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Literaturwissenschaftliche Rezeption

4. ORIENTIERUNG AN DER ANTIKE

5.1. Rezeption

5.1.2. Literaturwissenschaftliche Rezeption

Dienten die Zeugnisse von Käte Lorenzen und Gerhard Storz bisher dazu, die Rezeption von Zeitgenossen zu belegen, so stehen die späteren Stellungnahmen der beiden Literaturwissenschaftler im Zusammenhang mit der "werkimmanenten Interpre-tationsrichtung" (Lorenzen, Anm. 4, S.136). Jetzt wird die künstlerisch-sprachliche Gestalt Grundlage der Auslegung. Dabei formuliert vor allem Gerhard Storz 8 Beobachtungen, die nahezu überall, vor allem auch in den Interpretationen für den Deutschunterricht, übernommen worden sind. Es handelt sich um das erzählerische Mittel der Rückblende sowie der "erlebten Rede". Letztere wird als wesentliches Merkmal der Novelle herausgearbeitet, sie bewirke "Unmittelbarkeit und Spiegelung zugleich" (Storz 1973, S.146). Andres habe sie in dieser Novelle meisterhaft gehand-habt.

Für die hier formulierte positive Beurteilung der sprachlichen Gestalt gibt es viele weitere Belege: Als "bewundernswerte, in Atmosphäre, Gedanklichkeit und Sprach-zucht gleich vollkommene Erzählung" bezeichnet Fritz Martini "Wir sind Utopia"9. Eine ganz andere Beurteilung findet sich bei Johannes Pfeiffer 10, dem allerdings die

7 Hadley (a.a.O.) führt aus, daß der brutale "kommunistische Offizier Pedro" auch geeignet sein konnte, den Antikommunismus des Dritten Reiches zu unterstützen (S.252).

8 Gerhard Storz: Über den 'Monologue interieur' oder Die 'Erlebte Rede', in:Der Deutschunterricht, Jg.1955, H.1,S.41-53. ders.:Rückblick auf "Wir sind Utopia", in: Utopia und Welterfahrung, München 1973 2.Aufl., S.142-146.

9 Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1958 9.Aufl., S.586.

10 Johannes Pfeiffer: Wege zur Erzählkunst, Hamburg 1960 5.Aufl. ( 1. Aufl. 1953).

Forschungen von Storz noch nicht zugänglich sein konnten und der u.a. den mit der

"erlebten Rede" verbundenen Tempuswechsel moniert (S.144). Pfeiffer stellt ein generelles Mißverhältnis zwischen Gehalt und sprachlicher Gestalt fest und fällt ver-nichtende Urteile: "feuilletonistische Zerschlissenheit" (S.142), "formlos bis zur Schlurigkeit" (S.142f.). Ausgenommen ist lediglich die Gestalt des Padre Damiano, der er Überzeugungskraft und prägnante Formung zugesteht.

An der Beurteilung dieser Gestalt scheiden sich die Geister. Während Pfeiffers Urteil nicht allein auf dem sprachlich-literarischen Befund beruht, sondern inhaltliche Elemente mit berücksichtigt, so sind es diese Inhalte, die insbesondere eine christlich orientierte Interpretation herausfordern. Wilhelm Grenzmann 11, der von einem

"Priesterroman" (S.285) spricht, in dem der Durchbruch des Sakraments im Menschen dargestellt werde sowie das Gewicht eines unaufhebbaren Auftrags, stellt vor allem die Gestalt des Damiano in Frage (S.288). Und im Lexikon der christlichen Weltliteratur 12 heißt es: "Die geistig wie künstlerisch schwächste Stelle ist die Rede Padre Damianos, durch dessen Mund der Dichter sein eigenes, etwas verworrenes Credo spricht"

(S.183).

Einen offeneren Bezugsrahmen hat die 1952 publizierte Interpretation von Walter Franke 13, die sich zur Erschließung der bedeutsamen Form bekennt. Dieser Form-Begriff ist sehr weit gefaßt und schließt inhaltliche Motive und Elemente mit ein. Ziel der Erschließung ist es, Wahrheit und innere Notwendigkeit erfahrbar zu machen, die den Leser im eigenen Selbst trifft und zur Entscheidung zwingt. Der Rahmen stammt also hier aus existenzphilosophischer Perspektive. So ist von dem "geworfenen Men-schen" (S.79) die Rede, und davon, daß die Novelle "den metaphysischen Ort der Ge-genwart" auslote und den Menschen "vor Grundeinsichten und Grundentscheidungen seines Lebens" stelle (S.85). Die Interpretation ist dabei insgesamt sehr eingehend und setzt meiner Auffassung nach richtige Akzente, indem der Aspekt der Gnadenhandlung Gottes in den Mittelpunkt gerückt wird, die Paco vom Mord seines Beichtigers befreit und zu dem von ihm ersehnten Ziel gelangen läßt. Wichtig ist auch der Hinweis, daß auch im Bereich des Heiligen der Mensch schwach und schuldig bleibt, was sich in

11 Wilhelm Grenzmann: Dichtung und Glaube, Frankfurt 1964 5.Aufl. (1. Aufl. Bonn 1950), S.281-305: Stefan Andres: Gesetz und Freiheit.

