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Zusammenfassung: Stefan Andres und die Antike

4. ORIENTIERUNG AN DER ANTIKE

4.8. Zusammenfassung: Stefan Andres und die Antike

Überblickt man die antiken Elemente, die Andres in seinem Werk aufgenommen hat, so fällt auf, daß die griechische Kultur dominiert. Aus der römischen Welt interessiert vor allem die Sprache, was einerseits aus dem Weiterleben der lateinischen Sprache im Katholizismus erklärbar ist, andererseits aus Andres' eigener größerer Ver-trautheit mit dem Lateinischen. Die Rezeption der griechischen Antike kann keines-wegs umfassend genannt werden, sie orientiert sich an bewährten Traditionen und eigenen Interessen. Schwerpunkte sind Göttermythen, antike Stätten, philosophische Elemente aus platonischer Tradition, historische Reminiszenzen an das 5.Jahrhundert vor Christus in Athen, die Alexander-Zeit, schließlich Brennpunkte der Auseinander-setzung zwischen Antike und Christentum im 3. und 5.Jahrhundert. Hier wird auch der zuletzt entstandene Roman "Die Versuchung des Synesios" einzuordnen sein.

Die wenigsten Spuren hat die Begegnung mit der Antike in der literarischen Form bewirkt. Es überwiegen traditionelle Erzählweisen, die keine spezifischen Erneuerun-gen aus der Antike erkennen lassen. Dieses gilt auch für die in dieser Studie nicht

eigens untersuchte Lyrik. Auch das Versdrama "Tanz durchs Labyrinth" mit seinem Chor weist eher auf Traditionen der Antikenrezeption hin als auf das antike Drama selbst. Gerade hier wird erkennbar, daß Andres nicht am einzelnen tragischen Konflikt interessiert war, sondern an der Beziehung zu einer übergreifenden Ordnung.

Die Orientierung an der Antike bedeutet für Andres offensichtlich Befreiung und Erweiterung. Die Begegnung mit der Antike vermochte aus klerikaler Enge herauszu-helfen wie wohl auch aus dem Druck und der Not, glauben zu müssen. Selbsterkennt-nis und Selbstwerdung wurden so möglich, unabhängig von den vorgegebenen Zielen.

Die Begegnung mit der Antike bereichert und prägt das literarische Werk. Das gilt für dessen Stoffe, für seine Themen und Schauplätze, für seine Personen. Auch historische und kulturelle Realien stammen aus dieser Quelle. All dies regt die Vorstel-lungskraft an und bildet ein wichtiges Gegengewicht gegen die Übermacht des Biographischen.

Leitende Gesichtspunkte und Erfahrungen sind dabei die Entdeckung der Kunst als eines Bereichs, in dem das Religiöse anschaulich wird, so daß im Zusammenhang mit der Antike eine Religion der Kunst anklingt.

Das Element des Sinnlichen und Anschaulichen in der griechischen Antike ver-mag auch die überlieferte Heiligenverehrung zu klären als ein Urbedürfnis des Men-schen, das Heilige nicht nur abstrakt zu erfahren. Das Akzeptieren dieses Bedürfnisses führt zur Achtung des Menschlichen, auch in seiner Schwäche, was wiederum den Humor ermöglicht.

Heilige und Götter eignen sich im literarischen Werk, Abstraktes konkret werden zu lassen, Urkräfte und Urgegebenheiten zu symbolisieren. Aber über die poetische Funktion hinaus sind die Gestalten der griechischen Mythologie auch Anschauungs-formen für eigene religiöse Bedürfnisse und Erfahrungen. Sie gewinnen teilweise den-selben Rang wie Gestalten der christlichen Tradition.

Entscheidend ist, daß in den Mythen eine geistige Welt gesehen wird, die allem einzelnen zugrundeliegt und das einzelne aufzufangen vermag. Eine solche Welt stellt auch die Philosophie dar, auch der Künstler wirkt an ihr mit. Diese geistige Welt wird durch die Sprache tradiert, sie ermöglicht Teilhabe an sinngebenden und ordnenden Kräften.

Diesen ist auch der Lauf der Welt letztlich verpflichtet. Die Vorstellung von einer Schicksalsmacht klingt an, die kaum einmal personifiziert wird und daher eher aus an-tiker Tradition zu stammen scheint.

Auch in diesen an der Antike orientierten Werken dominiert das Opfermotiv. Die Hingabe des menschlichen Lebens wird immer erneut als notwendig und sinnvoll erachtet, sei es für eine Gemeinschaft, sei es für das Individuum selbst. Ob das Streben des philosophischen Menschen nach einem reineren Sein dargestellt wird oder die stoische Beurteilung einer Lebenssituation das Zeichen zum Rückzug gibt oder ob ab-solute Werte nicht mehr im Leben, sondern allein im Sterben bewahrt werden können, überall fällt die Entscheidung für den Tod. In religiös-philosophischem Kontext soll durch ihn ein Ganzes wiederhergestellt werden; aber der Tod ist für Andres wohl generell etwas, das ihn fasziniert, - darf man von einer Todessehnsucht sprechen?

Platons Philosophie bedeutet die Konstituierung einer geistigen Welt, die allem beschränkten und vergänglichem Sein entgegengesetzt ist, die das Böse als etwas Defizitäres erweist, dem keine eigene Seinsqualität zukommt. Platonisches Denken steht auch für die Sinnhaftigkeit des Lebens und seine Transzendierbarkeit, wobei vor allem die Liebe entscheidende Kraft ist.

Wenn in diesen Zusammenhängen von Plotin die Rede ist, so steht er für dasselbe Anliegen, die religiöse Implikation verstärkend. Eine differenzierende Rezeption findet sich in den literarischen Werken nicht. Andererseits beruft sich Andres an anderer Stelle, nach seinem Glauben befragt, explizit auf Plotin: Dessen

"Dreifaltigkeitslehre" sei in allen großen Religionen wirksam 44.

Die antiken Traditionen stellen für Andres also eine Erweiterung seiner Stoffe und Themen dar, Mythos und Philosophie haben deutende und bindende Kraft.

44 Daran glaube ich, in: Eine Einführung in sein Werk, S.45.

5. "WIR SIND UTOPIA"

Im Gegensatz zu vielen anderen Werken von Stefan Andres, die geringe Resonanz gefunden haben, wird diese Novelle nahezu bei jeder Erwähnung des Autors genannt oder behandelt. Der Grund dafür liegt in ihrer Komplexität und Vielfalt. We-sentliche Elemente darin stammen aus antiker und christlicher Tradition, so daß die Wahrnehmung dieser Bereiche einen angemessenen Zugang zu der Novelle vermitteln kann.

Deren lebhafte Rezeption setzt mit dem Erscheinen im Jahr 1942 ein und dauert bis in die Gegenwart an. Sie ist von unterschiedlichen Aspekten und Urteilen be-stimmt, die auch Traditionszusammenhänge erkennen lassen. Die Interpretation der Novelle soll daher mit der Darstellung der Rezeption beginnen, um einerseits die ver-schiedenen Standorte und Aspekte der Rezipienten zu klären, um andererseits die zentralen Probleme offenzulegen, die die Novelle aufwirft.