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Zeitordnungen im ‚Bildungsurlaub‘

Im Dokument in der Deutschen Gesellschaft für (Seite 57-62)

Zeitpraktiken und subjektives Lernzeiterleben

4 Zeitordnungen im ‚Bildungsurlaub‘

Die sich in den Programmen objektivierende temporale Ordnung des Feldes lässt sich zunächst entlang einiger Kennzahlen darstellen: Die durchschnittli-che Dauer der Kurse betrug 5 Tage (Median; AM: 5,66 Std.; SD: 3,5), ihr durchschnittlicher Zeitumfang 40 Std. (Median; AM: 56,88 Std; SD: 92,46).

Die Dauer markiert zugleich unterschiedliche Formate: Die Hälfte aller Bil-dungsurlaubsveranstaltungen findet im klassischen fünftägigen Kursformat statt, zweiwöchige Formate (à 10 Tage) machen weitere 14% der Kurse aus.

Jene 12 Veranstaltungen, die exakt 7 bzw. 14 Tage dauern, sind sämtlich Bil-dungsreisen der politischen Bildung: Hier wird offenbar die innerhalb der Frei-stellung nutzbare Zeit maximiert. Dies zeigt sich auch an ihrer zeitlichen Lage:

Während fünftägige Kurse überwiegend montags beginnen, dominiert bei den 7- bzw. 14-tägigen Veranstaltungen der Sonntag. Insgesamt ein Viertel der Angebote dauert weniger als fünf Tage, was ein Hinweis auf die Attraktivität kürzerer Veranstaltungen in Reaktion auf soziale Beschleunigung sein kann (Nahrstedt/Brinkmann/Kadel 1997; Käpplinger 2018). Diese These wird ge-stützt durch den Befund, dass immerhin 15% der Veranstaltungen bereits im Titel mit Bezeichnungen wie „Intensiv-“ bzw. „Kompaktkurs“ auf eine beson-ders zeiteffiziente Gestaltung hinweisen. Hierbei ist in Rechnung zu stellen, dass viele der Bildungsurlaubsangebote zugleich für TeilnehmerInnen ohne Bildungsfreistellung ‚geöffnet‘ sind.

Die zeitliche Intensität (als Verhältnis der Dauer zum Stundenumfang) un-terscheidet sich zwischen den beiden Förderbereichen: Während in der politi-schen Bildung die Dauer durchschnittlich länger ist als in der beruflichen Bil-dung, liegt der Stundenumfang etwas niedriger. Im Mittel umfasst ein Unter-richtstag damit in der politischen Bildung 6,44 Stunden, in der beruflichen Bil-dung hingegen 7,83 Stunden. Tendenziell nutzt die politische BilBil-dung also mehr Tage mit weniger Tagesstunden; zugespitzt ließe sich sagen: Sie lässt

3 Das Weiterbildungsinformationssystem ist eine von der Behörde für Schule und Be-rufsbildung der Hansestadt Hamburg geförderte, unabhängige Datenbank aller berufli-chen, sprachlichen oder politischen Weiterbildungsangebote, die in Hamburg stattfin-den: https://hamburg.kursportal.info/

(Spät-)Moderne Zeitregime 57 sich mehr Zeit. Die berufliche Bildung weist dagegen eine äußerst konsequente Orientierung am 8-Stunden-Tag und der 5-Tage-Woche als generalisierten Zeitinstitutionen der Arbeitswelt auf, die auch die Ausgestaltung der gesetzli-chen Regulation des Bildungsurlaubs beeinflusst hat. Dies stellt somit eine wichtige Legitimationsbasis für Lernzeiten im Bildungs-‚Urlaub‘, ganz kon-kret in Aushandlungen mit Arbeitgebern, aber auch generell innerhalb der ein-flussreichen Zeitkulturen der Arbeitswelt, dar.

Diese Ergebnisse der Programmanalyse kontextualisieren nun in mehrfa-cher Hinsicht die weitere Untersuchung: Erstens treten dabei Kategorien und kategoriale Differenzen innerhalb des Feldes zutage, die das weitere methodi-sche Vorgehen, insbesondere das Sampling und die Fallauswahl informieren.

So bestärken etwa die zeitstrukturellen Unterschiede zwischen politischer und beruflicher Bildung die Entscheidung, beide Bereiche vergleichend zu unter-suchen. Zweitens dienen die Ergebnisse einer analytischen Kontextualisie-rung, indem sie im Rahmen der rekonstruktiven Analyse von Beobachtungen und Interviews die Einordnung in feldbezogene Logiken zeitlicher Strukturie-rung ermöglichen. Drittens schließlich lässt sich die Relation der in Program-men objektivierten und in den in Kursen praktizierten temporalen Strukturen selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen.

5 Ausblick

Den letztgenannten Punkt möchten wir abschließend anhand eines knappen Beispiels aus der Beobachtung eines Angebots der beruflichen Bildung ver-deutlichen: Dort bestätigt sich im Kursgeschehen zunächst der Eindruck einer Orientierung an etablierten Zeitstrukturen. Auch der Tagesablauf folgt typi-schen temporalen Mustern und die Kursleiterin versichert, die TeilnehmerIn-nen über die kommenden zwei Wochen hinweg Schritt für Schritt auf die an-stehende Prüfung vorzubereiten. Doch bereits im Verlauf der ersten Unter-richtseinheit wird klar, dass neben die wohlstrukturierte Unterrichtszeit auch eine selbstorganisierte Lernzeit treten muss, deren Notwendigkeit sich im Um-fang der auf den Tischen ausgebreiteten Lernmaterialien widerspiegelt. Dies konkretisiert sich in der Empfehlung der Kursleiterin, jeden Tag eine Stunde für die Vor- und Nachbereitung einzuplanen. Die praktische Entgrenzung der zunächst scheinbar klar umgrenzten Zeitbedarfe stimmt die TeilnehmerInnen zunehmend besorgt: In der anschließenden Vorstellungsrunde äußern sie daher zur Frage nach Erwartungen und Wünschen, dass der Unterricht selbst mög-lichst hinreichend auf die Prüfung vorbereiten möge und man „hoffentlich nicht jeden Abend noch drei Stunden lernen“ müsse.

Wie dieses kurze Beispiel verdeutlicht, darf sich die Untersuchung von Zeit in der Erwachsenenbildung nicht auf ihre quantitative Messbarkeit und ihre Bedeutung als (knappe) Ressource beschränken. Fraglos ist diese Dimension aber wesentlich, um zu verstehen, wie sich Zeitstrukturen von Bildungsur-laubsveranstaltungen an übergeordneten temporalen Ordnungen orientieren und wie sich erst auf dieser Grundlage die (immer auch Konfliktpotenzial ber-gende) Dynamik praktischer Aushandlung der Be- und Entgrenzung von Lern-zeiten entfaltet. Der hier entwickelte theoretische und methodische Zugang kann somit einen Beitrag dazu leisten, dem komplexen Zusammenwirken in-stitutionalisierter temporaler Ordnungen, kollektiver Zeitpraktiken und subjek-tiven Lernzeiterlebens in der Erwachsenenbildung auf die Spur zu kommen.

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Christina Baust, Anita Pachner

Transformation ermöglichen: Potentiale von

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