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2 Zur inklusiven Gestaltung der Berufsausbildung 2

Um im menschenrechtlich begründeten, weiten Verständnis von Inklusion allen aus-bildungsinteressierten jungen Menschen unabhängig von ihren individuellen Aus-bildungsvoraussetzungen unmittelbar nach Verlassen der allgemeinbildenden Schule den Zugang zu einer Berufsausbildung zu ermöglichen, wäre eine Ausbil-dungsplatzgarantie zu institutionalisieren. Zudem wären alle Ausbildungsprozesse an allen beteiligten Lernorten so zu gestalten, dass sie den vielfältigen individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Auszubildenden entsprechen könnten.

Da-1 Trotz der unterschiedlichen historischen Entwicklungslinien von Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit als Wissenschaftsdisziplinen und Professionen werden die Bezeichnungen im Folgenden synonym verstanden.

2 Das folgende Kapitel basiert im Wesentlichen auf Ausführungen, die ich bereits in Enggruber & Palleit (2019, S. 112 ff.) publiziert habe.

mit entfielen für die jungen Leute identitätsbeeinträchtigende „Klientifizierungen“, weil ihnen nicht mehr Defizite oder Etikettierungen wie ein besonderer Förderdarf oder eine Behinderung zugeschrieben würden, womit nach den schon lange be-kannten Untersuchungen von Goffman (1967) Konsequenzen für ihre Identitätsent-wicklung einhergehen.

Des Weiteren wären, wie schon oben erwähnt, alle Sondermaßnahmen wie Sonderberufsschulen und Berufsbildungswerke umzuwandeln und für alle Auszu-bildenden zu öffnen. Ebenso wäre der heutige Übergangssektor Schule ‒ Beruf neu zu gestalten, weil in den dortigen nur teilqualifizierenden Maßnahmen junge Men-schen, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Ausbildungsplatz erhalten haben, lediglich auf eine Berufsausbildung vorbereitet werden, aber keinen Berufsabschluss erzielen können. Diese zahlreich vorhandenen Maßnahmen werden in der Fachde-batte überaus kritisch diskutiert und sind nach vorliegenden Studien mit negativen Konsequenzen für die Ausbildungsbiografien der jungen Leute verbunden (zusam-menfassend Enggruber & Ulrich, 2014). Ganz entfallen würden die Ausbildungsre-gelungen für junge Menschen mit Behinderungen nach § 66 BBiG bzw. § 42 m HWO. Für eine inklusive Neugestaltung der Berufsausbildung wären zuvörderst die folgenden institutionellen Reformen notwendig:

Ausbildungsplatzgarantie

Die duale Berufsausbildung ist das einzige Segment im deutschen Bildungssystem, zu dem es keine formalen Zugangsregelungen wie die Vorgabe eines bestimmten Schulabschlusses gibt. Hingegen ist der Zugang zu einer dualen Berufsausbildung marktwirtschaftlich geregelt. Nach überwiegend ökonomischen Kriterien entscheiden die Betriebe autonom über die Anzahl und Besetzung der von ihnen angebotenen Ausbildungsplätze. In diesem Wettbewerb bleiben vor allem die jungen Menschen auf der Strecke, die aufgrund ihres schlechten Schulabschlusses, Migrationshinter-grundes, ihrer sozialen Herkunft oder einer Behinderung für die Betriebe weniger attraktiv sind. Um allen Ausbildungsinteressierten unmittelbar im Anschluss an ih-ren allgemeinbildenden Schulbesuch den Zugang zu einer Berufsausbildung zu er-möglichen, ist mit Solga (2009, S. 35) die „Verkürzung von Dualität und Beruflichkeit der Ausbildung auf die ‚einzelbetriebliche Ausbildung‘“ aufzugeben, weil nur „eine gleichberechtigte Pluralisierung von Lernorten für voll qualifizierende Ausbildun-gen“ eine Ausbildungsplatzgarantie gewährleisten könnte. Dann würden nicht mehr nur Betriebe, sondern auch berufsbildende Schulen und außerbetriebliche Bildungs-einrichtungen, finanziert aus öffentlichen Mitteln, Ausbildungsplätze anbieten, um allen Interessierten einen Ausbildungsplatz zu garantieren. Die „Gleichberechti-gung“ aller Lernorte sollte gewährleisten, dass schulische oder außerbetriebliche Ausbildungen das Vorurteil einer „Ausbildung zweiter Klasse“ verlören. Während der Ausbildung sollten Möglichkeiten zu flexiblen Lernortwechseln institutionali-siert werden, indem alle Lernorte, also ebenfalls die Betriebe, dazu gesetzlich ver-pflichtet würden, bereits erzielte Qualifikationen auf die Berufsausbildung anzu-rechnen (Enggruber & Ulrich, 2016, S. 62 f.).

Individualisierung aller Ausbildungsprozesse

Um den vielfältigen individuellen Lernvoraussetzungen und Bedürfnissen der Aus-zubildenden gerecht werden zu können, sollten die Ausbildungsprozesse an allen Lernorten individualisiert werden. Dazu sind bereits in den Sozialgesetzbüchern (SGB) II, III und VIII zahlreiche Unterstützungsangebote institutionalisiert, z. B.

die Berufseinstiegsbegleitung, ausbildungsbegleitende Hilfen, Assistierte Berufsaus-bildung, Jugendsozialarbeit und sonstige Angebote der Jugendberufshilfe. Sie könn-ten aufgenommen und für eine inklusive Berufsausbildung weiterentwickelt wer-den. Dies gilt auch für den sogenannten Nachteilsausgleich gemäß § 65 BBiG bzw.