12 Gisbert Kranz: Lexikon der christlichen Weltliteratur, Freiburg, Basel, Wien 1978, Sp.181f: Andres, Stefan.

13 Walter Franke: Stefan Andres: Wir sind Utopia, in: Der Deutschunterricht, 4, 1952, Heft 6, S.69-87.

Diese Interpretation wird wegen ihrer Bedeutung an dieser Stelle behandelt, obwohl sie auch dem didaktischen Bereich zugeordnet werden kann.

ironischen Elementen erweise (S.84). Nicht klar genug erscheinen mir indessen die Zusammenhänge, die zwischen Pacos Utopia, Damianos Utopia und der Gnadenhand-lung des Schlusses bestehen.

Wiederum zu anderen Aussagen gelangt Johannes Klein 14 bei seiner Betrachtung der Novelle. Entscheidend sei, daß hier ein Augenblick der Innerlichkeit 15 höher be-wertet werde als alles andere, daß ein Mensch erkannt habe, daß es besser sei, sich töten zu lassen als zu töten. Hinter Paco und Pedro, die beide nicht als gläubige Christen bezeichnet werden könnten, liege letztlich der Anspruch eines Unbekannten und Ewigen, das die Liebe sei. Das eben sei das Utopische, mit dem der Mensch in jeder Situation anfangen könne, auch in der Unmenschlichkeit diese Jahrhunderts.

Anders als Franke sieht also auch Klein bei Paco die Entscheidung gegeben, den Gegner Pedro zu schonen. Ähnlich deutet auch Josef Bengeser 16 sein Verhalten, daß er sich zur Liebesethik Damianos durchgerungen habe. Dabei wird jedoch Damianos Maxime "alles ist euer, ihr aber seid Gottes" meines Erachtens in ihrem zweiten Teil nicht hinreichend berücksichtigt. Auch das bei Bengeser wiedergegebene Gespräch mit dem Autor am 23.2.1956 (S.69), in dem dieser die Entdeckung des Messers eine

"Epiphanie" nennt, weist in eine andere Richtung. Insgesamt scheint mir die Interpre-tation zu sehr auf das Problem der Sittlichkeit konzentriert.

Wiederum auf existenzphilosophischen Zusammenhang bezogen ist die Deutung von Josef Kunz aus dem Jahr 1977 17. Das zeigt sich in der Betonung der Kategorie der Begegnung (S.128), sowie darin, daß Paco in der Situation der Entscheidung gesehen wird, zwischen "utopisch-schicksalloser Freiheit" und "Gebundenheit und Gehorsam"

(S.126). Kunz deutet Paco als sowohl zur Abnahme der Beichte als auch zum Mord entschlossen; die Novelle enthalte damit ein "uneingeschränktes Ja zu der fragilitas humanae conditionis" (S.130). Die Entdeckung des Messers wird dabei lediglich als ein Zufall gedeutet, der Paco die Tötung erspart. Entscheidend bei dieser Deutung ist die inhaltliche Aussage, die formalen Aspekte werden durch einen Hinweis auf Pfeiffer abgehandelt, dessen scharfe Kritik zwar abgelehnt wird, dessen Bedenken aber

14 Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle. Von Goethe bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1960, S.589-597: Stefan Andres, 1. Aufl. 1954.

15 "Innerlichkeit" steht auch bei Guder im Zentrum der Deutung: Wir sind Utopia, in: Modern Languages, 36, (1954/55), S.22-24.

16 Josef Bengeser: Schuld und Schicksal. Interpretationen zeitgenössischer Dichtung, Bamberg 1959, S.31-72: Stefan Andres, Wir sind Utopia.

17 Josef Kunz: Wir sind Utopia (1943), in: Wilhelm Große (Hrsg.): Stefan Andres, Trier 1980, S.125-131.

nicht ganz zurückgewiesen werden können, "vor allem was den Aufbau der Handlung angeht" (S.131).

Eine Wende der Rezeption stellen die Forschungen von Karl O. Nordstrand dar.

Im Zusammenhang mit zeitgeschichtlichen Tendenzen setzt die Berücksichtigung der politischen Dimension im Leben und Schreiben von Stefan Andres ein. Nordstrand führt in seinem 1969 erschienenen Aufsatz vor allem an der Novelle "El Greco malt den Großinquisitor" aus, daß Andres in diesen Werken konkret auf politisches Gesche-hen hinweise, "inneren Widerstand" leiste und dazu auffordere. Eine unkritische Über-nahme dieser Position findet sich bei Käte Lorenzen 18. Das stärker gewordene politisch-soziale Interesse konnte auch dazu führen, daß "Wir sind Utopia" wegen seiner politischen Unschärfe negativ gesehen wurde. So bezeichnet Wilhelm Grenz-mann 1990 als negative Merkmale "die Tendenz" der Novelle, wie er das Werk jetzt nennt, "zu Verinnerlichung und zeitgeschichtlicher Irrealität"19.

