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2. Darstellung der Ergebnisse

2.2. Wahrnehmung der pädagogischen Leitung bzw. der Trainer*innen

2.2.4. Umgang mit Stigmatisierungen

Viele Menschen mit Behinderungen sind mit Stigmatisierungen konfrontiert, was auf den gesellschaftlichen Umgang mit dieser Minderheit zurückzuführen ist. Demnach werden sie in einem Defizitkontext verortet und nicht mit ihren Talenten und Fähigkeiten gesehen. Einige Artist*innen sehen in ihrer zirzensischen Tätigkeit eine Möglichkeit gegen diese Stigmatisierung vorzugehen und darin die Chance, der Mehrheitsgesellschaft ein positives Bild von Menschen mit Behinderungen zu vermitteln. Die pädagogischen Leitungen teilen diese Ansicht und haben dementsprechend die Absicht, durch ihre Arbeit gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung vorzugehen. Während die Artist*innen sich aufgrund der persönlichen

76 Erfahrungen mit den Stigmatisierungen eher auf der Mikroebene auseinandersetzen, versuchen die pädagogischen Leitungen vermehrt den gesamtgesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen.

Eine Leitung kritisiert, dass die Behinderung für viele Menschen im Vordergrund steht.

Demnach wird nicht die Person gesehen, sondern nur die Behinderung. Sie versucht dabei, die Dichotomie zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung aufzubrechen, indem sie darauf verweist, dass alle Menschen ihre Defizite haben. Einige Defizite sind gesellschaftlich akzeptiert, während andere Defizite unter die Kategorie Behinderung fallen.

„Die Mehrheit der Menschen sieht sie nur als Behinderte. Dabei haben wir alle auf unseren Ebenen unsere Defizite. Ich zum Beispiel. Ich kann kein Blut sehen. Ich kann niemals Arzt werden, das ist mein Defizit.“ (I 8: 161-163)

Folglich versucht sie mit ihrer Arbeit die Gesellschaft herauszufordern, Behinderung zu überdenken und neu zu sehen. Aufgrund der langen Segregation von Menschen mit Behinderungen haben viele Erwachsene den Umgang mit dieser Minderheit verloren. Sie verweist auf die Wichtigkeit, diesen Umgang wieder zu erlenen. Dafür benötigt es einen Austausch, um die Gesellschaft aufzuklären. Ihrer Meinung nach fehlt es auch an gesellschaftlichen Strukturen, um Inklusion zu ermöglichen. Ihre Kritik formuliert sie wie folgt:

„Es gibt heutzutage keinen Dialog und keine richtigen Strukturen.“ (I 8: 166) Dabei steht die Mentalität in einer Wechselbeziehung zu den Strukturen, da sich diese gegenseitig beeinflussen. Durch eine positive Sichtweise auf Menschen mit Behinderungen, kann an der Struktur angesetzt und diese verbessert werden, was sich wiederum auf die Mentalität der Mehrheitsgesellschaft auswirkt. Zum Schluss verweist sie darauf, dass Kinder von den gesellschaftlichen Differenzierungen zwischen Menschen viel weniger beeinflusst sind. Intuitiv gehen sie auf Personen mit Beeinträchtigungen ein und verstehen viel schneller, wie ein angemessener Umgang gestaltet werden kann, da sie noch nicht innerhalb gesellschaftlicher Kategorien denken. Sie sieht eine Problematik darin, dass den Kindern im Laufe ihrer Entwicklung eine binäre Sichtweise auf die Thematik durch die Eltern indoktriniert wird, wodurch sie wiederum den passenden Umgang verlernen. „Aber es liegt an den Eltern, die den Kindern Unterschiede einreden“. (I 8: 167-168) An dieser Aussage wird deutlich, dass die Stigmatisierungen nach wie vor Realität sind und dementsprechend an diesen gearbeitet werden muss. (vgl. I 8) Die Leitung versucht binäre Sichtweisen auf Behinderungen anzufechten und Denkanstöße bei der Gesellschaft anzuregen.

77 2.2.5. Zugang

Die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen weist weltweit Mängel auf. Dabei muss einem Geflecht verschiedener Faktoren Rechnung getragen werden, um sich der Problematik umfassend zu nähern. Wie der World Report on Disability der WHO zeigt, sind Menschen nach wie vor vielen materiellen, individuellen und sozialen Barrieren ausgesetzt, sodass viele Bereiche für Menschen mit Behinderungen nicht zugänglich sind. Gründe dafür erstrecken sich neben den architektonischen Barrieren auch in alltäglichen Situationen. So kann der Zugang zum Beispiel durch eine fehlende Assistenz oder die nicht vorhandenen finanziellen Mitteln verwehrt bleiben, wobei es sich wiederum um Aspekte handelt, bei denen Menschen mit Behinderungen gesamtgesellschaftlich betrachtet benachteiligt sind. Dementsprechend lassen sich auch sehr kritische Sichtweisen in Bezug auf die Ermöglichung eines Zugangs sehen.

