kantischen Theorie aus. Denn es ist leicht zu sehen, dass Kant sich gar nicht gezwungen fühlt, auf die Bezeichnungen „Apperzeption“ und „Selbstbewusstsein“ zu verzichten. Jedoch bringen diese natürlich die Idee mit sich, dass es das Ich denke sei, welches sich selbst durch den Akt der Apperzeption erkenne. Aber wie belegt Kant diese Idee? Oder – da es nun klar ist, dass es vergeblich ist, eindeutige Antworten von Kants Beschreibung der Apperzeption zu erwarten – auf welche Ansicht scheinen seine Hinweise hinauszulaufen?

Die Rede von einer Vorstellung, die aus keiner anderen entstehen kann, und die Idee, dass die Apperzeption Vorbedingung aller Begriffe sei und dass sie deswegen als ursprünglich gelte, lassen (schon seit der ersten Auflage der KrV (A 106-108)) das Bedürfnis entstehen, dass der Apperzeption eine besondere und einzigartige erkenntnistheoretische Beschaffenheit zugeordnet wird. Darüber hinaus lässt sich Kants Beschreibung der Apperzeption ziemlich leicht so ausdeuten, dass die Zuschreibung der Apperzeption zu beiden »Grundquellen des

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Gemüts«, aus denen »unsre Erkenntnis entspringt« (A 50; B 74), nämlich Sinnlichkeit und Verstand, auszuschließen sei. Um die Apperzeption aus dem Bereich des Verstandes auszuschließen, schreibt Kant als Übergang zwischen Paragraph 15 und Paragraph 16 der zweiten Auflage der KrV:

Diese Einheit, die a priori vor allen Begriffen der Verbindung vorhergeht, ist nicht etwa jene Kategorie der Einheit (§ 10) [die Kategorie der Einheit aus der Kategorientafel]; denn alle Kategorien gründen sich auf logische Functionen in Urtheilen, in diesen aber ist schon Verbindung, mithin Einheit gegebener Begriffe gedacht. Die Kategorie setzt also schon Verbindung voraus. Also müssen wir diese Einheit […] noch höher suchen, nämlich in demjenigen, was selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urtheilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche enthält (KrV B 131).48

Dass die Apperzeption der Sinnlichkeit angehört, lehnt Kant noch expliziter in Paragraph 16 ab.

Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden (KrV B 132).

Schließlich weist Kants Terminologie sowohl in Paragraph 16 der B-Auflage, z. B. mit der Rede über einen »Actus der Spontaneität«, als auch in Paragraph 46 der Prolegomena, der die Apperzeption beinahe als ein Gefühl des Daseins beschreibt, 49 darauf hin, dass die Apperzeption eine Art unmittelbare Erkenntnis darstellt, die aus schwer erkennbaren Gründen einen privilegierten Zugang zum Selbst beinhaltet.

Jede Interpretation, die Kants Hinweise ausnutzen will, um die Apperzeption als eine besondere und fast übermenschliche Art von Selbstintuition aufzufassen, ist mit dem enormen Problem konfrontiert, diese letztendlich cartesianische Idee in die angeblich anticartesianische Struktur der kantischen Theorie einbetten zu müssen. Am schwierigsten erscheint notorisch

48 Zwar schreibt Kant etwa drei Seiten später Folgendes: »Und so ist die synthetische Einheit der Apperception der höchste Punkt, an dem man alle Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst« (KrV B 134 Anm. - kursiv nicht im Original). Das bereitet für mich aber keine Schwierigkeit, denn meine These ist ja, dass Kant in keiner konsequenten Weise die Apperzeption entwickeln kann. Dafür sind die Inkonsequenzen in Kants Texten vielmehr indirekte Beweise als Quellen möglicher Einwände. Die Frage nach Kants Beschreibung der Apperzeption wird hier nicht in Hinblick auf eine Auflösung ihrer Probleme gestellt, sondern, um die Möglichkeiten ihrer Interpretation innerhalb eines kantischen Rahmens aufzuklären. Hier ist von Richtigkeit überhaupt nicht die Rede. Denn welchen Sinn würde es noch ergeben, sich über die richtige Interpretation eines mit Inkonsequenz verbundenen Begriffes zu fragen? Die richtige Interpretation eines inkonsequenten Begriffes ist, dass er inkonsequent ist.

