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Selbstexpertisierung mittels Software? – Zum Umgang mit Sonderwissen in der Entwicklungs-

Im Dokument in der Deutschen Gesellschaft für (Seite 90-94)

und Repräsentationspraxis von ‚Lern- und

Bildungsapps‘

Selbstexpertisierung mittels Software?

Denise Klinge

1 Einleitung

Kommerzielle Apps, d.h. Programme für mobile Geräte wie Smartphones, bie-ten beispielsweise Fremdsprachenerwerb oder die Verbesserung der Gedächt-nisleistung und sind im Google Play Store unter dem Schlagwort „Lernen“ und im Apple Store unter dem Schlagwort „Bildung“ zu finden. Meist sammeln sie Daten bzw. die Eingaben der Nutzer*innen, bereiten diese in Bezug auf einen (Lern-)Gegenstand auf und stellen entsprechende Handlungsaufforderungen an den*die Nutzer*in.

Dieser Umgang mit Apps kann im Rahmen der Erwachsenenbildung dem informellen, bzw. selbstgesteuerten Lernen zugeordnet werden. Rohs (2013) attestiert entsprechend dem „informellen mobilen Lernen“ ein „situatives, intrinsisch motiviertes, selbst bestimmtes [sic!] und ortsunabhängiges Lernen mit digitalen Medien“ (ebd.: 82). Gründe für die zunehmende Relevanz des informellen Lernens in der deutschen Erwachsenbildung seit den 1990ern wer-den neben Individualisierungstrends und der Entwicklung von Computertech-nologie vor allem in der zunehmenden Rezeption konstruktivistischer Lernthe-orien und bildungspolitischen Bestrebungen hinsichtlich des lebenslangen Ler-nens gesehen (Gnahs 2016, S. 108–109).

Von Seiten der Anbieter*innen solcher mobilen Programme werden zu-meist umfassende selbstbestimmte Lernmöglichkeiten und im Rahmen von Self-Tracking-Apps sogar Selbsterkenntnis versprochen. Ein Konzept, das ich zur Beschreibung dieser Programmatik schon an anderer Stelle eingebracht habe, ist das der „Selbstexpertisierung“ (Klinge 2018), welches ich hier nicht nur als „selbstbezogenes Wissen“ (Heyen 2019) verstehe, sondern als eine Form des Umgangs mit wissenschaftlichem bzw. spezialisiertem Wissen jen-seits der Vermittlung durch Expert*innen. Wissen und Lernprozesse sollen über Rückkopplungsschleifen mit dem Programm generiert und initiiert wer-den. Die Betrachtung dieser Programmatik spielt für die Disziplin der Erwach-senbildung insbesondere eine Rolle, als dass sie den Rahmen für informelle Lernprozesse bietet und reflexives Lernen im Sinne einer Ermöglichungsdi-daktik zumindest suggeriert (zum Konzept dieser DiErmöglichungsdi-daktik u.a. Arnold 2016).

Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund jedoch stellt, ist, wie das Wis-sen über einen Lern- und Erkenntnisgegenstand und seine RepräWis-sentation in die Apps gelangen und in Algorithmen bzw. Programm umgesetzt werden, um Datenerhebung und Rückkopplungsschritte zu steuern. Denn Wissen und Ver-mittlung werden in der Regel federführend von Designer*innen, Programmie-rer*innen und Unternehmer*innen und höchstens in Kooperation mit Fachex-pert*innen auf dem Gebiet des Entwicklungsgegenstandes modelliert und kon-struiert.

Im Folgenden werden zuerst Arbeiten zu Expertenwissen und Technologie vorgestellt (2) und im Anschluss wissenssoziologische und systemische Über-legungen zum Expertenwissen diskutiert (3). Es folgt eine Analyse von Web-präsentationen einiger Apps und narrativer Interviews mit Entwickler*innen zu der Frage, wie das Sonderwissen in Apps einfließt und repräsentiert wird (4). Im Anschluss werden die Ergebnisse diskutiert (5).

