• Keine Ergebnisse gefunden

2. Darstellung der Ergebnisse

2.1. Positive Auswirkungen nach subjektiver Wahrnehmung

2.1.10. Zirkus gegen Stigmatisierungen

In dem Unterkapitel 2.5.6. wurde bereits dargestellt, welchen Stigmatisierungen Menschen mit Behinderungen in der heutigen Gesellschaften nach wie vor ausgesetzt sind. So ist es nicht verwunderlich, dass das Thema von einigen Artist*innen aufgegriffen wurde. Wie bereits im Punkt 2.1.8. erwähnt stellt der Zirkus ein Kommunikationsmedium dar. Einige der befragten Artist*innen sehen in den Aufführungen ihre Chance, gegen Stigmatisierung vorzugehen, sodass Behinderung nicht nur im defizitären Kontext betrachtet wird, sondern die Individuen mit ihren Fähigkeiten und Talenten als solche wahrgenommen werden.

67 Eine Befragte spricht in dem Interview die Problematik der Binarität zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung an, wonach nur eine gewisse Abweichung von einer Standardnorm als akzeptabel gilt, während eine zu große Abweichung als Behinderung kategorisiert wird.

”So the disability is just something. In some countries the disability can be the sexuality, in another country the disability can be the colour. If we start to look at disability, actually, everybody is disabled. And when we see everyone the same, it’s easier to say, I treat you all with all the respect I want. It’s so simple.” (I 5: 82-85)

Demnach spricht sie sich dagegen aus, dass gewisse geistige und körperliche Defizite als entscheidendes Merkmal herangezogen werden, um eine Person einer Kategorie zuzuordnen.

Dabei scheint das soziale Modell durch, nach dem Behinderung gesellschaftlich konstruiert wird. Ebenfalls wird im sozialen Ansatz die Benachteiligung durch Behinderung, mit denen aufgrund des Geschlechtes, der Sexualität oder der Hautfarbe verglichen. Im Zitat zeigt sie deutlich die Parallele auf, die darin liegt, dass Menschen aufgrund gewisser Attribute gesellschaftlich ausgegrenzt oder benachteiligt werden. Dabei verweist sie darauf, dass jeder Mensch Defizite und die entsprechenden Bewältigungsstrategien entwickelt hat. Einige Defizite sind gesellschaftlich akzeptiert, andere wiederum nicht. Ein Grund für diese Denkweise sieht sie in der Segregation von Menschen mit Behinderungen, die lange Zeit den Umgang mit dieser Gruppe geprägt hat. So verweist sie darauf, dass viele Menschen mit Beeinträchtigungen einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt haben und untermauert diese Aussage mit der Bezugnahme auf eine Studie über die geringe Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung. Die Lösung, um diese Stigmatisierung zu durchbrechen, sieht sie darin, dass Menschen mit Behinderung mehr ins Blickfeld gerückt werden müssen.

„So the only way things can change is with more disabled persons being seen. First time, you think, oh my Gosh, that’s a disabled person, and the second time you think, oh it’s no big deal, I saw another disabled person in a show and then it becomes normal. This is all we have to do. Not to hide it and keep on encouraging it.” (I 5: 92-96)

Dementsprechend hält sie es für sehr wichtig, an der Mikroebene anzusetzen. Dabei geht es ihr vor allem darum, Menschen mit Beeinträchtigungen in Kursen und Aufführungen zu integrieren, um die Mentalität der Menschen zu ändern. Wenn die Mehrheitsgesellschaft erst einmal wahrgenommen und akzeptiert hat, dass Menschen mit Beeinträchtigungen an Aufführungen und Sportkursen teilnehmen können, kann sich laut ihr langsam die Sichtweise

68 auf die Thematik ändern, sodass es zur Norm wird, dass Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und nicht weiter von Exklusion betroffen sind. Die Stigmatisierungen, die mit einer Behinderung einhergehen, hat die befragte Person am eigenen Leib erfahren, auch wenn diese nicht immer auf böse Absichten oder Ignoranz zurückzuführen sind, sondern teilweise darauf, dass viele Personen aufgrund der Segregation dieser Gruppe keinen Kontakt zu Menschen mit Beeinträchtigungen haben und somit den Umgang mit ihnen nicht gewohnt sind. So erzählt die Interviewte von Ereignissen bei den Proben, wo sie auf ihre Krücken angesprochen wurde. Dabei wurde davon ausgegangen, dass sie an einer Verletzung litt und deswegen die Krücken als Hilfsmittel für die Proben herangezogen hat. Wenn sie den Personen jedoch erwiderte, dass sie eine Behinderung habe und deswegen die Krücken benötige, löste dieser Kommentar oft Betretenheit oder Scham bei ihrem Gegenüber aus. In solchen Situationen versucht sie die Person immer zu beruhigen.