49 »Das Ich ist gar kein Begriff, sondern nur Bezeichnung des Gegenstandes des innern Sinnes, so fern wir es durch kein Prädicat; mithin kann es zwar an sich kein Prädicat von einem andern Dinge sein, aber eben so wenig auch ein bestimmter Begriff eines absoluten Subjects, sondern nur, wie in allen anderen Fällen, die Beziehung der innern Erscheinungen auf das unbekannte Subject derselben« (AA 4, 334).

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diese Aufgabe angesichts von Kants Kritik der rationalen Psychologie, bei der sich Kant explizit auf Descartes bezieht. Eine solche Interpretation kann sich allerdings auf die Feststellung stützen, dass der schwierige Zusammenhang zwischen dem Begriff der Apperzeption und der Psychologie-Kritik bereits bei Kant ein großes Problem darstellt, was daraus ersichtlich wird, dass die entsprechenden Abschnitte der KrV in der zweiten Auflage neu verfasst wurden. Es ist, als ob – so die möglichen Vertreter dieser Interpretationslinie – Kants Schwierigkeit, seinen Einwand gegen Descartes und die rationale Psychologie zu artikulieren, dieser letztlich zugestünde, dass sie eine wahrhafte, wenn vielleicht auch nicht richtig dargestellte, Einsicht über das Ich enthalte.50

Es ist leicht zu sehen, dass sich die zwei eben besprochenen Tendenzen und möglichen Entwicklungslinien des kantischen Begriffes der Apperzeption ganz verschieden zum Problem der Metaerkenntnis verhalten. Die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen dem Apperzipierenden und dem Apperzipierten stellt – wie schon vorweggenommen wurde – einen ersten Schritt in die Richtung der Anerkennung des Problems dar. Andererseits ist das Hervorheben des subjektiven und speziellen Charakters der Apperzeption vielmehr ein stumpfsinniges Beharren auf dem Problem selbst, welches aber das Problem als die Lösung des Problems anbietet, indem es dessen Unlösbarkeit nicht anerkennt. Denn der Dreh- und Angelpunkt des hegelschen Arguments gegen Kant richtet sich genau gegen die für seine Philosophie gleichzeitig widersprüchliche, aber auch folgerichtige Behauptung, dass die subjektive Erkenntnis über das Erkenntnisvermögen als etwas aufzufassen sei, das der normalen Erkenntnis vorausgeht. Gerade diese Behauptung ist aber diejenige, die sich durch das Insistieren auf der individuellen Beschaffenheit der Selbsterkenntnis geradezu aufdrängt.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass von den Nachkantianern diejenigen, die an dieser zweiten Entwicklungsmöglichkeit der kantischen Apperzeption arbeiteten, die Grundschwierigkeit, auf welche die Betrachtung der Apperzeption in der KrV implizit hinweist, gar nicht einsehen konnten. Ihrer Ansicht nach ist die Komplexität der kantischen Auseinandersetzung mit diesem Begriff ein Anlass zu Interpretationen, die den Erfolg des kantischen Projekts, an den sie unbedingt glauben, bedrohen.

Der bekannteste Vertreter der Ansicht, dass Kants Kritik der reinen Vernunft besser aussehen würde, wenn sie die Apperzeption gar nicht erwähnen würde, ist sicherlich Gottlob Ernst Schulze. In seinem 1792 anonym erschienenen Aenesidemus bezeichnet Schulze die

50 Für die Thematik eines möglichen kantischen Cartesianismus vgl. H.F. Klemme, „Das Ich denke, ist… ein empirischer Satz“. Kants Auseinandersetzung mit Descartes 2009, und B. Longuenesse, Kant’s „I think“ versus Descartes’ „I Am a Thing That Thinks“ 2008.

