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Von #FreeInterrail, Bildungsreisen und Mobilität zu Lernzwecken

Im Dokument in der Deutschen Gesellschaft für (Seite 132-135)

Narrativanalytische Perspektiven auf EUropäische Mobilitätsförderung

1 Von #FreeInterrail, Bildungsreisen und Mobilität zu Lernzwecken

„Imagine it’s your 18th birthday and you find a personal letter from the EU in your mailbox. In it: a voucher to travel Europe. Your life will change!“ (Fre-eInterrail 2015). Mit dieser pathetischen Formel wirbt seit 2015 die zivilgesell-schaftliche Initiative #FreeInterrail für die Umsetzung ihres Ziels: Alle 18-jäh-rigen Bürger*innen eines EU-Mitgliedsstaates sollen ein von der EU-Kommis-sion finanziertes Interrailticket erhalten, um damit eine Reise durch Europa antreten zu können.

Der transformative Charakter (your life will change!), welcher der potenti-ellen Europareise unterstellt wird, ist dabei anschlussfähig an verbreitete und wirkmächtige Imaginationen des Zusammenhangs von Bildung und Reisen.

Reisehistorisch zeigen sich seit der Renaissance unterschiedliche Reiseformen, innerhalb derer räumliche Bewegung in je unterschiedlicher Form Anlass und Möglichkeit für „geistige“ Bewegung zu versprechen scheint. Ob bei Pilger-reisen, Gesellenwanderungen oder bei der Grand Tour – stets gehen mit den jeweiligen Reisetypen für je differente soziale Gruppen Versprechungen indi-vidueller Entwicklung einher, welche als (je unterschiedliche) Bildungspro-zesse übersetzbar sind (vgl. Hlavin-Schulze 1998; Zick 2018). Die implizite und bildungsprozesstheoretisch anschlussfähige Grundannahme, welche eine Verbindung von räumlicher und geistiger Bewegung nahelegt, fußt dabei da-rauf, dass das Medium der Reise die Erfahrung „irritierender Fremdheit“

(Schäfer 2011) ermöglicht, was Subjekte von ihren alltäglichen Selbst- und Weltverhältnissen distanziert und ihnen dadurch transformative Bildungser-fahrungen ermöglicht (vgl. Koller 2012). Reisen lassen sich von dieser Per-spektive ausgehend als Bildungschancen par excellence betrachten.

Strukturierte Mobilitätsangebote finden sich sowohl im Rahmen formaler (Klassenfahrten, Auslandssemester etc.) als auch im Kontext informeller Bil-dung (Studienreisen, BilBil-dungsurlaub, Gruppenreisen etc.). Gerade im Bereich des formalen Bildungs- und Ausbildungswesens tritt die Europäische Union durch ihr breites Spektrum an möglichen Auslandsaufenthalten als wirkmäch-tige Förderin und Forderin (vgl. Liesner 2006) von Mobilität in Erscheinung.

Unter dem Dach von Erasmus+ organisieren nationale Agenturen in spezifi-schen Bildungsbereichen die Durchsetzung des politispezifi-schen Ziels der EU, „die Mobilität junger Menschen zu Lernzwecken [zu] fördern“ (Kommission 2009). Mobilität zu Lernzwecken wird dabei in Deutschland auf vier unter-schiedliche Mobilitätsgruppen (Hochschulmobilität, Schulmobilität, Berufs-bildung/Erwachsenenbildung, Jugendarbeit) aufgeteilt und entsprechend in je unterschiedlichen Agenturen (DAAD, PAD, BIBB, Jugend für Europa) bear-beitet.

Entgegen der für EUropäische Förderstrukturen üblichen Einordnung von Mobilitätsangeboten in formale Bildungsbereiche fokussiert die Initiative

#FreeInterrail den Sektor informeller Bildung und orientiert sich dabei in ih-rem Gestus eher an klassischen Idealen des Bildungsreisens. Auf welche Form des bildenden Reisens #FreeInterrail abzielt, in welcher Weise das politische EUropa auf diese Adressierung reagiert und welche Erzählungen über den Zu-sammenhang von Bildung und Mobilität dafür eingesetzt werden, ist Gegen-stand des folgenden Beitrags.

Der Beitrag verfolgt dabei ein inhaltliches sowie ein methodisches Anlie-gen:

Inhaltlich stehen die Konstruktionen eines spezifischen Bildungswertes des Reisens und dessen politische Förderung und Forderung am Beispiel von #Fre-eInterrail im Vordergrund.

Methodisch plädiere ich im Rahmen des Beitrags dafür, das Repertoire der Beforschung von Diskursen um Bildung und Mobilität und die damit verbun-denen politischen Setzungen um eine politikwissenschaftlich inspirierte narra-tivanalytische Perspektive zu erweitern.

