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4. ORIENTIERUNG AN DER ANTIKE

6.1. Antike Elemente

6. "DIE VERSUCHUNG DES SYNESIOS"

Der Plan zu diesem letzten Prosawerk über den griechischen Kirchenvater Synesios von Kyrene, das erst nach dem Tod veröffentlicht wurde 1, findet sich bereits in dem Roman "Der graue Regenbogen" (1959):..."ich werde an dir und Hypatia zei-gen, zu welcher Tiefe und Weitherzigkeit, Schönheit und Unbefangenheit das Christentum einmal fähig war" (S.386). In einem Brief an Kerényi im April 1960 er-wähnt Dorothee Andres die umfangreichen Studien, die für die Gestaltung des Stoffes notwendig seien, bis hin zu einer Reise in die Kyrenaika nach Lybien.

Daß Andres von dieser Gestalt der Kirchengeschichte fasziniert war, ergibt sich aus deren besonderer Position. Denn der neuplatonische Philosoph aus einer alten dorischen Adelsfamilie, der zum christlichen Bischof wird, repräsentiert eine Bezie-hung zwischen Antike und Christentum, in der beide Bereiche Gewicht haben und sich gegenseitig durchdringen.

Im Mittelpunkt des Romans steht Synesios. Erzählt wird in der Ich-Form aus der Perspektive seiner Frau Prisca. Dadurch bleibt Distanz gewahrt; historische Daten und Quellen behalten Geltung. Das Geschehen beginnt mit der Ankunft der Prisca in Alexandria, ihre und des Synesios' Geschichte wird in der Rückschau chronologisch bis zum Untergang des Synesios dargestellt.

Für die Interpretation sollen die gewohnten Leitgesichtspunkte gelten. Es werden also zunächst die antiken, sodann die christlichen Elemente, die den Roman bestim-men, aufgeführt. Anschließend ist der Weg des Synesios zum Amt des christlichen Bischofs zu deuten. Unabhängig von bereits in diesen Teilen notwendigen Hinweisen auf den historischen Synesios soll die Verarbeitung der Quellen in einem weiteren Schritt untersucht und vergleichend dargestellt werden. Daraus wird sich eine zusam-menfassende Deutung ableiten lassen.

gefährlicher Kämpfer also, leidenschaftlich und egoistisch. Der Doroshof - der Name verweist auf die Herkunft der Familie des Synesios aus dem dorischen Griechenland -bildet den Ausgangspunkt für das Geschehen und erinnert an ein Mykene, in dem der heidnische Großvater Doros oder auch Synesios herrschen nach Art homerischer Für-sten. So gilt in der Bevölkerung Agamemnon als noch jetzt lebender König (S.134).

Und Synesios führt seine Abstammung auf den Gott Poseidon zurück (S.95).

Ein weiteres Motiv aus dem trojanischen Sagenkreis ist das hölzerne Pferd.

Volkslieder wissen, daß es von Doros gezimmert worden ist; es wird als Symbol des Untergangs verstanden (S.323). Von diesem hölzernen Pferd träumt Synesios als Bischof und sieht darin einen Hinweis auf seine neue Situation, die durch die eigene heidnische Vergangenheit bedroht ist (S.337 f.). Zerstörerische Elemente der antiken Welt - diese Geschichtsdeutungen bleiben in der Schwebe. Synesios versteht den Traum darüber hinaus als Bestätigung seines Vertrauens zu seinem ihm untergebenen Diakon, der wie der trojanische Priester den Namen Laokoon trägt. Doch dieser ist ein Werkzeug seines Feindes Andronikos. "Laokoon und die Schlangen" (S.421-450) heißt schließlich das Kapitel, in dem die Überwindung des Feindes durch die Realisierung des christlichen Liebesgebots dargestellt wird. Die Doppeldeutigkeit des Schlangen-motivs klingt an: Zeichen des Bösen wie seiner Überwindung.