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Apperzeption als ein »leeres Gedankending«51 und in seiner Kritik der theoretischen Philosophie von 1801 setzt er diesem problematischen Begriff eine seiner Meinung nach viel unmittelbarere und einfachere Auffassung der Selbsterkenntnis entgegen, der zufolge es die individuelle und vorbegriffliche Erfahrung ist, die das Bewusstsein ausmacht. und damit der Vernunftkritik eine sichere, empirische Grundlage bietet:

Was aber das Bewußtsein der Identität unseres Ich noch insbesondere anbetrifft, so ist es an das Bewußtsein mannigfaltiger Dinge, die nacheinander erkannt werden, gebunden, (welches von dem Bewußtsein der Existenz, Einheit und Persönlichkeit desselben, das schon jede Erkenntnis eines einzelnen Dinges, und auch einfache Vorstellungen, in welchen wir nichts voneinander unterscheiden, begleitet, nicht gesagt werden kann,) oder findet nur erst dann statt, wenn wir uns eines Wechsels der Zustände an unserem Ich bewußt sind.52

Schulzes Versuch einer Vereinfachung oder sogar einer Ausräumung des Apperzeptionsbegriffes erscheint zwar radikal, steht im Rahmen der nachkantischen Debatte aber nicht allein. Die Ansicht, dass die Selbsterkenntnis aus einer Erfahrung entsteht, wurde schon vor Schulze z. B. von Salomon Maimon, einem anderen einflussreichen Kantianer, vertreten53 und sie muss im Kontext der ersten Rezeption der KrV ziemlich verbreitet gewesen sein, wenn Jacobi 1785 in seiner Auseinandersetzung mit Spinoza nicht zögert, Kants Apperzeption als einen sentiment de l‘être darzustellen.54

Im Gegensatz zu dieser Entwicklungslinie der frühen Kant-Interpretation, welche den Zusammenhang zwischen Kant und dem neuzeitlichen Subjektivismus betont, lässt sich eine andere Tendenz erkennen, die an die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen Apperzeptionssubjekt und Apperzeptionsobjekt anknüpft, welche zu Anfang dieses Abschnittes anhand der kantischen Texte dargestellt wurde. Diese Tendenz des Nachkantianismus ist an Figuren gebunden, welche häufig als Zwischenstufen zwischen Kant und Hegel angesehen worden sind. Die zwei prominentesten Vertreter dieser zweiten Gruppe sind wahrscheinlich Karl Leonhard Reinhold und Johann Gottlieb Fichte.55

51 E. G. Schulze, Aenesidemus 1996, S. 116.

52 E. G. Schulze, Kritik der theoretischen Philosophie 1801, Bd. 2, S. 349.

53 Vgl. S. Maimon, Versuch über die Transzendentalphilosophie) 1965, Bd. 2, S. 164: »Was aber mich anbetrifft, so behaupte ich mit dem Idealisten, daß mein Ich zwar eine bloße Idee [ist] (in so fern es durch nichts bestimmt, gedacht wird,) es ist aber zugleich ein reelles Objekt, weil es seiner Natur nach durch nichts außer sich selbst bestimmt werden kann, so kann es doch in seinen Modifikationen durch eine Näherung zu demselben bis ins Unendliche als Objekt bestimmt gedacht werden.«

54 H.F. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza 1998, S. 105 (Fußnote).

55 Für Fichtes Einfluss auf Hegels Kant-Rezeption vgl. R, Pippin, Hegel‘s Idealism 1989; J. McDowell, Hegel‘s Idealism as a Radicalization of Kant 2009; I. Görland, Die Kantkritik des jungen Hegel 1999; S. Sedgwick, Hegel‘s Critique of Kant 2012; T. Pinkard, German Philosophy (1760-1860): The Legacy of Idealism 2002 (Pinkard geht auch kurz auf Reinhold ein). Für die Wichtigkeit der weniger erforschten Figur Reinhold vgl. P. Valenza, Reinhold