Sie erklärt, dass sie es als sehr wichtig empfindet, über das Thema Behinderung zu sprechen.

Auf diese Art und Weise kann ein besseres Bewusstsein geschaffen werden. In ihrer Zirkusumgebung wird sie dementsprechend selten als „behindert“ wahrgenommen. Außerhalb der Zirkuswelt verhält es sich damit allerdings oft umgekehrt. Wenn sie im privaten Bereich nach ihrer beruflichen Tätigkeit gefragt wird, halten viele Personen ihre Antwort, dass sie als Zirkusartistin arbeite, wegen ihrer Behinderung für einen Scherz. Sie erzählt, wie die Personen regelmäßig mit Lachen auf die Antwort reagieren und sie fragen, was ihr tatsächlicher Beruf sei. Solche Reaktionen stellen ein gutes Beispiel für die erlebte Stigmatisierung von Menschen mit Beeinträchtigungen dar, weil davon ausgegangen wird, dass die betroffene Person aufgrund ihrer Behinderung keine Artistin sein kann. Allerdings zeigen diese Beispiele auch Möglichkeiten auf, wie auf eine freundliche Art und Weise Menschen aufgeklärt werden können, sodass eine neue Sichtweise auf das Phänomen Behinderung in ihnen geweckt werden kann.

Dieser Punkt wird auch von einer anderen Zirkusartistin aufgegriffen, für die es ebenfalls sehr wichtig ist, gegen die Stigmatisierung und die Verortung von Behinderung in einem defizitären Kontext vorzugehen. In ihren Vorführungen möchte sie ihre Zuschauer*innen auf die Möglichkeiten aufmerksam machen, die Personen in verschiedensten Lebenslagen zur Verfügung stehen. Auf die Frage, was sie den Zuschauer*innen mitteilen möchte, antwortet sie wie folgt.

„Möglichkeiten. Innerhalb meiner Möglichkeiten kann ich alles machen, was ich machen möchte. Ich mag das Wort Überwindung nicht. Ich finde, es beinhaltet eine schreckliche Betrachtungsweise. […] Das Beste ist, sich auf die Lösungen zu konzentrieren und nicht auf die Probleme.“ (I 7: 141-146)

69 Dabei versucht sie, die Denkweise der Personen anzuregen. So erzählt sie von einem Beispiel, wie einige Zuschauer ihr mitteilten, dass sie ihren Auftritt als sehr inspirierend empfanden, wodurch sich ihr Blickwinkel auf die Thematik geändert hat. In diesem Zusammenhang spricht sie sich gegen eine negative Herangehensweise aus, die sich auf die Probleme, die mit einer Behinderung einhergehen, konzentriert. Stattdessen möchte sie Lösungsansätze für ein erfolgreiches Leben mit einer Behinderung präsentieren und verweist auf die Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung stehen. Dabei legt sie sehr viel Wert auf die passende Wortwahl, da einige Begriffe negativ geladene Sichtweisen auf Behinderung beinhalten und den defizitären Kontext widerspiegeln. Für sie geht es nicht darum, eine Behinderung zu überwinden, sondern viel mehr mit ihren Möglichkeiten ihr Leben zu gestalten. Dabei verweist sie darauf, dass auch Menschen mit einer Querschnittslähmung andere Menschen durch ihre Art des Tanzes bewegen können.

„Ich denke da an jemanden mit Tetraplegie, die sich nicht bewegen kann. Sie hat die Möglichkeit zu tanzen - durch ihre Gedanken. Und durch ihre Gedanken tanzt sie besser als eine Ballerina. Sie bewegt dabei nicht ihre Arme oder Beine, aber durch ihre Gedanken kann sie uns erreichen.“ (I 7: 150-152)

Mit den Aussagen möchte die Interviewte verdeutlichen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen auch Möglichkeiten haben, andere Menschen durch Bewegungskünste zu berühren, wodurch die Sichtweise auf Menschen mit Behinderungen angefochten werden soll.

Der Aspekt der Stigmatisierung wird nur von wenigen Personen aufgegriffen. Bei diesen ist es jedoch ein sehr relevantes Thema und hat viel Raum im Interview beansprucht. Während bei einer Befragten der Fokus auf dem Aufbrechen einer binären Sichtweise von Behinderung liegt, verfolgt die andere Artistin die Absicht, Möglichkeiten für eine erfolgreiche Lebensführung mit einer Behinderung aufzuzeigen, wobei die Kunst ein Medium für sie darstellt. Durch den Zirkus haben die Beteiligten die Möglichkeit, den negativen Effekten von Stigmatisierung und Marginalisierung entgegenzuwirken, was sich wiederum auf das soziale Wohlbefinden auswirken kann.