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3. Zirkus und Zirkuspädagogik

3.1. Zirkus

Das Phänomen Zirkus zieht seine Zuschauer*innen auf internationaler Ebene in seinen Bann und steht für das Eintauchen in eine Traumwelt, in der das Publikum seine kindliche Phantasiewelt ausleben kann. Sie stellt eine Welt mit anderen Gesetzen dar, in der es keine

30 Grenzen des Möglichen gibt und der Alltag in Vergessenheit gerät. Was hinter der Faszination Zirkus steckt, wird an dieser Stelle genauer dargelegt. Dazu wird zuerst der Begriff Zirkus definiert und seine geschichtliche Entwicklung skizziert. (vgl. Behrens zit. n. Bömer 2013: 17;

Europäisches Parlament 2003: 7)

Zirkus steht für eine künstlerische Darstellung verschiedener Aktivitäten, die sich aus der Artistik, Clownerie und eventuell auch Tiervorführungen zusammensetzt, wobei letzteres immer mehr in Kritik geraten ist. Folglich lässt sich Zirkus folgendermaßen definieren:

„Die Internationale Vereinigung der Zirkushistoriker (International Association of Circus Historians) definiert den Begriff ‚Zirkus‘ als eine Mischung aus organisiertem artistischem Programm und musikalischer Unterhaltung, bei der sich die Darbietung von Akrobaten, Clowns und Bändigern wilder und domestizierter Tiere in einer ovalen Manege abwechseln“. (Schulz zit n. Europäisches Parlament 2003: 7)

Die ältesten Ausgrabungen, die zirzensische Aktivitäten belegen, wurden in Ägypten und China gefunden und lassen sich auf ein Alter von über 4.000 Jahren datieren. Besonders China blickt auf eine lange artistische Geschichte zurück, die sich aufgrund ihres hohen Niveaus und die Verknüpfung der Artistik mit andern Disziplinen wie mit der Schauspielerei auszeichnet. Der Ursprung des Wortes Zirkus lässt sich auf die antiken Römer zurückführen, die zirzensische Veranstaltungen wie Pferderennen und Gladiatorenkämpfe in einer runden Arena abhielten. Im europäischen Mittelalter stießen die Gaukler und Wanderschauspieler mit ihren Akrobatik- und Jonglagevorführungen beim Volk auf große Beliebtheit. Allerdings kam es von Seiten der Kirche zu einer Diskriminierung dieser Gruppe, da sie deren Tätigkeit teuflische Attribute zuschrieben, wodurch die Zirkusdarsteller Opfer von Hinrichtungen wurden. Die damals geschaffene Stigmatisierung der Straßenkünstler ist auch heute noch aktuell. (vgl. Ballreich, Grabowiecki 1999: 26) Der Begriff Zirkus in seiner heutigen Bedeutung stammt aus Frankreich aus dem 18. Jahrhundert. Als Begründer des abendländischen Zirkus im heutigen Sinne zählt der englische Offizier Philip Astley, der seine Reitschule, in der bereits Kunstreiten praktiziert wurde, um die Disziplinen Clownerie und Akrobatik erweiterte.

Zusätzlich zu diesen wurden auch Seiltanz und Jonglage in Aufführungen zur Schau gestellt.

Aufgrund der hohen Nachfrage entwickelte sich aus der Reitschule der Royal Zirkus, woraufhin Zirkusse in Paris und anderen Städten Europas gegründet wurden und sich in den folgenden 50 Jahren eine Zirkuskultur in Europa etablierte. In Frankreich galt Antonio Franconi als Gründer des ersten Zirkus in Lyon. In der Entstehungsphase des Zirkus waren feste Zirkusbauten die Norm, wie beispielweise der erste österreichische Zirkus im Wiener Prater.

