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4 Sozial-emotionale Problemlagen als Anlässe für persönliche Gespräche und Beratung

Beratung als Aufgabe professionell handelnder Lehrkräfte

In den Standards für die Lehrerbildung wird Beratung als ein wesentlicher Kompe-tenz- und Aufgabenbereich von professionell handelnden Lehrkräften angesehen und mit den Aufgabenbereichen der pädagogischen Diagnostik verknüpft (KMK,

2014; Baumert & Kunter, 2006, S. 482; Klug, Bruder, Keller & Schmitz, 2012, S. 4). Be-ratungskompetenz und diagnostischen Kompetenzen von Lehrkräften werden wich-tige Funktionen zur Veränderung und Steuerung von Verhalten und Lernergebnis-sen zugeschrieben (Klug et al., 2012, S. 4). Diagnostische Kompetenz bildet die Grundlage für gelingende individuelle Förderung und Beratung (ebd.; Bruder, Klug, Hertel & Schmitz, 2010, S. 279–281).

Allerdings ist das Begriffsverständnis von Beratung teilweise unscharf. Nach Sauer (2015, S. 151–153) liegt eine Beratungssituation dann vor, wenn sich eine Per-son Rat suchend an eine andere PerPer-son wendet. Dabei können je nach Anlass für ein individuelles Gespräch unterschiedliche Ziele verfolgt und auf verschiedene Me-thoden zurückgegriffen werden. So differenziert Sauer (2015, S. 18–19) verschiedene Formen von Beratung und deren Anlässe. Beratung kann als Weitergabe von Wissen und Informationen oder aufgrund einer Problemwahrnehmung (des Lernenden oder auch seiner Angehörigen oder seines Betriebs) erfolgen. Beratungsgespräche können von verschiedenen Akteuren wie der Lehrkraft, Eltern, Ausbildern oder den Lernenden angestoßen werden (ebd.). Als eine Besonderheit für den berufsbilden-den Bereich ist anzunehmen, dass die Bedeutung von Beratung in Form von Erzie-hungsberatung oder klassischer Schulberatung mit Fragestellungen bezüglich des Leistungsstands, Klassen- oder Schulformwechsels (Hertel, 2009, S. 25) im Unter-schied zu allgemeinbildenden Schulen geringer einzustufen ist. Lernberatung (Lern-strategien, Lernunterstützung, spezifische Teilleistungsschwächen) und Beratung bei Verhaltensauffälligkeiten (unangepasstes Sozialverhalten, soziale, Schul- und Leistungsängste) und Suchterkrankungen sind dagegen durchaus relevant (ebd.).

Beratung kann dabei hinsichtlich ihres Professionalisierungsgrades unterschie-den werunterschie-den (Hertel, 2009, S. 33). Formale Beratung im engeren Sinne umfasst Situa-tionen, in denen Rat suchende Personen mit speziell ausgebildeten Fachkräften, wie Beratungslehrkräften oder Schulpsychologen, in einen zielorientierten Austausch treten, in dem die Akteure gemeinschaftlich Verantwortung für den Prozess der Be-wältigung übernehmen (Sauer, 2015, S. 18 f.). Beratung findet jedoch nicht nur in formalisierten Gesprächen statt, sondern auch in alltäglichen Situationen: entweder informell (bspw. in freundschaftlichen Gesprächen) oder halbformal und teilprofes-sionalisiert im Rahmen des Tätigkeitsbereichs sozialer und psychologischer Berufe (Hertel, 2009, S. 33). Beratung durch Lehrkräfte ist vorwiegend dem halbformalen Bereich zuzuordnen. Hierbei sind die Systematik und der Zeithorizont gegenüber formaler Beratung reduziert. Deshalb sind beratende Personen in besonderer Weise gefordert, ihr Rollenverständnis und ihre Ziele zu reflektieren, da sonst die Gefahr besteht, in Fehlformen professioneller Beratung abzugleiten: Belehrung (vs. Infor-mation), Manipulation (vs. Steuerung) sowie Herstellen von Abhängigkeitsverhält-nissen (vs. Unterstützung). Diese Fehlformen treten insbesondere dann auf, wenn Beratende die individuelle Integrität des zu Beratenden unterlaufen (Sauer, 2015, S. 24). So widerspricht das Geben und gleichzeitige Einfordern der Umsetzung von Ratschlägen einer klientenzentrierten Beratung und schränkt in seiner Direktivität Handlungsspielräume und die Gestaltung von Beziehungen ein. In diesem Sinne

kann das Scheitern von Beratungsgesprächen häufig auf das Beharren auf der eige-nen Meinung, mangelnde Empathie und soziale Perspektivenübernahme sowie ei-gene emotionale Belastung, Antipathien, Zeitdruck und Nichtzuhören des Beraten-den zurückgeführt werBeraten-den (Hertel, 2009, S. 27).

In modernen Theorien zur Beratung wird daher häufig die Annahme vertreten, Beratung sei zielorientiert und klientenzentriert zu gestalten. Beratung geht damit über Rückmelde- und Konfliktgespräche hinaus. Gelingt es, „die grundlegenden Be-dingungen für ein wachstumsförderliches Interaktionsklima (wie) Echtheit, Wert-schätzung und einfühlsames Verstehen“ im Gespräch zu realisieren, wird diesen Be-dingungen bereits Wirkung zugeschrieben. Das Gesprächsklima ist also zugleich Zentrum der Methode (Sauer 2015, S. 21).

Problemfelder und Grenzen von Beratung?