An die Sagen um Troja erinnert auch Kassandra, wie sich die Erzählerin des Ro-mans, die Frau des Synesios, Prisca, selbst nennt, eine christliche Kassandra. Ihr Wis-sen besteht darin, daß sie zum einen von der Vergeblichkeit und Folgelosigkeit der christlichen Liebeshandlung überzeugt ist, zum anderen davon, daß ihre Zeit dem Ende zugeht. Aber die Spannung beider Inhalte vermag sie nicht durchzuhalten zu propheti-scher Steigerung, da sie leben will, "eine Kleinbürgerin...,die, nachdem sie ihre Hoff-nung begraben hat, ihre Küchenkräuter aussät" (S.485).

Die Sagen um den Kampf der Griechen gegen die Trojaner bilden also den Hin-tergrund, auf dem sich die im Roman geschilderte Kampfhandlung zwischen politischer Macht und christlicher Kirche abhebt. Dieser Bezug befreit die Handlung von ihrer historischen Einmaligkeit, öffnet den Blick für neue mögliche Varianten der alten Menschheitskonstante Kampf.

Von den griechischen Mythen, die das Verhältnis zwischen Göttern und Men-schen behandeln, begegnet vor allem der der Niobe. Als Niobe wird die Icherzählerin des Romans bezeichnet, eine Mutter, die den Verlust all ihrer Kinder hinnehmen muß.

Daß es Götterpfeile waren, die sie töteten, herausgefordert durch menschliche Über-heblichkeit, - wo liegt die Parallele zur Situation der Erzählerin? Allenfalls hat sie in bedrängter Lage die Kinder in ihre Angst hineingezogen, hat ihnen ihr natürliches

Gesichertsein erschüttert, hat sie hingewiesen auf das Böse. So wären denn Tod und Verlust bereits mit dem Erkennen und Begreifen der Bedingungen menschlichen Le-bens verbunden, der Niobe-Mythos ein Symbol für die Verfallenheit an Schicksal und Tod.

Unter den Gottheiten der Antike ragt Artemis hervor. Synesios betet nach der Geburt seines Sohnes zu der als Geburtshelferin verehrten Göttin und nennt sie

"Artemis-Maria" (S.198). Ähnlich begegnet Dionysos in der bekannten Beziehung zu Christus: Aus einem Gefäß mit Dionysosdarstellungen empfängt die Erzählerin die Eucharistie (S.41). An anderer Stelle stehen Dionysos und Christus für die Hoffnung auf eine Veränderung der Menschennatur (S.352).

Erwähnt werden außerdem Apoll, Athene, Poseidon, Hera, Hermes, Zeus, die Nymphen, schließlich Äolus, bei dem nach einer Erzählung der Prisca der christliche Patriarch von Alexandria freundliche Winde für die Seereise des Synesios bestellt.

Nach einer römischen Erntegöttin nennt Prisca das von ihr gefundene neugeborene Mädchen, weil diese Tutulina eine zuverlässige Schutzgöttin sei (S.83).

Von Bedeutung ist auch die Gestalt des Pan. Von ihm, seiner Frau und deren Verlockungen erzählt der Christ Laokoon und überträgt so seine sexuellen Obsessio-nen (S.285). Im Zusammenhang mit der Romanhandlung wird Pan zu einem Motiv:

Eine Stätte auf dem Weg zum Doroshof unter einer Eiche mit ihrem Durchblick durch das Blattwerk ins Licht heißt "Zum blinzelnden Pan" (S.64). Hier machen Synesios und Prisca Halt auf dem Weg zum Doroshof, hier feiern sie ihr Wiedersehen, das von Vorahnungen des Todes gezeichnet ist, hier wird ihr Sohn ermordet. Die Christin Prisca hat das Blinzeln Pans erfahren, beglückend zunächst, verzehrend am Ende.