2 Expertenwissen und ‚neue‘ Technologie

Im Rahmen neuerer technologischer Möglichkeiten wird oftmals die Verände-rung von Expertenwissen diagnostiziert. Es verschiebe sich immer stärker hin zum digital vernetzen und geteilten Wissen (Witt 2013, S. 21) und oszilliere dabei weniger in Personen als in anderen medialen Formen, wie der „virtuellen Schwarmintelligenz“ sozialer Netzwerke (Müller 2012, S. 884). Auch das Ex-pert*innen-Lai*innen-Verhältnis habe sich verändert: Lai*innen hätten sich

„von reinen Wissenskonsumenten zu selbstbewußten [sic!] Nutzern der (wid-ersprüchlichen) Expertisen gewandelt“ (Hitzler 1998, S. 43). Aus machtheo-retischer Perspektive merken Maasen und Duttweiler (2012) jedoch an, dass sich zwar die „Führung in Richtung Lenkung der [technologieunterstützten]

Selbstführung verschoben“ habe, jedoch nicht die Abhängigkeit von Experten-wissen, welches Praktiken bestimmt und Bedeutungen etabliert (ebd., S. 422, Einfügung DK). Dabei wirkt Macht auf zwei Ebenen: Technologien können genutzt werden, um Netzwerke aufzubauen (wie es in umfassendem Maße Fa-cebook demonstriert) und daraus resultierend zeigt sich auf der Ebene der Nutzbarkeit der Technologien, dass Grenzen und Möglichkeiten des Handelns im Sinne einer „Take-it-or-leave-it-Wahl“ aufgezeigt werden (Bijker 1996, S.

142–143).

Auch wenn allen Expert*innen gemein ist, dass sie Wissen manipulieren, organisieren und auch mit der Vermittlung verändern (Stehr 1998, S. 24–26), so treffen wir bei der Technik- und Softwareentwicklung zum einen auf die Besonderheit, dass Akteur*innen verschiedener Bereiche, wie

Manager*in-Selbstexpertisierung mittels Software? 91 nen, Informatiker*innen, Forscher*innen, Designer*innen etc. mit entspre-chend unterschiedlichen Wissensbeständen in Bezug auf den Entwicklungsge-genstand aufeinandertreffen (Furger und Heintz 1997, S. 536). Zum anderen verfügen die primären Entwickler*innen zumeist in Bezug auf den Anwen-dungskontext ihrer Programme über keinen professionellen Hintergrund (bspw. als Gesundheitsexpert*in, Sprachtrainer*in usw.) und etablieren den-noch Bedeutungen, Wissensbestände und Praktiken. „Die technischen Dinge haben einen ‚Aufforderungscharakter‘“ (Hörning 2001, S. 14), welcher in De-sign und Programm der Technologien sedimentiert ist.

Die Entwicklungsbranchen arbeiten dabei in der Logik der „flüssigen Technokratie“: Die als starr und verhärtet beurteilten Formen des (Expert*in-nen-)Wissens sollen durch scheinbar transparente „informationstechnisch op-timierte Wissensvermittlungs-, Beteiligungs- und Mediationsverfahren“ er-setzt werden (Schrage 2012, S. 824). So lassen sich vermehrt organisationale Praktiken finden, die Medientechnologien in den Mittelpunkt stellen, wie dies Schäffer beispielweise anhand der Software „Liquid Feedback“ der Piraten-partei als Medium der Willensbildung herausarbeitet (vgl. Schäffer 2014, S.

205). Vertrauen wird nicht mehr in opake Formen der Expertise gesetzt, son-dern in auch für Lai*innen zugängliche Informationstechnologie, welche netz-werkförmigen Austausch ermöglicht (vgl. Schrage 2014: 824). Laien sind da-bei durch nutzer*innenfreundliches Design immer mehr in der Lage, kompli-zierte Technologien reflexionsfrei im Alltag zu benutzen, verlieren jedoch durch jene „kulturellen Banalisierungsprozesse“ das Bewusstsein für die An-wesenheit und das Wirken der Technologien in der Lebenswelt (Schmidt-Tie-demann 1996, S. 35–36). Dadurch schreibt sich das in die Technologien und Programme implementierte Wissen in der Praxis immer weiter fort.

3 Sonderwissen und „Expertensysteme“

Im Folgenden werden zwei Konzepte betrachtet, die m.E. für die Untersuchung von Wissensproduktion in der Technologieentwicklung relevant sind: aus wis-senssoziologischer Perspektive das „Sonderwissen“ und aus systemischer das der „Expertensysteme“.

Wie bereits erwähnt, wird in der Software- bzw. App-Entwicklung Wissen überwiegend jenseits der Professionen der Anwendungsgebiete erschlossen.