Nordstrands Ansatz wurde vor allem von Hans Wagener aufgenommen, der von

"Widerstandsliteratur" spricht 20. Eine gründlich recherchierte Weiterführung stellt der Aufsatz von Michael Hadley dar 21. Hadley erläutert, vor allem auch auf die Frankfurter Zeitung bezogen, den literarischen und politischen Kontext, in dem die Novelle erschien und rezipiert wurde.

Dabei rücken sowohl Wagener als auch Hadley den Verzicht auf die Ermordung des Gegners und die Befreiung der Mithäftlinge in den Mittelpunkt ihrer Deutung, wobei Wagener den Gehorsam gegen Christi Gebot betont, Hadley die Entscheidung für geistige Werte. In beiden Fällen ist der Verweis auf eine höhere Wahrheit oder Ordnung entscheidend, die der politisch-realen Welt entgegentritt.

Daß in diesen Verweisen zur Zeit der Veröffentlichung der Novelle Trost und Hilfe gesehen wurden, belegen die zeitgenössischen Zeugnisse. Für die Charakterisierung der Novelle als Widerstandsliteratur ist diese Deutung jedoch eher hinderlich, da das Opfer, wenigstens zunächst, eher den Gehorsam stärkt und nicht zur Opposition und Abschaffung der Gewalt aufruft.

18 Käte Lorenzen: Stefan Andres, in: Deutsche Dichter der Gegenwart. Ihr Leben und Werk, Berlin 1973, S.183-194.

19 Wilhelm Grenzmann: Andres, Stefan, in: Moser, Dietz-Rüdiger (Hrsg.): Neues Handbuch der Gegenwartsliteratur seit 1945, München 1990, S.24.

20 Hans Wagener: Stefan Andres. Widerstand gegen die Sintflut, in: Wilhelm Große (Hrsg): Stefan Andres, Trier 1980.

21 s. Anm. 1.

Karl Eibl 22 hat sich dieser Problematik gründlicher angenommen. Er bestreitet zunächst die Kategorie des Widerstands als hilfreich für das Verständnis von Literatur, die gerade nicht die Funktion habe, Medium einer bestimmten Anweisung oder moralisch-politischen Botschaft zu sein. Vielmehr komme ihr oft eine

"komplementäre" (S.216) Funktion zu, indem sie Orte der Verständigung und der Re-flexion schafft. Zum anderen deutet Eibl das Verhalten Pacos nicht als religiös-geistigen Verzicht auf den Mord, sondern weist am Text nach, daß Paco sehr wohl zum Handeln entschlossen war, ihm aber das Messer entrungen wurde. Das wird indi-viduell als Befreiung erlebt, stellt jedoch auch nach Pacos eigener Auffassung keine angemessene Lösung des Konflikts dar, vielmehr bleibt das Bewußtsein von Schuld und Scham. Das Problem liege in der Spannung zwischen "innerweltlicher Verantwortung und Heilserwartung" (S.230). Wenn letztere auch den moralischen Sinn schärfe und Kraft schenke zum Widerstand, so könne sie auch so weit von innerweltlicher Verantwortung entlasten, daß sie als ein Einverständnis mit den herr-schenden Mächten angesehen werden könnte. Die politische Dimension der Novelle liege in ihrem Aufruf zur Verständigung unter den Gegnern einer brutalen Macht, in ihrem Appell an diejenigen, denen die Möglichkeit zum Widerstand nicht genommen wurde, schließlich in der Abrechnung mit dem eigenen Versagen wie mit dem des Gegners, das in der Sündennatur des Menschen begründet liegt. Damit sei nicht etwa eine einfache Entschuldigungspraxis für die Nachkriegszeit gemeint.

So richtig und differenziert die politischen Dimensionen hier herausgearbeitet sind, so scheint mir der religiöse Aspekt nicht hinreichend berücksichtigt: Nicht die

"vita activa" (S.226) steht meines Erachtens im Mittelpunkt, sondern eine, die um Ver-stehen ringt zwischen Handeln und Erfahren. Zu Recht rückt daher Klapper 23 die religiöse Dimension wieder mehr in den Vordergrund, wenn er die Novelle unter der Perspektive des christlichen Existentialismus deutet. Er sieht Paco in die Entscheidung gestellt zwischen Flucht und Gefangenenbefreiung einerseits, Nachfolge Christi durch Vergebung und Selbstopfer andererseits. Doch scheint mir fraglich, ob die Christus-aussagen der Novelle diese Deutung unterstützen.

22 s.Anm. 1.

23 Klapper (1995), S.82-84.