Um die Wende des 19. Jahrhunderts kam es zu einem internationalen Austausch in der

31 Zirkuswelt. Gleichzeitig entstand die Bewegung der Wanderzirkusse. Zu Beginn des 20.

Jahrhunderts erfuhr der europäische Zirkus einige Innovationen wie die Einführung des Zirkuszelts und Nummern mit exotischen Tieren, wobei Carl Hagenbeck als Pionier der Raubtiernummern im deutschsprachigen Raum gilt. Während der Zirkus in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts seine Blütezeit erlebte, erwies sich die Zeit darauf als eine sehr schwierige für den Europäischen Zirkus. Grund dafür war, dass viele Zirkusbetriebe durch den zweiten Weltkrieg Verluste im Team zu verzeichnen hatten und aufgrund der finanziellen Not ihre Tiere nicht mehr ernähren konnten. Nach dem zweiten Weltkrieg gelang es der Szene sich kurzfristig zu erholen. Abgesehen von einem kleinen Aufschwung in den 1950ern erlebte der Zirkus aufgrund der Zunahme alternativer Unterhaltungsformen wie dem Kino oder den Freizeitparks einen enormen Popularitätsrückgang. In den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts ließen sich in Deutschland 80 Zirkusbetriebe verzeichnen, wobei eine kontinuierliche Abnahme in den darauffolgenden Jahrzehnten folgte. Bekannte Zirkusse wie Apollo und Holzmüller scheiterten zu dieser Zeit. In den 1990er Jahren waren in ganz Europa nur noch 50 Zirkusunternehmen in Betrieb. Allerdings lässt sich in den letzten drei Jahrzehnten wieder ein Anstieg der Popularität des Zirkus erkennen, was im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer, alternativer Zirkusformen steht, durch die der Zirkus mit anderen Kunstformen verknüpft wurde. Der zeitgenössische Zirkus war geboren, der sich durch „einen stärkeren künstlerischen Ansatz, der andere Kunstformen wie die Schauspielerei, das Theater und den Tanz einbezieht“ (Europäisches Parlament 2003: 8) auszeichnet. Gleichzeitig distanzierte man sich zunehmend von Tiervorführungen und die Anzahl an Familienbetrieben nahm ebenfalls ab. Durch diese Entwicklung erlebte der Zirkus erneut einen Aufschwung, wodurch die Nachfrage nach beruflichen Aus- und Weiterbildungen anstieg. Die Zirkusszene wird mittlerweile von verschiedenen Zirkusformen beherrscht, die sich über „Festivalzirkusse, Straßenzirkusse, Zirkusse, die bei Unternehmensveranstaltungen auftreten, kommunale Zirkusse, Jugendzirkusse, Kinderzirkusse, Ausbildungszentren, Zirkusschulen usw.“ (ebd.: 8) erstrecken. Ein Beispiel für den rasanten Zuwachs der Zirkusszene stellt die Großzirkusform Cirque du Soleil dar, der sich seit seiner Gründung in den 1980ern als eines der bekanntesten und größten Zirkusunternehmen der Welt etablieren konnte. (vgl. Schmitt, Degener 1991: 13ff

& 18ff; Europäisches Parlament 2003: 7f & 111; Kiphard 1997:17)

In den letzten Jahrzehnten gelang es dem Zirkus, sich in verschiedene Richtungen weiterzuentwickeln. Gleichzeitig wurde auch das soziale Potential der Zirkuspädagogik entdeckt, wodurch der Zirkus ebenfalls wieder mehr Beachtung fand.

32 3.2. Zirkuspädagogik

Die Zirkuspädagogik bietet den Teilnehmer*innen in einem gesicherten Setting die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu entfalten, wobei das Selbstbild gestärkt und die soziale Entwicklung vorangetrieben wird. Zirkuspädagogik lässt sich an der Schnittstelle verschiedener Pädagogika positionieren und verbindet sportliche, kulturelle und theaterpädagogische Elemente. (vgl. Strecke zit. n. Niedermann 2008: 2)

Der Ursprung der Zirkuspädagogik lässt sich in den 1920ern in den USA verorten, als der Pater Flanagan mit Waisenkindern ein Zirkusprojekt startete, um Geld zu verdienen. Ähnliche Projekte folgten wie zum Beispiel das niederländische Projekt Elleboog, das das Ziel verfolgte, Straßenkindern in den 1940ern eine Beschäftigung zu bieten. Hinter diesen Projekten standen sozialpolitische Motivationen. (vgl. Böhmer 2013: 20)

