• Keine Ergebnisse gefunden

4. ORIENTIERUNG AN DER ANTIKE

4.3. Griechische Götter

4.3.2. Hera

zu sein, wobei die Frau der Ruhm des Mannes wird, sich die Verhältnisse also umkehren.

Als Begründung für diese Auffassung von Liebe dient Hera, die nach griechischer Auffassung für die eheliche Liebe zuständig war. Das in der Novelle ver-wandte Bild jedoch, das die üblichen Mythen über das Verhältnis von Himmel und Erde seltsam variiert, stammt von Andres selbst: Himmel und Erde sind Hera, die Erde ihr Körper, der Himmel ihr Auge, das golden und rund ist in der Erfülltheit durch die Ehe. Sie ist die göttliche Hälfte, die zur Ganzheit des Partners bedarf.

Das Thema Kunst wird breit entfaltet. Wieder gibt es den eher komödienhaften Aspekt, daß die naturgetreue Wiedergabe für Zauberei erachtet wird. Im übrigen wer-den verschiewer-dene Positionen dargelegt: Gundwangen hatte während seiner Ehe Bilder gemalt, die nach Agathas Auffassung Kopien und Kompilationen verschiedenster Stile darstellten. Dabei handelte es sich noch um die Wiedergabe von Gegenständlichem.

Nachdem Lisa ihn verlassen hatte, mit der Prophezeiung, er werde über diese Bilder nie hinauskommen, da sie immerhin noch von ihrem Glauben an ihn erfüllt seien, ändert er radikal seinen Stil. Er orientiert sich nicht mehr am Gegebenen, sondern schafft abstrakt aus eigener Kraft seine Welt 18. Agatha nennt die so entstandenen Werke "Ikonen des Teufels" (S.413), da sie die Beziehung zur Natur verloren haben und leblose Konstrukte geworden sind. Mit keinem dieser Werke mag sie sich in ihrer frei gewählten Klosterzelle umgeben, obwohl Gundwangen, nach Anerkennung suchend, ihr all seine Werke geschickt hat. Agatha selbst hat sich wie im Leben so auch in der Kunst zurückgezogen und sich zunächst darin geschult, Ikonen wiederzu-geben. Denn in der Ikonenmalerei empfindet sie über das Individuelle und Einmalige hinaus die Anwesenheit von Gesetzen und Ideen, die in den Bereich des Heiligen greifen. Eine solche Auffassung, die in Andres' Werken über Künstler und Kunst immer wieder begegnet, versucht sie nun auch in der Wiedergabe von Szenen ihrer Umwelt zu realisieren.

Wie für die Liebe so ist auch für die Kunst Hera zentrales Symbol. Um Gund-wangen von seiner naturfernen Kopflastigkeit und Verkrampftheit zu befreien,

18 Die hier begegnende negative Bewertung von "abstrakter" Malerei entsprach Andres' eigener Auffassung, wie sie von Hans Gerhard Enssle wiedergegeben wird: H.G. Enssle: Stefan Andres und sein originales Bild, in: Mitteilungen der Stefan-Andres-Gesellschaft, Heft IV, 1983, S. 22--35. Hier findet sich auch ein Hinweis auf Andres' positive Einstellung zu Max Beckmann. Ob sie mit

Beckmanns Rezeption der Antike zu tun hat, die wesentlich von Lothar Helbing (Der dritte Humanismus) beeinflußt war, den auch Andres kannte?

verweist Agatha auf den Brunnen der Hera. Die Sagen um ihn vedeutlichen die Not-wendigkeit der Erneuerung der inneren Sehkraft, ohne die kein Maler sein könne. Dazu gehöre auch das Naturgesetz der Brache, die gelassen ausgehalten werden müsse und nicht durch Fleiß übersprungen werden könne. Hera steht auch für die Notwendigkeit, die Natur wahrzunehmen, die in ihr waltenden Bewegungen und Gesetze.

Im Hera-Symbol sind Liebe und Kunst zusammengenommen, deren Verflechtung ja auch Problematik und Handlung der Erzählung bestimmt. Andres verwendet dafür ein weiteres Bild, das einen Traum Gundwangens ausmacht: Mit einem Pinsel voller Gold malt er ein riesiges Frauenbild, aber es gelingt ihm immer nur zur Hälfte, da ab-wechselnd aus dem jeweils schwarz werdenden Auge schwarze Farbe über die eben erst eingefärbte Körperhälfte rinnt. Hier realisiere sich der Fluch der Hera, so lautet die spätere Deutung, der, wenn die Hälften keine Entsprechung erlauben, keine Kunst mehr zulasse.

Ein weiteres Traumbild sei erwähnt: Gundwangen sieht, wie Agatha ihm ein Stück Seil reicht, das einem gefrorenen Wasserbogen ähnelt, während hinter ihr eine ihr gleiche große Frau mit kongruenten Bewegungen eine schwarze Schlange hält. Will das Bild an die Schlange erinnern, die zunächst straft, in der Hand des Moses schließ-lich rettet, ein bei Andres häufiger vorkommendes Motiv? Sicher hat das Bild mit Gundwangens Schuld und möglicher Todesgefährdung, sei es in der Kunst oder im Leben, zu tun, andererseits scheinen mir seine Elemente weder genau auflösbar, noch auch deutbar. Vielleicht ist dieses Bild wie das, das die Liebe symbolisiert, als freie Erweiterung des Hera-Mythos zu verstehen, wobei in assoziativer Reihung Bilder weitere Bilder erzeugen.

Für die Frage, ob die Hera-Gestalt und die sie begleitenden Phantasien allein den poetischen Bereich meinen oder ob sie darüber hinaus religiösen Gehalt haben, dafür ist die Stelle aufschlußreich, an der Agatha Gundwangen schwört, ihre Malerei ganz ihm zu überlassen, zu seinem Ruhm, mit den Worten: "bei Hera und Hebe", "bei dem Alpha und dem Omega, bei dem Apfel der Welt" (S.436). Das offene Buch, das der Pantokrator in der Klosterkirche in der Hand hält, war zuvor von der Bedeutung befreit worden, es stelle den liber scriptus des Gerichtstages dar, "diese Deutung sei eines Justizbeamten würdig" (S.433), vielmehr umfasse seine Symbolik die gesamte Welt.

Hera und die Attribute des Pantokrator stehen hier also auf gleicher Stufe und meinen letzte Verbindlichkeit, die wieder mit dem Opfergedanken verbunden ist. Für die Ge-stalt der Agatha ist gewiß religiöse Bindung gemeint.

Umfaßt die Alpha-Omega-Symbolik die gesamte Welt, so trägt Hera in sie ein:

die gegenseitige Erfülltheit in der Liebe, die Rückbindung an die Natur und ihre Kräfte ständiger Erneuerung.