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5 Zusammenfassung und Ausblick: Beratung als Aufgabe eines Netzwerks schulischer und außerschulischer

Akteure

Lehrkräfte an beruflichen Schulen sehen sich in ihrem Handeln mit vielfältigen He-rausforderungen auf struktureller und unterrichtlicher Ebene konfrontiert. Nicht nur die Organisation und Struktur der Bildungsgänge, sondern auch die Umsetzung inklusiver Bildung in teils immer heterogener werdenden Klassen kennzeichnen Anforderungen an die professionelle Handlungskompetenz von Lehrkräften. Unter-richt stellt zwar weiterhin das Kerngeschäft von Lehrkräften dar, für das Erreichen der jeweiligen Bildungsziele gewinnen jedoch Diagnostik, individuelle Förderung und Beratung immer mehr an Bedeutung. Individuelle soziale, emotionale und

motivationale komplexe Ausgangslagen der Lernenden zu erkennen und adäquate Interventionen zur individuellen Förderung und Bewältigung komplexer Problem-lagen abzuleiten wird immer häufiger eine notwendige Bedingung, um im Unter-richt Lernen gut zu ermöglichen. Die Sensibilisierung von Lehrkräften für individu-elle Problemlagen, diagnostische Methoden und Beratung sollte in der ersten und auch zweiten Phase der Lehrerbildung adäquat aufgenommen werden.

Gleichzeitig gilt es, (angehende) Lehrkräfte zur Deprivatisierung der pädagogi-schen Praxis und der (damit verbundenen) Nutzung erweiterter schulischer Netz-werke zu motivieren (Sauer & Knebel, 2016). Zahlreiche Herausforderungen auf der Ebene der Schul- und Unterrichtsentwicklung können nicht durch einzelne Lehr-kräfte allein, sondern nur im Team bewältigt werden (Rolff, 2007, S. 27). Dies erfor-dert ein vertiefendes Wissen der Lehrkräfte über die Strukturen der entsprechenden Netzwerke zu Vertretern anderer Professionen vor Ort, aber auch über die Problem-lagen der Schülerinnen und Schüler, die es zu bewältigen gilt. Im Sinne des Erken-nens der Probleme reichen diagnostisches Wissen und eine Sensibilisierung allein nicht aus.

Vielmehr werden Beratungskompetenz und insbesondere kommunikative Fähig-keiten benötigt: einerseits, um bei der Vermutung von schwierigen (z. B. sozial-emo-tionalen) Ausgangslagen das Gespräch zu suchen, mögliche Interventionsmaßnah-men zu besprechen oder Schülerinnen und Schüler über diagnostische Erkenntnisse zu informieren, andererseits, um in Unterrichts-, Gesprächs- und Beratungssituatio-nen eine vertrauensvolle und wachstumsförderliche Lehrer-Schüler-Beziehung auf-zubauen. Dies kann bspw. im Sinne wertschätzender Kommunikation als „Kommu-nikation auf Augenhöhe“ gestaltet werden (Dormann, Ziegler, Heinrichs, Dietz &

Voit, 2018, S. 60). Dahinter verbirgt sich eine anerkennende und akzeptierende Hal-tung gegenüber anderen Menschen und ihren Bedürfnissen (ebd.). Diese HalHal-tung zeigt sich auch im Lehrerethos, welches zentral durch wertorientiertes Verhalten sichtbar wird (Heinrichs & Ziegler, 2018, S. 138) und sich durch Fürsorge für Ler-nende in der persönlichen und fachlichen Entwicklung ausdrückt (Maurer-Wengorz, 1994).

Individuelle Förderung von Lernenden hängt also nicht nur von schulischen und strukturellen Bedingungen ab, sondern auch von den (Wert-)Haltungen von Lehrkräften und ihrem selbst wahrgenommenen Rollenbild. Für (angehende) Lehr-kräfte ergibt sich damit die Notwendigkeit, ihre professionelle Rolle zu reflektieren.

Neben den KMK-Standards, in denen die Aufgaben und Rollen von Lehrpersonen bereits vom „Wissensvermittler“ und Lerngestalter zum (Unterrichts-)Diagnostiker und Berater erweitert werden, bietet nicht zuletzt auch die VN-BRK (2009), auf deren Basis ein breites Inklusionsverständnis (dazu Bylinksi et al., 2018, S. 107 ff.; Zoyke, 2016, S. 58–59) definiert wird, eine Basis für weitere Reflexionen über professionelles Handeln. Letztendlich soll es darum gehen, Segregations- und Exklusionsrisiken zu minimieren und diesen rechtzeitig entgegenzuwirken. Bei der Betrachtung von Gruppen, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Benachteiligung am Arbeitsmarkt durch atypische Bildungs- und Erwerbsbiografien hoch eingeschätzt wird und die

sich vornehmlich in berufsbildenden Schulzweigen „sammeln“ – bspw. weil ihre Performanz „aufgrund [...] vornehmlich in der Person liegende(r) Gründe beein-trächtigt sein kann – trotz potenzieller beruflicher Handlungskompetenz“ (Kranert

& Stein, 2017a, S. 123) –, muss das Ziel der individuellen Förderung mit Nachdruck verfolgt werden.

So gilt es nicht nur, die berufsfachlichen (Aus-)Bildungsziele der jeweiligen Bil-dungsgänge zu erreichen (Qualifikationsziel), sondern auch junge Menschen in ih-rer Persönlichkeitsentwicklung zu begleiten und zu fördern – und damit als Lehr-kraft in Abwägung der professionellen Rolle und individuellen Fähigkeiten einen Beitrag dazu zu leisten, Lernenden in ihren individuellen Problem- und Ausgangs-lagen Angebote sozialer und gegebenenfalls auch professioneller Unterstützung zu gewähren.

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