Im deutschsprachigen Bereich lässt sich der Beginn der Zirkuspädagogik mit einigen Einzelinitiativen in die 1970er datieren, wobei das Fundament von Straßenkünstler*innen gesetzt wurde, die versuchten, die alten Kunstformen wiederzubeleben. In den darauffolgenden 40 Jahren konnte sich die Zirkuspädagogik enorm weiterentwickeln, sodass bereits in den 1990ern die ersten Kinder- und Jugendzirkusse entstanden. Abgesehen von der Entwicklung des Zirkus als Kunstform, fand er in den letzten Jahrzehnten auch Einstieg in den Breitensport. Seit den 1970ern lässt sich ein großer Zuwachs an Zirkusschulen verzeichnen.

Mit dieser Entwicklung fand die Artistik Beachtung an den Universitäten. 1983 wurden die ersten zirkuspädagogischen Fortbildungslehrgänge und erstmalig Artistik im Sportstudium in Deutschland angeboten. Zusätzlich wurden die ersten Conventions im Bereich der Akrobatik- und Jonglierkünste abgehalten, bei denen auch die Disziplinen Einrad und Drahtseil sowie die Luftakrobatik thematisiert wurden. Doch bis Zirkussport ein akzeptierter Bestandteil der Sportszene wurde, musste noch um die Finanzierungen und die Anerkennung der Zirkusakrobatik für Kinder und Jugendliche gekämpft werden. (vgl. Hock 2009: 130ff; Ballreich, Grabowiecki 1999: 31f)

An dieser Entwicklung wird deutlich, dass der Zirkus erneut auf mehr Anklang stößt und sich verschiedene Formen herausbilden konnten, die angefangen bei professionellen Performer*innen bis hin zu Hobbyartist*innen eine enorme Bandbreite an Anhängern hervorbrachte. Ebenso vielfältig wie die Ausführungsformen sind die Disziplinen, die das Kernstück einer jeder Aufführung ausmachen. Diese lassen sich in sieben Hauptbereiche unterteilen, die sich über Äquilibristik, Akrobatik, Jonglieren, Clownspielen, Tiernummern, diversere andere Manegekünste und Kleinkunstunterhaltung erstrecken. An dieser Stelle wird auf die für diese Masterarbeit relevanten Kategorien Äquilibristik und Akrobatik genauer eingegangen. (vgl. Grabowiecki 1997: 38)

33 Die Äquilibristik stellt die Sparte der Gleichgewichtskünstler dar und umfasst „etwas zu balancieren (leichtes, schweres, (un-) symmetrisches […]) und selbst auf etwas zu balancieren (Rola, Kugel, Lauftrommel, Draht-/Schlappseil, Einrad, Skate-/Snakeboard, Leiter etc.)“

(Grabowiecki 1997: 38). Auf fortgeschrittenem Niveau lassen sich diese zwei Bereiche kombinieren, so dass ein Artist, einen Gegenstand balanciert, während er selbst auf einem anderen sein Gleichgewicht austariert. Die Äquilibristik kann mit der Jonglage kombiniert werden, sodass eine Person auf einem Gegenstand balancierend jongliert.

Die Kategorie Akrobatik setzt sich aus verschiedene Subdisziplinen zusammen. Akrobatik kann dementsprechend in der Luft oder am Boden, in Solo- oder Gruppennummern und mit statischen oder dynamischen Charakter durchgeführt werden. Die Bodenakrobatik umfasst folgende Aspekte:

„Hebe-, Halte- und Kraft-Akrobatik (Adagioakrobatik) und Positions-Akrobatik […] Tisch- und Stuhl-Akrobatik sowie Handstandakrobatik […] und Handstandspringen[…]

Verbiegeakrobatik, Kontorsionistik genannt […] Wurf- und Schleuderakrobatik […] Ikarische Spiele und Sprung-Akrobatik.“ (Grabowiecki 1997: 39)

Die Luftakrobatik besteht u.a. aus den Disziplinen Trapez, Vertikaltuch, Mast, Luftreifen und Strapaten2. Bei der Jonglage werden verschiedene Gegenstände, denen in ihrer Ausgefallenheit keine Grenzen gesetzt sind, jongliert.