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Reinhold und Fichte sehen ein, dass der Begriff der Apperzeption innerhalb des kantischen Projekts eine wesentliche Rolle spielt und dass dessen Problematizität nicht einfach beseitigt werden kann: Es bedarf einer Lösung dieses Problems, denn nur dadurch kann das kantische Projekt hinreichend fundiert werden. Dass allerdings Fichte und Reinhold eine Auflösung der an der Apperzeption haftenden Spannung im Rahmen einer Zustimmung zum kantischen Projekt für möglich halten, hängt damit zusammen, dass sie die Problematizität der Apperzeption nicht im Sinne eines dem kritischen Projekt innewohnenden Widerspruchs, sondern vielmehr im Sinne einer unglücklichen bzw. unvollständigen Formulierung Kants deuten. Dementsprechend lässt sich bei diesen zwei Autoren auch kein klares Bewusstsein über die zwei Grundtendenzen der kantischen Apperzeption, aus denen deren Problematizität resultiert, finden. Denn auf diese Weise könnte man das Problem der Apperzeption nur dann artikulieren, wenn man das ganze kritische Projekt in Frage stellen würde. Wer sich noch innerhalb dessen befindet, kann diese Schwierigkeit nicht auf ihre Quelle zurückführen. Er erahnt das Problem, aber er bleibt sozusagen darin gefangen.

Eine solche Position ist die von Reinhold und Fichte. Liest man ihre Umdeutung der Apperzeption, kann man nicht sagen, dass sie das Problem vollständig verstanden haben.

Der durchs bloße Bewußtsein bestimmte Begriff der Vorstellung wird mißverstanden, wenn man unter Vorstellung mehr oder weniger denkt als das:

dasjenige was im Bewußtsein vom Objekt und Subjekt unterschieden und auf beide bezogen wird.56

Wir haben den absolutersten, schlechthin unbedingten Grundsaz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absoluterster Grundsaz seyn soll. Er soll diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den empirischen Bestimmungen unsers Bewußtseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewußtseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.57

Bei diesen Texten erfolgt einerseits die Entfaltung des kantischen Hinweises, dass Apperzipierendes und Apperzipiertes vielleicht nicht zusammenfallen, was freilich keiner orthodoxen kantischen Ansicht unterstellt werden könnte. Denn sowohl bei Reinhold als auch bei Fichte ist klar, dass die Komponenten, die bei der Erkenntnis ins Spiel treten, nicht mehr nur zwei, nämlich Subjekt und Objekt, sondern drei sind, nämlich Subjekt, Objekt und der Ursprung von beidem; und dass die Apperzeption – oder deren Umdeutung in den jeweiligen

e Hegel. Ragione storica e inizio assoluto della filosofia 1994; M. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold 1995. Die hermeneutische These, dass Reinhold und Fichte Hegels Kant-Rezeption beeinflusst haben, ist an sich schwierig zu widerlegen. Interessanter und philosophisch vielversprechender ist allerdings die Frage nach dem Sinn dieses Einflusses.

56 K. L. Reinhold, Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen 2003, S. 100.

57 J. G. Fichte, Grundlage der Gesamten Wissenschaftslehre (1894) 1965, S. 255.

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Perspektiven – in irgendeiner Verbindung mit der dritten Komponente, dem Ursprung, steht.

Es ist allerdings auch offensichtlich, dass Reinhold und Fichte den subjektiven Charakter, welcher der kantischen Unternehmung einer epistemologischen Wende der Philosophie notwendigerweise anhaftet, nicht wirklich in Frage stellen. Denn auch dem, was sie absoluten Anfang nennen, kommt eine unleugbare subjektive Dimension zu, wobei es gar nicht leicht ist, dafür eine passende Bezeichnung zu finden.

