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2. Behinderung und Beeinträchtigung aus biopsychosozialer Perspektive

2.3. Der Ansatz der WHO zu Behinderung

Durch die Veröffentlichung des ICF leistete die WHO einen großen Beitrag hin zu einem biopsychosozialen Blickwinkel auf das Phänomen Behinderung. Erst seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts etablierte sich die Unterscheidung von Behinderung und Krankheit, woraufhin die WHO eine neue Klassifizierung zu gesundheitsbezogenen Belangen in den 1980ern einführte, die das Phänomen Behinderung berücksichtigte. Bis dato wurde Behinderung sowohl den Krankheiten als auch den Verletzungen zugeteilt. Dabei wurden Phänomene beschrieben, denen Behinderungen zugrunde liegen können, wie z.B.

angeborene Fehlstellungen. Da mit dem medizinischen Ansatz des International Classification of Diseases (ICD) das Phänomen Behinderung mit all seinen sozialen, individuellen, körperlichen und lebensweltlichen Dimensionen nicht adäquat abgebildet werden konnte, entstand die Notwendigkeit einer neuen Klassifikation, die sich die WHO in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zur Aufgabe gemacht hatte. Die Abgrenzung von Behinderung zur Krankheit liegt darin, dass ersteres nicht kuriert werden kann. Teilweise sind Behinderungen angeboren, allerdings werden sie in den meisten Fällen im Laufe des Lebens durch äußerliche Gewalteinwirkung wie zum Beispiel durch einen Unfall erworben, weswegen das Rehabilitationswesen an Bedeutung gewann und gefördert wurde. Dabei wurde die Intention verfolgt, die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person zu steigern. Dementsprechend stieg die Nachfrage nach einer einheitlichen Klassifikation des Phänomens. In den 1970ern arbeitete das Center for the Classificiation of Diseases die persönlichen und sozialen Auswirkungen einer Behinderung aus, die in weiterer Folge per Auftrag der WHO mit ihrer eigenen Klassifikation zusammengefügt wurde. Die von Philip Wood ausgearbeitete Klassifizierung wurde 1976 von der WHO anerkannt, die 1980 unter dem Titel International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) mit dem Ziel veröffentlicht wurde, das Phänomen Behinderung international einheitlich darzustellen. International fand die ICIDH unterschiedlichen Zuspruch. In Frankreich fand sie Verwendung bei der Zuteilung von Sozialleistungen. In der BRD hingegen stieß sie aufgrund der bereits existierenden Rehabilitationskonzepte auf wenig Anklang. Erst in den 1990ern fand sie in Deutschland im gesundheitspolitischen Bereich Anwendung. (vgl. Hirschberg 2009: 52ff)

Dem ICIDH steht ein dreidimensionales Konzept zugrunde, das die körperliche, individuelle und soziale Dimension berücksichtigt. Demnach unterscheidet der Ansatz zwischen einer Schädigung, die aus einer langandauernden Störung entsteht, woraus eine Beeinträchtigung hervorgehen kann, die wiederum in einer Behinderung enden kann. Die Schädigung bezieht

19 sich auf die organische Komponente, wobei von einer von der Norm abweichenden Funktionseinschränkung ausgegangen wird, und kann als ein „beliebige[r] Verlust oder eine Normabweichung in der psychischen, physiologischen oder anatomischen Struktur oder Funktion“ (WHO zit. n. Hirschberg 2009: 48) definiert werden. Der Begriff Behinderung berücksichtigt die persönliche Ebene und bezeichnet die Auswirkungen einer Schädigung auf die betroffene Person, die sich in möglichen individuellen Einschränkungen äußert. Die Benachteiligung integriert die soziale Dimension und bezieht sich auf die aus der Schädigung resultierenden Nachteile auf der sozialen Ebene. Behinderung wird als eine „sich aus einer Schädigung oder […] [Beeinträchtigung] ergebenden Benachteiligung des betroffenes Menschen“ (WHO zit. n. Hirschberg 2009: 49) definiert. Da sich in diesen Begriffen ein stark negativ geprägter Ansatz widerspiegelt, wurden diese durch impairment, das mit der Schädigung gleichzusetzen ist, activity, was beschreibt, über welche Verwirklichungsmöglichkeiten die Person verfügt, und Partizipation, die sich mit dem Grad der sozialen Teilhabe beschäftigt, ersetzt. Dadurch distanziert sich die WHO von einem defizitorientierten Ansatz und stellt stattdessen die Fähigkeiten, die Ressourcen, die gleichen Zugangsmöglichkeiten und die Teilhabe in den Mittelpunkt. (vgl. Bernitzke, Tupi 2016: 22f;