3.3. Positive Auswirkungen

Die Zirkuspädagogik hat einen enormen erzieherischen Wert für alle Altersgruppen, da sie viele pädagogische Ziele auf spielerische Art und Weise abdeckt. Volker Kruse fasste das breite Spektrum der multidimensionalen Auswirkungen treffend folgendermaßen zusammen.

„Sozialisation, Einordnung, Disziplin aber auch Selbstentfaltung durch spielerisches Lernen, all das, worüber Fachleuchte theoretisieren, hier wird es zur Selbstverständlichkeit.“ (Kruse 1997: 52) Das Zitat verdeutlicht das große Potential der Zirkuspädagogik. Großgeschriebene Werte und Lernziele können durch den spielerischen und motivierenden Charakter des Zirkus auf eine leichte Art und Weise erfüllt werden. (vgl. ebd.: 52) Durch das Partizipieren von Darstellungskünsten und der zirzensischen Bewegungsaktivitäten wird die körperliche Gesundheit verbessert und soziale Fertigkeiten trainiert, was sich wiederum auf die individuelle Ebene auswirkt. Gleichzeitig kann Zirkuspädagogik eine therapeutische Wirkung haben. (vgl. Kiphard 1997: 14ff) Im deutschsprachigen Raum gilt Ernst J. Kiphard als der

2 Strapaten sind ein Luftakrobatikgerät, das aus zwei Bändern besteht, die von der Decke hängen.

34 Pionier in der Erforschung der positiven Effekte des Zirkus. In seinen Forschungen berücksichtigte er alle Altersgruppen und unterschiedliche soziale Gruppen. Dennoch lag ähnlich wie bei seinen Kollegen Udo von Grabowiecki, Rudi Ballreich, Klaus Hoyer und Kruse, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik prägten, der Fokus auf Kindern und Jugendlichen. Diese Autoren stellten 1997 im Rahmen des Internationalen Kinder- /Jugendlichen- Circus- & Theaterfestivals in Hamburg erstmalig für den deutschsprachigen Raum einen Sammelband mit Beiträgen über die Zirkusakrobatik zusammen, als Antwort auf die rasche Entwicklung der Zirkuspädagogik und verfolgten damit das Ziel, sowohl die wissenschaftliche als auch die alltägliche Vertiefung mit der Thematik zu prägen und anzukurbeln. (vgl. Ziegenspeck 1997: Einband) In den letzten zehn Jahren kam es in Finnland unter dem Projekt Effective Circus zur Etablierung des Social Circus, worauf eine wissenschaftliche Evaluation der positiven Potentiale der Zirkusarbeit und -pädagogik folgte. Im Rahmen dieser Evaluation wurden 164 quantitative Umfragen und 50 Interviews durchgeführt. In dieser Studie stellten Menschen mit Behinderungen eine relevante Zielgruppe dar. Im Forschungsinteresse stand das Wohlbefinden, das sowohl an körperlichen, psychischen, sozialen als auch an funktionalen Faktoren erhoben wurde. Dabei wurden die körperlichen Faktoren motorische Fähigkeiten, Kraftaufbau und Flexibilität untersucht. Für das psychologische Wohlbefinden standen der Umgang mit Emotionen und Herausforderungen, das Selbstwertgefühl und die Verbesserung der Lern- und Konzentrationsfähigkeiten im Fokus. Auf der sozialen Ebene wurden die Faktoren Zusammenarbeit und soziale Interaktion herangezogen. Die Studien belegten, dass der Zirkus für die Teilnehmer*innen eine Bereicherung darstellt und eine angemessene Methode ist, um mit Menschen mit psychischen Krankheiten, Behinderungen und Entwicklungsstörungen zu arbeiten. (vgl. Lidmann, Kinnunen 2013: 13 & 45)

Diese positiven Auswirkungen können jeweils der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene zugeordnet werden. Im Folgenden wird auf diese Effekte näher eingegangen.