Sprondel (1979) bezeichnet Wissen in Bezug auf einen Gegenstand, das Ex-pert*innen als sozial institutionalisierte Expertisenträger*innen verwalten, als

„Sonderwissen“. Jenes Wissen ist für die „öffentliche[ ] Meinung“ relevant, insofern die Expert*innen sozial anerkannt sind (Schütz 1972, S. 100–101).

Das Deutungsmonopol von Professionen als institutionalisiertes Expertentum

wird jedoch ins Wanken gebracht, wenn es den Expert*innenengruppen nicht gelingt, Innovationen und Wissenserzeugung zu vereinnahmen (Hitzler 1998, S. 37). Dabei könnte man in Konstellationen der Technik- und Softwareent-wicklung fragen, ob nicht genau solche Irritationsmomente entstehen, wenn Entwickler*innen Wissenstechnologien bezogen auf einen für sie professions-fremden Gegenstand produzieren. Für die Betrachtung komplexerer Entwick-lungsumgebungen und Akteursgefügen stoßen allerdings Professionalisie-rungs- und Expertentheorien, die sich mit dem Wissen von Personen oder In-stitutionen beschäftigen, an ihre Grenzen. Im Folgenden wird daher für die Be-trachtung von Sonderwissen in der Technik- und Softwareentwicklung die sys-temische Theorie der Expertensysteme von Giddens (1996) herangezogen.

Giddens (1996) sieht die „Konsequenzen der Moderne“ u.a. in der „Ent-bettung“ („disembedding“ im englischen Originaltext) sozialer Systeme und Beziehungen aus ihren Abhängigkeiten von Ort und Zeit und stattdessen ihre Ordnung durch „abstrakte Systeme“ (Giddens 1996, S. 33). Einen Teil dieser Ordnung bildet das (den modernen Umgang mit Wissen kennzeichnende) Ver-trauen in „Expertensysteme“ als „Systeme technischer Leistungsfähigkeit oder professioneller Sachkenntnis“ (ebd.: 40), die kontinuierlich (im Gegensatz zu einzelnen Personen) Umfelder prägen und auf das Handeln wirken. Sie garan-tieren gewissermaßen, dass die Erwartungen an sie auch über Raum- und Zeit-grenzen hinweg erfüllt werden, auch wenn man die Systeme nicht vollständig versteht (Giddens 1996, S. 33–42). Vertrauen in ihr Funktionieren existiert da-bei „in der allgemeinen Einsicht, daß [sic!] menschliches Tun − wozu auch die Auswirkungen der Technik auf die materielle Welt gerechnet werden sollen − nicht durch das Wesen der Dinge oder durch göttlichen Einfluß [sic!] vorge-geben, sondern eine gesellschaftliche Leistung ist“ (Giddens 1996, S. 49). Zu-gangspunkte, um dieses Vertrauen aufrechtzuerhalten, bilden dabei Repräsen-tanten der abstrakten Systeme als „gesichtsabhängige Bindungen“ (ebd.: 103) und ermöglichen „Rückbettung sozialer Beziehungen“ (Giddens 1996, S. 112).

Giddens nennt hier u.a. die Flugbegleiter*innen, die stellvertretend für Flug-verkehr und -technologie auftreten und vermitteln, dass alles normal verläuft (vgl. ebd.: 110). Bei den Expert*innensystemen erfolgt dabei eine strenge Trennung zwischen „Darbietungen ‚auf der Bühne‘ und der Arbeit‚ hinter den Kulissen‘“, weil die Ambiguitäten des Expert*innenhandelns und der Umgang und die Produktion von Wissen schwer vermittelbar ist (Giddens 1996, S. 110).

Dieser Beitrag geht in Anlehnung an die Funktionsweise dieser Expert*in-nensysteme und die Herstellung von Vertrauen in diese abstrakten Systeme zum einen der Frage nach, wie das Sonderwissen auf der „Bühne“ kommerzi-elle erfolgreicher Apps verhandelt und – um die Metapher der gesichtsabhän-gigen Bindungen zu strapazieren – welche Maske dem Wissen aufgesetzt wird.

Zum anderen soll die Rekonstruktion der Entwicklungspraxis der Apps „hinter den Kulissen“ Aufschluss darüber geben, wie das „Sonderwissen“ in Bezug auf den Lerngegenstand generiert und verhandelt wird.

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4 Diskursives Wissen auf den Webseiten und

implizites Konstruktionswissen der

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