Franke 2012: 93; Günther 2015: 52ff)

Kritisch zu hinterfragen ist die Abgrenzung von einem Normzustand, der als solcher nicht genau definiert wird. Die WHO weist lediglich darauf hin, dass eine leichte Normabweichung bei den meisten Menschen vorzufinden ist. Folglich liegt die Zuteilung von Behinderung zu einem gewissen Grad auch immer im Spannungsfeld zwischen Individuum und Mehrheitsgesellschaft. Aufgrund der Kritik, dass die ICIDH die Umweltfaktoren vernachlässige, die persönliche Perspektive der betroffenen Menschen nicht berücksichtige und die Problematik von Behinderung nicht mit sozialen Barrieren verknüpfe, kam es in den 1990ern zu einer Überarbeitung. Dadurch wurde die wenig beachtete gesellschaftliche Dimension stärker in den Vordergrund gestellt und dementsprechend Behinderung nicht weiter aus einer medizinischen Perspektive betrachtetet oder als individuelles Problem angesehen. Auf diese Art und Weise wird den sozialen Barrieren, die die Behinderung erschweren können, Rechnung getragen. Weiter wurde dafür plädiert, dass „der soziale Kontext, die ökonomischen und die ‚Klassen- und Herrschaftsverhältnisse‘ miteinbezogen werden “ (Jantzen zit. n.

Hirschberg 2009: 50) müssen. Ziel der Überarbeitung war es, ein komplexes Modell von Behinderung zu entwerfen, das einerseits auf alle Bevölkerungsgruppen angewendet werden kann und andererseits auch für Menschen ohne medizinisches Hintergrundwissen nachvollziehbar sein soll. In der Überarbeitung wurden nun fünf Komponenten hervorgehoben:

„Schädigung der Körperfunktionen und der Körperstrukturen, Aktivitäten, Partizipation sowie zusätzlich eine neue Komponente: die Umweltfaktoren“ (Halbertsma et al zit. n. Hirschberg 2009: 54). Der ausschlaggebende Unterschied zwischen dem ICIDH und der ICF ist die

20 unterschiedliche Herangehensweise, die sich in einer Verlagerung von der Darstellung von den Folgen von Krankheiten zu einer gesundheitsorientierten Klassifizierung äußerte, wodurch sich der Fokus auf die Wechselbeziehung der Bedingungen der Umgebung und die individuellen Faktoren verschob. Der ICF bezieht sich nicht ausschließlich auf Menschen mit Behinderungen, weist einen positiven Ansatz auf und distanziert sich dementsprechend von ausschließlich negativen Definitionen. Folglich integrierte die WHO in der 2001 verabschiedeten ICF nach genauer Revision des ICIDH den Zusammenhang zwischen Gesundheit und den sozialen Faktoren, die sich aus den persönlichen und den gesellschaftlichen zusammensetzen, in ihre Definition, wodurch das biopsychosoziale Modell Eingang in den Diskurs um Behinderung fand. Dieser Ansatz berücksichtigt sowohl die sozialen Bedingungen und Strukturen, mit denen Menschen mit Behinderung konfrontiert werden, als auch relevante Gesundheitsaspekte, um ein Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zu etablieren und den verschiedenen Dimensionen von Behinderung Rechnung zu tragen. Somit umfasst der Begriff der Behinderung sowohl die körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen als auch die eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten. (vgl.