3.3.1. Körperliche Ebene

Die zirzensischen Bewegungsaktivitäten haben einen positiven Effekt auf die Gesundheit und physische Verfassung. Auf der motorischen Ebene lässt sich durch die Zirkusakrobatik ein enormer Zuwachs des Bewegungsrepertoires feststellen. Durch das Training wird Körperspannung, Flexibilität, Ausdauer, Gleichgewichtssinn, Koordination, Reaktionsfähigkeit und Haltekraft gestärkt. Zusätzlich beschäftigt man sich mit dem eigenen Körper und dessen Fähigkeiten. Der Gleichgewichts- und Orientierungssinn, die Feinmotorik, die Koordination, das Rhythmusgefühl, die Reflexe und die Reaktionsfähigkeit werden ebenfalls geschult. Vor

35 allem durch das Einstudieren von Zaubernummern fielen Kiphard Verbesserungen der Hand- und Fingerkoordination auf. (vgl. Hock 2009: 138ff; Kiphard 1997: 14)

Besonders durch das Akrobatiktraining in Gruppenkonstellationen wird die Körperkraft zunehmend verbessert, was darauf zurückzuführen ist, dass man Positionen im Gruppentraining länger hält, weil man die Verantwortung für seine Partner*innen trägt. Auch aufgrund der Gruppendynamik und des Spaßfaktors werden die Positionen spielerisch länger gehalten, sodass eine Grundkondition für andere Tricks wie Überschläge und Handstand aufgebaut wird. Diese können wiederum in die Gruppenummern eingebaut werden, sodass sich die Leistungsfähigkeit auf unbeschwerte Art stetig steigert. Das antrainierte Durchhaltevermögen, die Partner*innen zu tragen und somit der Schwerkraft zu trotzen, wirkt sich ebenfalls positiv auf die eigene Körperhaltung aus, was sich wiederum auf die innere Haltung überträgt. Somit kann einem möglichen Versteifungsprozess entgegengewirkt werden. Ebenso wird die Tiefensensibilität durch partnerakrobatische Übungen verfeinert, da man ein Gefühl für den Partner oder die Partnerin entwickelt und die Bewegungen des anderen Körpers zu spüren lernt. (vgl. Ballreich, Grabowiecki 1999: 28)

„Das Körperbewusstsein dehnt sich in einem gewissen Sinne über den eigenen Körper hinaus auch auf die anderen aus. Bei Positionsveränderungen gelingt das richtige Timing nur, wenn alle Beteiligten das einheitliche Gebilde erfühlen.“ (ebd.: 29)

Diese Fähigkeit wird besonders bei Akrobatikpositionen gestärkt, in denen man seine Partner*innen nicht sehen kann. Wie bereits erwähnt, wird bei der Akrobatik und der Äquilibristik die Balance verbessert. Durch das Bilden ständig neuer Positionen und der damit verbundenen stetigen Verlagerung des Schwerpunkts werden sehr große Anforderungen an den Gleichgewichtssinn gestellt. (vgl. ebd.: 29)

Renate Zimmer verweist auf die Möglichkeit, seinen Körper im Zirkus besser wahrzunehmen und zu erfahren. Durch das Erleben der eigenen Grenzen, der Erschöpfungsgefühle, der Glückshormone nach einer sportlichen Tätigkeit, sowie der Erfolgserlebnisse durch das Erreichen neuer Fertigkeiten kann der Körper bewusst wahrgenommen und kennengelernt werden. Dabei hilft auch das bewusste An- und Entspannen des Körpers. (vgl. Kruse 1997:

52) Des Weiteren werden auch kognitive Fähigkeiten bei der Zirkusakrobatik gefördert.