Strukturelle Veränderungen können hingegen von den Schulen nur schwer umgesetzt werden.

Auch wenn sie es einzelnen Schüler*innen mit Beeinträchtigungen ermöglichen können, Zirkusakrobatik zu erlernen, ist die Schule nur für jene geöffnet, die über genügend Grundressourcen verfügen, das Angebot aufzusuchen. Dementsprechend handelt es sich bei dem meisten der Artist*innen und der Schüler*innen um besser situierte Personen, die aus reicheren Familien stammen. „Die Teilnehmer, die bei uns teilnehmen, haben bessere Bedingungen. Sie haben sehr reiche Familien. Und das brauchst du auch. Schau dir mal die Zugangs-Bedingungen an.“ (I 8: 116-118) So benötigen viele der Schüler*innen und Artist*innen der Schule eine Assistenz, um das Angebot wahrzunehmen. Einige Schüler*innen, die das Angebot als Hobby in einem geringen Ausmaß aufsuchen, werden von ihren Eltern gebracht. Die Artist*innen, die sehr viel Zeit mit den Proben in der Schule verbringen, benötigen jedoch eine Assistenz, die nicht staatlich finanziert wird. Bei drei Artistinnen mit geistigen Beeinträchtigungen wurde jeweils eine Person von den Familien eingestellt, die sie zu den Proben begleitet. Anders wäre die Zusammenarbeit nicht möglich gewesen. Diese Bedingungen tragen dazu bei, dass der Zugang aufgrund struktureller Gegebenheiten beschränkt wird. Teilhabe ist somit nur möglich, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. Eine andere Artistin, die eine körperliche Beeinträchtigung ausweist und nicht über die finanzielle Mittel für eine Assistenz verfügt, verlässt sich regelmäßig auf die Hilfe der Passanten. Da der Weg zu den Proberäumen nicht barrierefrei ist, spricht sie solange Passanten auf der Straße an, bis jemand ihr behilflich ist, die Hürden zu bewältigen. „Die Straßen hier. Wie soll hier jemand mit dem Rollstuhl längs fahren. […]

Aber sie hat einen sehr starken Charakter und spricht die Leute an und bittet sie um Hilfe.“ (I 8: 118-121) Diese Beispiele verdeutlichten, dass gewisse Bewegungen auf der Makroebene initiiert werden müssen, um Barrierefreiheit wirklich zu gewährleisten. Zu diesen Faktoren

78 gehört, eine bessere finanzielle Unterstützung, das Bereitstellen von Assistenzen und architektonische Maßnahmen.

Um den strukturellen Ungleichheiten entgegenzuwirken, hat eine Schule einen Weg gefunden, vergünstigten oder kostenlosen Unterricht für Menschen mit Beeinträchtigungen anzubieten.

Diese werden über die inklusive Performance-Gruppe finanziert. Aufgrund einer vertraglichen Klausel, nach der jeder Artist zehn Prozent seines Gehalts abtritt, wird Geld für den Unterricht für Personen gesammelt, wodurch inklusive Kurse auch für schlechter situierte Menschen angeboten werden können.

„When we make shows, ten percent of everything comes back into the charity pot. So everyone has a ten percent less salary. And this pot pays for free classes or discount classes for any person with a disability. For example, you have a disability, we use this pot to pay the instructor, so that they can give the classes for free to the disabled person.” (I 5: 34-37)

Allerdings kann auf diese Art nur gegen die finanzielle Ungleichheit vorgegangen werden. Ein weiteres Problem für einen erschwerten Zugang für Personen mit Beeinträchtigungen, ist die fehlende Begleitung durch Privatpersonen oder Assistenzen. Die Studioleitung verweist darauf, dass die Personen, die an solchen Projekten teilnehmen können, über Unterstützung in Form der Familie oder einer Assistenz verfügen. Ohne diese Unterstützung wären viele Dinge nicht möglich. Die Personen, die über diese Unterstützung nicht verfügen, finden in der Gesellschaft wenig Repräsentation und werden folglich nicht gesehen. (vgl. I 5)

Diese Beispiele zeigen auf, dass es nach wie vor Defizite in der Gewährleistung von Barrierefreiheit gibt.