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Fazit: (Lern-)Mobilität zwischen Entgrenzung und Einordnung

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Narrativanalytische Perspektiven auf EUropäische Mobilitätsförderung

5 Fazit: (Lern-)Mobilität zwischen Entgrenzung und Einordnung

Narrative der Mobilität können als historisch wandelbare Konstruktionen des Zusammenhangs von Bildung und Reisen verstanden werden (vgl. Zick 2018).

EUropäische Mobilitätspolitik nimmt dabei gängige Verheißungen des bilden-den Charakters des Reisens auf. Bildungstheoretisch knüpft sie häufig an ei-nem Verständnis von Bildung als transformativem Prozess an, innerhalb des-sen sich Mobilität als Transformationsanlass betrachten lässt. Mobilität wird in diesem Kontext als Scharnier zwischen bildungs- und identitätspolitischem Engagement in Form eines „positiveren“ Europabildes eingesetzt. #FreeInter-rail knüpft an dieser Verbindung an, erzeugt gerade dadurch Anschlussfähig-keit an den EUropäischen Diskurs und wird politisch entsprechend wohlwol-lend rezipiert und partiell umgesetzt. Moving Europe forward als Slogan der Initiative schlägt dabei in eine ähnliche Kerbe wie bestehende Narrative EU-ropäischer Mobilitätspolitik wie z.B. Wer sich bewegt, bewegt Europa.

Die Förderung von Mobilität imaginiert dabei zunächst Prozesse der Ent-grenzung auf geographischer, sozialer, mentaler, psychischer, politischer und individueller Ebene. Wo Mobilität als Entgrenzung beschrieben wird, gehen mit den insinuierten grenzüberschreitenden Bewegungen zumeist Chancen zur Weiterentwicklung einher. Und tatsächlich eröffnen sich durch das mobilitäts-politische Wirken der EU auf vielen Ebenen des Bildungs- und Arbeitswesens Möglichkeiten für Auslandsaufenthalte und damit Zugänge zu ansonsten ten-denziell verschlossenen Lern- und Arbeitswelten. Gleichzeitig offenbart sich anhand der Narrativanalyse ein Spannungsfeld von Entgrenzung und Einord-nung, innerhalb dessen sich Erzählungen über Sinn und Nutzen von Mobilität im politischen Diskurs verstehen lassen. Indem Mobilitätsaktivitäten durch EUropäische Mobilitätspolitik vermeintlich für alle ermöglicht werden, wer-den sie gleichsam zur Norm erhoben – „Beweglichkeit wird zum Imperativ“

(Liesner 2006: 174). Individuelle und europäische Bewegungen werden dabei miteinander verknüpft. Bewegung in Europa wird als Bewegung für Europa narrativ zur Chance für eine Erhöhung der Zustimmung zu Europa. Individu-eller Bewegung wird entsprechend nicht nur ein entgrenzendes, sondern auch

#FreeInterrail, Mobilität und Bildung 139 ein einordnendes Potential zuteil, indem anhand geförderter Bewegungen durch Europa die Europäizität der Bewegten in die richtigen Bahnen gelenkt werden kann.

Die mit #FreeInterrail politisch verbundenen Ziele lassen sich als Lernauf-träge hin zu einer stärkeren Identifikation mit dem europäischen Projekt inter-pretieren. Sie erinnern darin an Konzepte des politischen Reisens des 19. Jahr-hunderts oder an die Grand Tour, bei der mit Mobilität einerseits die Zugehö-rigkeit zu einer Gruppe sozialisatorisch hergestellt wurde und gleichzeitig die normative Übereinstimmung der Reisenden mit den Werten der Gruppe erhöht werden sollte (vgl. Hlavin-Schulze 1998: 34f.; 62f.). Die mit Mobilität verbun-dene Entgrenzung ist entsprechend stark mit Momenten der Einordnung in be-stehende Ordnungen verknüpft, ohne dass dadurch ihr transformatives Poten-tial narrativ verloren ginge. Im Gegenteil: Im Rahmen der Narrativanalyse zeigte sich, dass im Kontext von #FreeInterrail in starkem Maße politische Hoffnungen auf Veränderung artikuliert werden und damit auf spezifische Ef-fekte von Mobilität abgezielt wird. Bei den anvisierten Transformationen ste-hen jedoch nicht entgrenzende Bildungserfahrungen im Sinne veränderter Sub-jekt-Welt-Verhältnisse im Vordergrund, sondern primär Veränderungen der normativen Einstellungen der Reisenden zu Europa. Entsprechend passt sich

#FreeInterrail ein in eine EUropäische Mobilitätspolitik, welche Mobilität eben primär mit Lern- und nicht mit Reflexionszwecken versieht.

Weiterbildung und Erwachsenenbildung wiederum sind in einer Vielzahl an Aktivitäten in Praxis und Forschung in die Unterstützung, Beratung, Evalu-ation und institutionelle Rahmung von Mobilität in und durch EUropa invol-viert. Sie tragen entsprechend dazu bei, dass sich ein Mobilitätsimperativ etab-lieren konnte, welcher Fortschritt, Europäisierung und Mobilität narrativ eng miteinander verbindet. Eine stärkere Rezeption und Anwendung narrativana-lytischer Ansätze könnte hier gewinnbringend sein, um bildungspolitisch rele-vante Diskurse methodisch fundiert hinsichtlich der sie leitenden Erzählungen kritisch zu beleuchten und dabei auch die den Disziplinen in den jeweiligen Narrativen zugedachten Rollen zu hinterfragen. Narrativanalytische Mobili-tätsforschung in der Erwachsenenbildung könnte so angelegt zu einer reflexi-ven Distanzierung vom EUropäischen Mobilitätsimperativ führen, ohne dabei in eine bloße Opposition zur Ermöglichung von Auslandsaufenthalten zu ge-raten.

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Eva Heinrich

Veränderung von Praktiken beim Wiedereinstieg

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