Trickstrukturen müssen verstanden, aufgebrochen und erarbeitet werden. Auch die Merkfähigkeit wird durch das Erlernen von Abläufen und Tricks verbessert. (vgl. Hock 2009:

140f)

Die Verbesserung der körperlichen Verfassung wurde ebenfalls von der Studie von Jim Webster und Nick McCaffery bestätigt, die die Auswirkungen der zirzensischen Tätigkeiten bei

36 Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen mittels teilnehmender Beobachtung erhoben haben. Diese Untersuchung zeigte ebenfalls, dass sich neben dem Erlernen von neuen Fähigkeiten, eine Verbesserung der sprachlichen Kompetenzen verzeichnen ließ. (vgl.

Webster, McCaffery 2014: 43) Aus den Studien bezüglich des Effective Circus Project ging hervor, dass die Motivation bei Jugendlichen mit Asperger nach eigenen Angaben anstieg.

Über 60% der Befragten stimmten zu, dass die Fähigkeiten, die sie sich im Zirkus aneigneten, im Alltagsleben hilfreich sind. (vgl. Lidman, Kinnunen 2013: 48)

3.3.2. Psychische Ebene

Die Persönlichkeitsentwicklung wird durch die Zirkusakrobatik ebenfalls beeinflusst, indem das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl gestärkt werden. Durch das Training werden das Durchhaltevermögen, die Disziplin, die Konzentrationsfähigkeit und die motorischen Fähigkeiten verbessert. Die Erfolge im Training erfüllen die Teilnehmer*innen mit Stolz über die eigenen Leistungen. Zusätzlich wird man mit seinen Ängsten konfrontiert und lernt diese zu überwinden. (vgl. Hock 2009: 137f)

Durch diese Aspekte wird die Selbstsicherheit stark geprägt, was sich wiederum positiv auf den Leistungswillen auswirkt. Gleichzeitig lernt man mit Konflikten umzugehen, sich von Niederlagen nicht entmutigen zu lassen und sich Erfolge zu erarbeiten. Dabei verbessert sich das Einschätzungsvermögen der eigenen Fähigkeiten, wodurch die Eigenverantwortung gestärkt wird. Im Erarbeitungsprozess einer Aufführung ist Kreativität ein wichtiger Bestandteil.

Die Beteiligten bringen ihren Fokus auf eine ästhetische Ausführung des Erlernten und verknüpfen die einzelnen Acts zu einer Gesamtaufführung. Dafür wird Kreativität benötigt, die in die musikalische Gestaltung, in die Erarbeitung eines Themas, die Bühnengestaltung sowie die Kostümzusammenstellung einfließt. So können die Beteiligten auf spielerische Art ihre Kreativität miteinbinden. (vgl. Ballreich, Grabowiecki 1999: 30)

Des Weiteren konnte nachgewiesen werden, dass die „zirkuspädagogische Arbeit präventiv gegen die ‚Null-Bock-Haltung‘, die Haltlosigkeit und Orientierungsschwäche vieler Jugendlicher“ (Kiphard 1997: 16) vorgehen kann, was sich wiederum positiv auf die Jugendkriminalität und senkend auf den Substanzmissbrauch auswirkt. Psychische Blockaden und Ängste können vor allem durch die Clownerie gelöst werden. Die positiven Effekte in Bezug auf das Selbstbewusstsein und die Integration konnten sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen mit oder ohne Behinderung nachgewiesen werden. Jonglage eignet sich um die Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen und hilft bei Lern- und Verhaltensstörungen. (vgl. ebd.: 17) Diese Erkenntnisse wurden durch das Forschungsprojekt Effective Circus Project bestätigt.

Die Forschung mit Erwachsenen zeigte, dass sich das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeit verbessert haben und sich somit das individuelle Wohlbefinden steigerte.

37 (vgl. Webster, McCaffery 2014: 43) Eine andere Untersuchung im Rahmen dieses Forschungsprojektes, die sich ebenfalls auf die subjektive Wahrnehmung der Teilnehmer*innen konzentrierte, zeigte, dass Jugendliche mit Asperger im Zirkus einen Ort sahen, der ihnen den Raum gibt, Fehler zu machen. Ebenfalls bestätigten diese, dass sich durch den Zirkus ihr emotionales Wohlbefinden und ihre Selbstbestätigung verbessert haben.