Franke 2012: 4; WHO 2011: 5)

Der ICF ist folgendermaßen aufgebaut. Der 1. Teil Funktionsfähigkeit und Behinderung wird in die Komponente Körperfunktion und –strukturen sowie Aktivitäten und Partizipation unterteilt. Die erste Komponente setzt sich aus den Konstrukten Änderungen der Körperfunktion und Änderung der Körperstrukturen zusammen. Abweichungen der Körperfunktionen werden in die Kategorien: „Verlust oder Fehlen, Minderung, zusätzlich oder im Übermaß vorhanden und Abweichungen“ (Franke 2012: 96) unterteilt. Die zweite Komponente des ersten Teils lässt sich in Leistungsfähigkeit und Leistung unterteilen. Dabei sollen alle Schwierigkeiten, die eine Person bei gewissen Aktivitäten und bei der Teilhabe im Umfeld haben kann, dargestellt werden. Die Komponenten des zweiten Teils, die als Kontextfaktoren betitelt wurden, setzten sich aus den Komponenten Umweltfaktoren und Personenbezogene Faktoren zusammen, wobei den Umweltfaktoren die Konstrukte Förderfaktoren und Barrieren zugeteilt wurden. Die Umweltfaktoren sind unterteilt in individuelle, die sich auf die beruflichen Faktoren, sozialen und familiären Beziehungen sowie die Begebenheiten der direkten Umwelt beziehen, und gesellschaftliche Aspekte, die die sozialen Strukturen, Gesetze und informelle Regeln berücksichtigen. Von den personenbezogenen Faktoren wurde aufgrund ihrer Fülle nur ein Auszug dargestellt, der die folgenden Aspekte umfasst:

„Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf sowie vergangene oder gegenwärtige Erfahrungen, (vergangene oder

21 gegenwärtige Ereignisse), allgemeine Verhaltensmuster und Charakter, individuelles psychischen Leistungsvermögen.“ (DIMDI zit. n. Franke 2012: 97)

Das von der ICF herausgearbeitete Klassifizierungssystem bietet verschiedene Items, die vier Bereiche der Gesundheit umfassen und in zwei Kategorien unterteilt wurden, um die funktionale Gesundheit festzumachen (vgl. Wenzel, Morfeld 2016: 1125).

Der Nutzen des ICF kann auf zwei Ebenen analysiert werden. Die erste Ebene beinhaltet die Auswirkungen durch die Implementierung der durch das Modell standardisierten Sprache, während sich die zweite Ebene auf die Anwendung der Komponenten bezieht.

Die Klassifizierung des ICF stellt eine brauchbare Vorlage dar, um die Ansätze des biopsychosozialen Modells in der Behindertenarbeit zu integrieren. Dabei erfüllt sie auf der Makro-, Meso- und Mikroebene unterschiedliche Funktionen. Auf nationaler Ebene bewirkt sie in verschiedenen Ländern eine Vereinheitlichung und dient damit als eine Grundlage zur statistischen Erhebung von Daten. Auf der Mesoebene kann der ICF einen Beitrag leisten, die Kommunikation in den interdisziplinären Teams in der Rehabilitation einerseits und in der Qualitätssicherung andererseits durch die Einführung von einheitlichen Begrifflichkeiten zu optimieren. Auch auf der Mikroebene kann sich die Kommunikation zwischen Klient*innen und Hilfskräften positiv verändern. Die Nutzung der Komponenten stellt sich insofern als schwierig heraus, da sie keine Operationalisierung aufweist. Ebenso ist die Vielzahl an Items nicht nach der Relevanz bezüglich den unterschiedlichen Behinderungen kategorisiert, sodass es die Aufgabe der Nutzer*innen ist, diese so zu wählen, dass Überlappungen vermieden werden und klare Aussagen getroffen werden können. Dennoch können sie für z.B. Assessments, Behandlungsplanung oder Evaluation angewendet werden, was bei Leistungsträgern oft der Fall ist. Für die Arbeit in der Praxis kam es zu einer uneinheitlichen Entwicklung von Core Sets, die je nach Behinderung gewisse Items umfassen. Diese bleiben jedoch kritisch hinterfragt.

Abgesehen davon werden die Items für die Maßnahmenplanung von sozialer Teilhabe genutzt. (vgl. ebd.: 1125)

Abschließend lässt sich sagen, dass die WHO den Diskurs gefördert und zur Etablierung internationaler Standards beigetragen hat. Im nächsten Unterkapitel wird auf die Bedeutung dieser Ansätze für die Soziale Arbeit eingegangen.