Dieses Faktum[, das von dem ersten Grundsatz der Philosophie ausgedrückt werden soll] muß in uns selbst vorgehen, und da es, wenn es allgemein einleuchtend sein soll, weder an eine bestimmte Erfahrung noch an ein gewisses Raisonnement gebunden sein darf, muß es deshalben alle möglichen Erfahrungen und alle Gedanken, deren wir uns bewusst sein können, begleiten können.

Bei Darstellung [der] Tathandlung ist weniger zu befürchten, daß man sich etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur unsers Geistes schon gesorgt – als, daß man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat.58

Die scheinbar nur terminologische Schwierigkeit, die am deutlichsten in der fichteschen Beschreibung der Tathandlung ersichtlich ist, verhüllt in der Tat die unmögliche Forderung, innerhalb einer kritischen Theorie, welche die Art, wie wir die Dinge erkennen, von der Weise unterscheidet, wie die Dinge an sich sind, für einen Erkenntnisakt Platz zu schaffen, der auf das Ansich des Ichs Zugriff hat. Dies ist allerdings nichts anderes als das Problem, auf das Kants Beschreibung der Apperzeption schon hinwies. Es wird lediglich dadurch etwas deutlicher und leichter erkennbar gemacht, dass man es durch eine vermeintliche Verdeutlichung jenes Begriffes aufzulösen versucht hat, was aber auf dessen Verkomplizierung hinausgelaufen ist.

Es wird wohl nicht überraschend sein, dass die eben präsentierte Ausdeutung der nachkantischen Debatte über die Apperzeption, die ich zunächst als meine eigene eingeführt habe, sich ebenfalls aus Hegels Auseinandersetzung mit deren Protagonisten gewinnen lässt.

Denn wer das tiefste Verständnis der kantischen Probleme hat, der ist auch imstande, den besten Überblick darüber zu erlangen, wie sich diese Probleme in der anschließenden Debatte entwickelt haben.

Die empiristisch-skeptische Interpretation der Apperzeption und allgemein der kantischen Philosophie, die hier als ihre einfachste bzw. naivste Lesart aufgefasst wurde, zieht Hegel in seiner Auseinandersetzung mit Schulzes Skeptizismus – in seinem Skeptizismusaufsatz – in Betracht. Wie schon erwähnt wurde, galt Schulze tatsächlich in den Jahren nach der

58 K. L. Reinhold, Beiträge 2003, S. 99; J. G. Fichte, Grundlage der Gesamten Wissenschaftslehre (1794) 1965, S.

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Veröffentlichung der KrV als der Hauptvertreter einer solchen Ansicht. Hegel fasst diese Deutung der KrV als eine Position auf, die Kants eigentlicher Philosophie weit unterlegen ist.

Denn Schulze lobt und unterstützt den Subjektivismus des kantischen Projekts, ohne die implizite Problematisierung dieses Subjektivismus, welche in Kants Philosophie hauptsächlich anhand des Begriffes der Apperzeption stattfindet, aufzunehmen.59 Da aber dieses In-Frage-Stellen des im kritischen Projekt enthaltenen Subjektivismus das wahrhaft Spekulative, nämlich den philosophischen Beitrag, der kantischen Philosophie darstellt, von dem ausgehend eine Überwindung der Beschränktheit jener Philosophie möglich ist, stellt sich Schulzes Ansatz als

Denn Schulze lobt und unterstützt den Subjektivismus des kantischen Projekts, ohne die implizite Problematisierung dieses Subjektivismus, welche in Kants Philosophie hauptsächlich anhand des Begriffes der Apperzeption stattfindet, aufzunehmen.59 Da aber dieses In-Frage-Stellen des im kritischen Projekt enthaltenen Subjektivismus das wahrhaft Spekulative, nämlich den philosophischen Beitrag, der kantischen Philosophie darstellt, von dem ausgehend eine Überwindung der Beschränktheit jener Philosophie möglich ist, stellt sich Schulzes Ansatz als

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