(vgl. Lidman, Kinnunen 2013: 48)

Folglich lassen sich viele positive Auswirkungen auf der psychischen Ebene durch den Zirkus nachweisen. Diese stehen eng im Zusammenhang mit den sozialen Effekten.

3.3.3. Soziale Ebene

Auf der sozialen Ebene wirkt sich positiv aus, dass man sich in eine Gruppe integriert, zum Teil dieser Gruppe wird und mit dieser gemeinsam etwas erstellt. Das fördert soziale Kompetenzen in Hinblick auf die Zusammenarbeit, die Kooperation, das Verantwortungsgefühl, das Vertrauen und die Akzeptanz gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern. Zusätzlich muss man sich gegenseitig in der Gruppe helfen und Verantwortung übernehmen, um einerseits die Sicherheit der anderen Gruppenmitgliedern zu gewährleisten und andererseits eine Aufführung zu erarbeiten und hierfür wichtige Entscheidungen zu treffen. Ebenso wird die Kommunikation gefördert, da jedes Gruppenmitglied lernen muss, seine Absichten und Wünsche zu verbalisieren. (vgl. Hock 2009: 137) Zusätzlich steigern sich die Hilfsbereitschaft und die Fairness während des kreativen Prozesses der Stückerstellung. Da die Gruppe ein gemeinsames Ziel verfolgt, üben sich die Teilnehmer*innen in Verlässlichkeit. (vgl. Kiphard 1997: 14f)

Die Zusammenarbeit in der Akrobatik ist von einem sehr engen Kontakt geprägt, wobei Missgeschicke an der Tagesordnung stehen. Dementsprechend setzen akrobatische Nummern mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad ein großes Maß an Verantwortungsgefühl für die Gruppe und die Bereitschaft, sich in die Gruppe zu integrieren und teilweise auch unterzuordnen, voraus. In diesem Prozess werden viele soziale Fertigkeiten geschult und verfeinert. Mit der Zeit steigt das Vertrauen zwischen den Gruppenmitgliedern, was wiederum eine Voraussetzung für Wurfnummern darstellt. (vgl. Ballreich, Grabowiecki 1999: 29)

In den gemeinsamen offen gehaltenen Proben können neue Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen werden. Jede Person wird mit seinen Talenten und Fähigkeiten anerkannt und findet dementsprechend seine Rolle und seinen Platz. Körperliche oder individuelle Attribute, die zuvor als Makel wahrgenommen wurden, können im Zirkus zur Stärke werden. (vgl. ebd.: 39) Aufgrund dieser ressourcenorientierten Haltung, wodurch jeder mit seinen Fähigkeiten akzeptiert wird und entsprechend seinen Beitrag leistet, spielen Hierarchien keine Rolle. Generationen- und Geschlechterkonflikte kommen selten vor und

38 auch Migrationshintergründe bleiben unbeachtet. Somit bildet der Zirkus ein Gegenpol zu einer normorientierten und kategorisierenden Gesellschaft. Marginalisierte Randgruppen finden dementsprechend im Zirkus ihren Platz. Gemeinsam erarbeitet die Gruppe ihre Regeln. Die Teilnehmer*innen fügen sich in die Gruppe ein und erhalten durch das gemeinsame Erarbeiten einer Aufführung Anerkennung seitens der anderen Teilnehmer*innen. (vgl. Hock 2009: 137) Dementsprechend bietet Zirkuspädagogik „die Möglichkeit zur Integration von Randgruppen (Ausländer, Behinderte, sog. Verhaltensgestörte)“ (Kiphard 1997: 17).

Die bereits erwähnte Studie, die sich auf die subjektive Wahrnehmung von Kindern mit

Die bereits erwähnte Studie, die sich auf die subjektive Wahrnehmung von Kindern mit