§ 42l HWO.

Zudem sollten an allen Lernorten, also in Betrieben, beruflichen Schulen und Bildungseinrichtungen, Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Lehrerinnen und Leh-rer im Team mit sozial- und sonderpädagogischen Fachkräften tätig sein, die Auszu-bildende bei Bedarf im Teamteaching unterstützen könnten. Ausdrücklich ist dabei auch die nach Schroeder (2016) oftmals vernachlässigte sonderpädagogische Exper-tise mit einzubeziehen, weil im Einzelfall rehabilitationspädagogische Förderansätze ebenso notwendig sein können wie Konzepte zur „Verbindung von Pflege und Bil-dung“ (ebd., S. 63) bei chronischen Erkrankungen oder gravierenden körperlichen Beeinträchtigungen. Ferner sind entsprechende Aus- und Fortbildungskonzepte für das pädagogische Personal, Letztere auch im Team, sowie Raumkonzepte und Lern-materialien in Berufsschulen sowie Bildungseinrichtungen gefordert, um individua-lisierte Ausbildungs- bzw. Unterrichtsprozesse zu ermöglichen und die pädagogi-sche Qualität an allen Lernorten zu sichern. Dazu gehören auch auskömmliche und zufriedenstellende Arbeitsbedingungen an allen beteiligten Lernorten.

Curriculare Flexibilisierung der Berufsausbildung

Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) enthält bereits bedeutsame Ansätze für eine inklu-sive und damit individualisierte Gestaltung der Berufsausbildung. So ermöglicht die Teilzeitberufsausbildung nach den Untersuchungen von Anslinger (2016) schon heute verschiedene Ausbildungszeitmodelle, die die jungen Leute ihren individuel-len Lernbedürfnissen entsprechend nutzen können. Ebenso könnten die Regelun-gen in § 8 BBiG, die Berufsausbildung auf Antrag zu verkürzen oder zu verlängern, aufgenommen und ausgebaut werden, damit sie nicht mehr nur für Ausnahmefälle gelten, sondern grundsätzlich als ein Instrument zur Flexibilisierung der Berufs-ausbildung anerkannt würden. Dies gilt gleichfalls für die in § 5 BBiG enthaltene Option, die Abschlussprüfung in zwei zeitlich auseinanderfallenden Teilen durchzu-führen. Ferner sollten die Stufenausbildung (§ 5 Abs. 2 BBiG) sowie Ausbildungsbau-steine (Euler, 2013) weiterentwickelt werden, um den jungen Leuten zieldifferent die erreichten Qualifikationen zertifizieren zu können. Denn obwohl in einer inklusiv gestalteten Berufsausbildung vor allem die zielgleiche Förderung vorgesehen ist, kann trotz individualisierter Ausbildungsprozesse nicht davon ausgegangen werden, dass alle Auszubildenden einen anerkannten Berufsabschluss gemäß § 4 BBiG erzie-len werden. Darüber hinaus sollte gesetzlich geregelt werden, den Auszubildenden

im Fall eines Berufs- oder Wechsels zwischen Betrieb, Berufsschule oder Bildungs-einrichtung die bereits erworbenen Qualifikationen zu zertifizieren und die Lernorte zu verpflichten, diese – soweit einschlägig – anzurechnen. Damit könnte auch bei ei-ner vorzeitigen Auflösung des Ausbildungsvertrages ein bruchloser, ggf. auch späte-rer Wiedereinstieg in die Berufsausbildung ermöglicht werden.

Partizipation der Auszubildenden

Die Partizipation der Auszubildenden gilt als eine entscheidende Voraussetzung für die Gestaltung individualisierter Ausbildungsprozesse. Sie sollten als „Expertinnen bzw. Experten in eigener Sache“ aktiv auf allen Ebenen der Berufsausbildung mitwir-ken und mitentscheiden können: Auf pädagogischer Ebene müssten sich die be-rufs-, sozial- und sonderpädagogischen Fachkräfte mit ihnen gemeinsam über die Ausbildungsprozesse und damit zu erreichenden Ziele verständigen und z. B. indivi-duelle Ausbildungspläne vereinbaren. Auf der Ebene der Ausbildungsbetriebe, Be-rufsschulen und außerbetrieblichen Einrichtungen sind heute schon sowohl in den Schulgesetzen der Bundesländer als auch in § 51 BBiG Vorgaben zur Interessenver-tretung der Jugendlichen enthalten, auf die zurückgegriffen werden sollte. § 77 und

§ 92 BBiG wären zu ändern, damit die Auszubildenden sowohl in den Berufsbil-dungsausschüssen der zuständigen Stelle, also der Kammern, als auch im Haupt-ausschuss für Berufsbildung im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) vertreten wären.

Vor allem zur Gewährleistung individualisierter Ausbildungsarrangements gilt die Mitwirkung sozialpädagogischer Fachkräfte in einer inklusiv gestalteten Berufs-ausbildung als unabdingbar. Doch geht es nicht nur um die Fachlichkeit, die Sozial-pädagoginnen oder Sozialpädagogen einbringen können. Darüber hinaus sind aus sozialpädagogischer Perspektive grundlegende pädagogische und förderungsstruktu-relle Konsequenzen für eine inklusive Gestaltung der Berufsausbildung verbunden, wie die folgenden Überlegungen, basierend auf der Theorie Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit von Hans Thiersch (2014), zeigen werden.

3 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit von Hans Thiersch