Hierzu erfolgt zunächst ein deskriptiver Überblick über die Entwicklungs-geschichte der Initiative #FreeInterrail und ihrer EUropäischen Rezeption (2.).

Darauf folgen methodologische Überlegungen zur Implementierung eines der Politikwissenschaft entlehnten narrativanalytischen Verfahrens zur Untersu-chung politischer Diskurse hinsichtlich ihrer pädagogisch relevanten Implika-tionen (3.). Potentiale von Narrativanalysen für Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung werden im Folgenden anhand der Untersuchung einer Debatte des Europäischen Parlaments zum Thema #FreeInterrail erprobt (4.).

Der Beitrag endet mit einer bilanzierenden Perspektive auf die Verbindungsli-nien von Europa, Mobilität und Bildung, welche in der politischen Rezeption von #FreeInterrail sichtbar wurden, und skizziert, welche Konsequenzen der Beforschung politischer Diskurse um Bildung und Mobilität sich für Erwach-senenbildung daraus ergeben (5.).

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2 #FreeInterrail

Der Darstellung der Initiatoren folgend1, entwickelten die deutschen Aktivis-ten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer die Idee zu #FreeInterrail wäh-rend eines Interrailtrips im Jahr 2014. In der Folgezeit publizierten Herr&Speer eine Vielzahl an Artikeln, in welchen sie ihr Konzept eines kos-tenfreien Interrailtickets für alle 18-jährigen Europäer*innen vorstellten. Im September 2015 erschien in der ZEIT ein Essay mit dem Titel „Lasst uns rei-sen. Kostenloses Interrail für Junge als EU-Projekt“, in dem sie eine von Ab-schottung, aufkommendem Nationalismus und Vertrauensverlust gekenn-zeichnete Identifikationskrise Europas konstatieren. Als Gegenmittel schlagen sie ihr #FreeInterrail-Konzept vor. „Was also tun, um diese Ängste und Vor-urteile abzubauen? Reisen!“ (ZEIT 34/2015). Sie entwerfen dabei die Idee ei-ner Parallelstruktur zum bestehenden Erasmus-Programm, das sich vor allem durch seine Inklusivität von Erasmus abheben sollte. „Europa sollte für alle Jungen erfahrbar werden – unabhängig von ihrem Bildungsgrad und ihren fi-nanziellen Möglichkeiten“ (ebd.). Darüber hinaus initiieren die Aktivisten eine an die Europäische Kommission gerichtete Petition mit dem Titel „Europa ret-ten? Schickt die junge Generation auf Reisen!“. In der Petition wird beschrie-ben, wie „#FreeInterrail […] Europa retten und ein festes Fundament für Frie-den und Solidarität schaffen“ (FreeInterrail 2015) könne. Den starken Fokus auf die Weiterentwicklung Europas demonstriert der Untertitel der Initiative:

„Moving Europe forward!“

Im September 2016 erfährt die Idee gesteigerte mediale Aufmerksamkeit als Manfred Weber, Präsident der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament (EP), in seiner Reaktion auf die State-of-the-Union-Rede von Kommissions-präsident Jean-Claude Juncker die Idee von #FreeInterrail aufgreift. Weber setzt diesen Vorschlag ans Ende einer Thematisierung der Krise Europas, wel-che er nach dem gerade zurückliegenden Brexit-Votum durch eine Stärkung der Sichtbarkeit des „European way of life“ zu überwinden gedenkt. Als mög-liches Exempel hierfür nennt er die Idee von #FreeInterrail, mit der die junge Generation Europas adressiert werden soll. Diese Fürsprache für #FreeInterrail führte zu einer Parlamentsdebatte im Oktober 2016, welche unten (4.) narra-tivanalytisch untersucht wird. Als Ergebnis dieser Debatte wurde im Novem-ber 2016 von der Kommission die Absicht erklärt, ein den Ideen von #FreeIn-terrail entsprechendes Pilotprojekt zu initiieren. Nach der Einführung des ers-ten Pilotprojekts Move2Learn, Learn2Move, welches aufgrund des geringen

1 Soweit mir bekannt ist, gibt es bislang keine systematischen Studien zum Phänomen

#FreeInterrail, so dass eine Beschreibung der Entwicklung nur anhand der Selbstbe-schreibung der Initiative möglich ist.

Budgets und der komplizierten Bewerbungsprozesse auf Ablehnung der Initi-atoren stieß, wurde im Jahr 2018 unter dem Titel #DiscoverEU ein zweites Pilotprojekt gestartet. In den beiden ersten Bewerbungsrunden wurden ca.

27.000 Tickets auf Grundlage der Teilnahme an einem Wettbewerb verteilt.2 Die Initiative soll in den folgenden Jahren fortgeführt und ausgeweitet werden.

3 Narrativanalytik in der Erziehungswissenschaft –

Im Dokument in der Deutschen Gesellschaft für (Seite 132-135)