Der Umgang mit den Göttergestalten ist unterschiedlich: Im Volk gibt es noch den Glauben an ihre alte Wirkkraft, auch bei Christen, die ihr Vertrauen darauf nicht aufgeben wollen. Eine andere christliche Position behauptet, daß die Götter früher ge-herrscht hätten, von Christus aber entmachtet und zu Dämonen und Spukgeistern de-gradiert worden seien. Kritische Stimmen bezeichnen zumindest die homerischen Er-zählungen als Lügen; gelegentlich fungieren die alten Mythen auch als Nachweis von Bildung und Wissen. Neben einem spielerischen Umgang etwa bei Prisca findet sich bei ihr auch, daß religiöse Erfahrungen die Form der alten Mythen haben. Dann kön-nen sie neben christlichen Glaubensformen bestehen bleiben oder sich mit ihkön-nen ver-binden. Das ist vor allem die Auffassung des Synesios, daß zudem viele christliche Mythen aus der antiken Religion stammen, daß christliche wie heidnische Mythen der-selben göttlichen Wahrheit angehören. Ihre Sprache sei das Bild, das viele Menschen

notwendig brauchen, "deren Seelen"..."nicht losgelöst von sich selbst denken können"

(S.199).

Neben den Sagen ist die Welt des Romans von Zeugnissen der antiken, besonders der griechischen Literatur bestimmt. Homer wird genannt, Hesiod, die Tragiker, Solon, Alkaios und Kallimachos, wobei Synesios sich den beiden letzten verwandt erklärt.

Epikur und Lukrez sind, wohl wegen ihrer Aussagen über die Götter, kaum gelesen, was das Handlungselement ermöglicht, daß der verräterische Verwalter die eingenom-menen Bestechungsgelder hinter diesen Buchrollen versteckt (S.246 f.). Von der Lite-ratur der zweiten Sophistik wird gesagt, daß hier die Welt mit Absicht durch eine un-gewöhnliche bzw. verengte Perspektive gesehen werde, um die Umwelt sowie falsches und einseitiges Erkennen zu kritisieren (S.178). Synesios schätzt als Vertreter dieser Richtung Dion Chrysostomos, den "Wanderprediger" unter der "kynischen" Maske (S.178). Seine eigene Schrift "Über die Kahlheit" ist dieser Tradition verpflichtet.

Eine wichtige Position für sozial-politische Fragen und Lebensformen nimmt der Sophist Antiphon ein mit seiner Behauptung der prinzipiellen Gleichheit aller Men-schen. "Was wäre aus den Griechen geworden, aus den Römern, aus den Christen, wenn sie Antiphon ernst genommen hätten!" (S.231) Die Gegnerschaft gegen die Skla-venhaltung findet sich bei dem Heiden Synesios ebenso wie bei christlichen Politikern.

Angesichts der feindlichen Belagerung entsteht auf dem Doroshof eine Gemeinschaft, die auf die Mitarbeit aller gegründet ist, auch religiöse Toleranz erfordert. Hier wird auf eine Tradition verwiesen, die bereits Doros gepflegt habe, indem für das Verhältnis zwischen Herr und Knecht der Satz grundlegend war: "Ihr gehört mir, ich gehöre euch - wir alle gehören den Göttern" (S.78). Daß Doros hier Paulus vorwegnimmt (1. Kor 3,22f), ist unüberhörbar. Antike und Christentum formulieren den Anspruch auf eine Ordnung, die den einzelnen achtet, im Blick auf eine transzendente Macht. Aus beiden Traditionen gemischt scheinen die Sätze, mit denen Synesios seine Sklaven in die Freiheit entläßt:"Absolvo te!" und "Erkenne dich selbst und folge dem Gott" (S.268).

Im Zentrum der geistigen Welt stehen Platon und Plotin. Von den Schriften des ersteren begegnet vor allem der "Phaidon": Bei der Lesung dieses Werkes wird Hypa-tia von den Mönchshorden überfallen. Die Lehre vom freudigen Sterben des Philoso-phen und von der Unsterblichkeit der Seele steht in schärfstem Kontrast zu der ekeler-regenden und brutalen Ermordung. Aus Verehrung für diese Schrift nennen Synesios und Prisca ihren ersten Sohn Phaidon; dessen letzte Gedanken vor seinem frühen Tod gelten den Beziehungen der Menschenseele zum Kosmos. Klingt hier und an anderer Stelle vor allem der "Timaios" an, so dient die Erinnerung an den Mythos von den

Ku-gelmenschen aus dem "Symposion" dazu, die tiefe Verbundenheit zwischen Synesios und Prisca zu empfinden und auszudrücken (S.146).