Nicht in jedem möglichen Anlass ist davon auszugehen, dass Jugendliche sich ver-trauensvoll an ihre Lehrkräfte wenden. Auch kann nicht angenommen werden, dass seitens der Jugendlichen stets ein entsprechendes Problembewusstsein vorliegt. In diesen Fällen können sich Lehrkräfte ebenfalls der Methode des Gesprächs bedie-nen. Hier liegen dann aber definitionsgemäß keine Beratungsgespräche vor, sondern z. B. Konflikt- oder Rückmeldegespräche (ebd.). Diese Gesprächsformen werden von der Lehrkraft initiiert und können Ausgangspunkt für anschließende Beratungsge-spräche sein. Gemeinsam ist all diesen Gesprächsformen – Rückmelde-, Konflikt-oder Beratungsgesprächen – eine vorausgehende angemessene Phase der Beobach-tung und ein begründeter Gesprächsanlass. Zudem bilden diese Gespräche die Chance, Kontakt zu Lernenden aufzunehmen und eine möglicherweise geteilte Problemwahrnehmung zu schaffen. Dies ist insbesondere dann als wertvoll zu erachten, wenn Jugendliche eine Reaktanz gegen weiterführende Diagnostik und Be-ratung zeigen, z. B. aufgrund von Angst vor Selbstwertbedrohung oder Stigmatisie-rung. Umso wichtiger ist es, in Gesprächen eine vertrauensvolle und offene Atmo-sphäre herzustellen.

Als zentral für erfolgreiche Konflikt-, Rückmelde- und Beratungsgespräche wird das Erkennen von Gesprächs- und Beratungsanlässen im Sinne pädagogischer Dia-gnostik angesehen (Klug et al., 2012, S. 4). Hier liegen nicht selten Herausforderun-gen in der Schul- und Unterrichtspraxis. So hebt Schnebel (2007, S. 9) hervor, dass die Anzahl an Beratungsanlässen vor dem Hintergrund erhöhter Heterogenität von Schülerinnen und Schülern ansteigt. Diese Entwicklung wird deshalb kritisch be-trachtet, da zu wenige Lehrkräfte beraterisch an Schulen tätig sind und die Anforde-rungen an „gute“ Beratung in pluraler und komplexer werdenden Gesellschaften steigen. Lehrkräfte sind die „Hauptträger der Beratung im Schulsystem“ (Hertel, 2009, S. 23), fühlen sich aber häufig schlecht auf diese Rolle vorbereitet (ebd., S. 9 f.;

Klug et al., 2012, S. 4). Ob der vielfältigen Anforderungen an unterrichtliches Han-deln und Zielambiguität kommen Fachlehrkräfte mitunter an ihre (fachlichen und pädagogischen) Grenzen und müssen zwischen der Förderung des Einzelnen und der Klasse abwägen (dazu Helsper, 2004, S. 67 ff.). Somit können sie sich mit

kom-plexen Beratungsaufgaben und individueller Förderung überfordert fühlen oder diese gar nicht als ihre Aufgabe annehmen. Dies tritt insbesondere bei vielschichti-gen Problem- und Beratungsfällen wie auch komplexen sozial-emotionalen Pro-blemlagen auf, in denen sich verschiedene, das Individuum umgebende Einflüsse kumulieren (dazu auch Heller, 2000).

Hilfreich kann es dann sein, die Expertise von schulischen Beratungsnetzwer-ken, multiprofessionellen Teams oder auch die kollegiale Beratung zu nutzen. Ziel von Austausch innerhalb solcher Netzwerke ist es, bestimmte Fälle aus verschiede-nen Perspektiven zu diskutieren und zu reflektieren. So könverschiede-nen Beobachtungen und Verdachtsmomente zu Lern- und Leistungsverhalten geteilt und eigene Diagnosen validiert werden. Der Austausch mit anderen Lehrkräften sowie Vertretern anderer Professionen kann i. S. kollegialer Beratung den Aufbau von diagnostischen und be-raterischen Kompetenzen der Lehrkräfte verbessern (Sauer & Knebel, 2016, S. 222 ff.).

In solchen Settings kollegialer Beratung könnten zudem Interventionen und Kon-zepte erarbeitet und unterrichtsübergreifend angewandt werden. Dazu zeigen sich positive Befunde, dass kollegiale Beratung erfolgreich sein und handlungswirksam umgesetzt werden kann (ebd., S. 223). Allerdings scheint eine stark meidensorien-tierte Haltung der Lehrkräfte in der Praxis dem Ausschöpfen der Potenziale von kol-legialer Beratung und Supervision derzeit noch entgegenzustehen (ebd.).

Über die fallspezifische Beratung mit Kollegen hinaus stehen der Fach- und Klassenlehrkraft zudem – zumindest in einigen Bundesländern – Beratungslehrer und Schulpsychologen als Ansprechpartner zur Verfügung, vor allem dann, wenn psychologische Diagnostik nötig wird. Dann erschöpft sich die Kompetenz von Fach-lehrkräften, und psychologisch geschultes Personal muss konsultiert werden. Dies kann beispielsweise in komplexen Fällen sozial-emotionaler Problemlagen und bei akuten persönlichen Krisen der Jugendlichen erforderlich sein (Trennung von Part-nerschaften, Suizidgefahr, traumatische Belastungen etc.), aber auch bei Verhaltens-auffälligkeiten, Ängsten, Suchterkrankungen, Mobbing, Lern-, Leistungs- oder Lese-Rechtschreib-Störung.

5 Zusammenfassung und Ausblick: Beratung als Aufgabe