Personifiziert erscheint Platonisches in der Gestalt der Hypatia, Leiterin der Aka-demie in Alexandria, Lehrerin des Synesios. Ihr Tod am Anfang des Romans setzt dunkle Akzente und symbolisiert den Untergang einer Welt, in den die Erzählerin ihre und des Synesios' tragische Geschichte einträgt. Als Vertreterin der Philosophie bleibt Hypatia das Gegenüber zum Weg des Synesios ins christliche Bischofsamt.

Von ihr, Platon, Plotin und dem Neuplatonismus stammen die Grundlagen seines Denkens, ohne daß sich ein geschlossenes System ablesen ließe. Zu nennen sind: die Vorstellung von einer allmächtigen Gottheit, von einer ewig bestehenden Welt, von einem Logos, der die Welt durchwaltet, von der ungewordenen und unsterblichen Seele, die nach dem Maß ihrer Lebensführung in anderen Lebewesen wiedergeboren wird, von der Verpflichtung zu verantwortlicher Lebensführung, von der Beziehung zwischen Mensch, Kosmos und Gottheit. Dabei bilden Abstieg und Aufstieg ein wesentliches Grundmuster, für den Logos ebenso wie für die Seele, die nach Erkennt-nis und Gottesnähe strebt (S. 74 f.). Wichtig für das Handeln des Synesios wie für den Aufbau des Romans ist der Glaube, daß Träume den Blick zu öffnen vermögen für tie-fere Zusammenhänge der Welt, denen die unsterbliche Seele verbunden ist.

Während Sokrates nur am Rande erwähnt wird, als zu Unrecht Verurteilter und insofern mit Jesus zu vergleichen (S.265), wird auf die Bewegung des Kynismus mehr-fach Bezug genommen. Es wird erwähnt, daß Synesios den Bart so trägt wie der dem Kynismus verpflichtete Julian Apostata. Auch bei Dion gab es Beziehungen. Wichtiger aber sind die Menschengruppen, denen Synesios im Sinne einer herausfordernden Konfrontation begegnet. Die bedürfnislosen Kyniker, die freiwillig im Elend leben, stellen das Philosophenleben des Synesios in Frage, indem sie etwa seine epigonale Dichtung kritisieren sowie den gesamten kulturellen Betrieb. Die Anfrage gilt auch seiner materiellen Grundlage, die es leicht mache, philosophisch zu leben. So weist einer der Bettelphilosophen, "Kopf-Füßler" oder "Nackten", das Geldgeschenk des Synesios als Zeichen seines schlechten Gewissens zurück (S.58).

Zu diesen Kynikern gesellen sich Menschen, die durch die Politik in die Armut getrieben wurden, auch Christen. Sie benutzen die Bergpredigt zum Kampf gegen alle Reichen und Mächtigen und stellen an Synesios die Frage, ob der so schwer erschüt-terte Frieden nicht durch Gewaltlosigkeit zu erreichen sei. Bei allen Begegnungen wird sichtbar, daß Synesios verwirrt wird durch die Richtigkeit vieler Positionen innerhalb dieser Bewegung, daß aber die Form ihn abstößt, der Verzicht etwa auf kulturelle und ästhetische Traditionen, der Verzicht auf das Schamgefühl, die Würde des einzelnen.

Weder Platon noch Christus, auf die die Nackten sich berufen, würden angemessen rezipiert (S.190). Und doch sind dies die Menschen, die seinen Kampf gegen Androni-kos unterstützen, den Bann gegen ihn enthusiastisch feiern.