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Werner Helsper: Konzept der konstitutiven Antinomien der professionellen Praxis

3. Theoretische Grundlagen

3.3.2 Pädagogische Professionsdiskussion

3.3.2.1 Werner Helsper: Konzept der konstitutiven Antinomien der professionellen Praxis

Das Typische der Profession sieht Helsper in einer komplexen Form der Interaktion des Professionellen mit seinem Klienten, in der besondere ge-sellschaftliche Funktionen und Werte erfüllt werden, zum Beispiel Wahrheits- Konsens- und Identitätsfindung. Professionelles Handeln ist dabei immer bezogen auf lebenspraktische Probleme.

„In den komplexen in der Regel in Face-to-face-Interaktionen stattfinden-den Vollzügen, sind Professionelle dabei in konstitutive Handlungsdilem-mata involviert, die nicht aufgehoben, sondern nur reflexiv gehandhabt werden können.“148

Eine professionelle Berufsgruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie für die Bearbeitung von Problemen der Strukturerhaltung, der Strukturände-rung und der Identitätserhaltung von Personen zuständig ist. Das profes-sionelle Handeln gerät unter einen praktischen Handlungsdruck und Ent-scheidungszwang, wenn diese Personen nicht aus eigener Kraft für die Wahrung oder Wiederherstellung leiblicher, psychischer, moralischer und sozialer Anerkennung sorgen können, denn dann treten Professionelle zu ihrer Sicherung in Kraft. Helsper (1996) trifft eine gewichtige Unterschei-dung zwischen Professionellen und Experten. Der Professionelle verfüge über theoretische Wissensbestände und wissenschaftliche Deutungsmus-ter, könne sein Wissen aber nicht schematisch auf die konkrete Handlung bzw. den Einzelfall übertragen. Im Gegensatz dazu würde der Experte über ein technologisch kontrollierbares Regelwissen verfügen.149 Hier grenzt sich Helsper (1996) von Ansätzen ab, die Professionalisierung vor-nehmlich unter dem Fokus Wissensanreicherung sehen. Pädagogisches Handeln wird in diesem Professionskonzept also als ein professionelles verstanden, das typische Handlungsdilemmata aufweist. Ausgehend von Entwürfen des idealen Lehrerhandelns skizziert er pädagogische Hand-lungsprobleme und beschreibt folgende „konstitutive Antinomien“ des pä-dagogischen Handelns:

• Distanz versus Nähe

• Subsumtion versus Rekonstruktion

• Einheit versus Differenz

• Organisation versus Interaktion/Kommunikation

• Heteronomie versus Autonomie150

Helsper (2000) beschreibt und erläutert im Rahmen seines Konzeptes der konstitutiven Antinomien151 diese auf fünf Ebenen.

1. Die konstitutiven, nicht aufhebbaren professionellen Antinomien. Hiermit sind Widersprüche gemeint, die dem lebenspraktischen Handeln

148 Helsper 1996, 528.

149 Vgl. Helsper 1996, 529.

150 Vgl. Helsper 1996, 530.

151 Innerhalb der Professionstheoretischen Diskussion werden die Begriffe Paradoxie, Antinomie, Dilemmata und Widerspruch verwendet. Schütze spricht ausschließlich von Paradoxien, Helsper hingegen greift alle Begriffe auf, gebraucht dann für seine Ausfüh-rungen den Begriff Antinomien. Aus meiner Sicht beinhaltet der Begriff Paradoxie stärker das Element der Widersinnigkeit, der Begriff greift die Unvereinbarkeit auf. Der Begriff Antinomie bezeichnet den Widerspruch zweier an sich gültiger Sätze und der Begriff Di-lemmata deutet im Sinne einer Zwangslage auf eine Wahl zwischen zwei gleich unange-nehmen Dingen hin.

nent sind, wenn Krisen bewältigt werden müssen, dann gerät das profes-sionelle Handeln unter Entscheidungsdruck. Hinzu kommt, dass professi-onelles Handeln begründbar und legitimiert sein sollte, im aktuellen Han-deln lägen aber abgesicherte Begründungen (noch) nicht immer vor.

(Begründungsantinomie)

An dieser Ebene setzt nach Helsper die widersprüchliche Einheit der Ver-mittlung von Theorie und Praxis an. Das professionelle Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass es auf Grundlage theoretischer und wissenschaft-licher Erkenntnisse legitimierbar ist. Diese Erkenntnisse seien zwar ange-eignet, aber in der Praxis nicht einfach um- oder übersetzbar. Jede Ein-ordnung eines Falles unter allgemeine Kategorien birgt die Gefahr dem Einzelfall nicht gereicht zu werden und auf gewohnte Handlungsmuster zurückzugreifen. Das professionelle Handeln bedarf zwar einerseits der Routine, erfordert aber zugleich eine bewusste und kritische Haltung ge-genüber jeder Gewohnheit.152 (Subsumtionsantinomie) Hinzu kommt, dass das professionelle Handeln abhängig ist von dem Gelingen der Interakti-on unter Mitwirkung des Klienten/ Schülers bzw. Kollegen. Der Erfolg des Handelns lässt sich also im Vorfeld nicht zusichern, daher ist das Profes-sionelle Handeln anfällig für Fehler. (Ungewissheistsantinomie).

Einerseits die asymmetrische Struktur der Beziehung, die sich etwa durch Wissensbestände, Kompetenzen aber auch Ressourcen ausdrücken kann, und andererseits die Notwendigkeit Problemlösungen nicht vor-zugeben, sondern gemeinsam auf einer symmetrischen Ebene mit dem Gegenüber zu erreichen, stellen einen weiteren konstitutiven Widerspruch des professionellen Handelns dar. (Symmetrie- bzw. Machtantinomie). Die interaktive Gegenseitigkeit bedarf, um gelingende Handlungsverkettungen zu erreichen, einer wechselseitigen Vertrauensbasis. Je stärker die Ab-hängigkeiten sind und je weitreichender Handlungen die persönliche Ebe-ne betreffen, desto schwieriger wird es, eiEbe-ne vertrauensvolle Konstellation herzustellen. (Vertrauensantinomie)

2. Konstitutive Antinomien durch widerspruchsvolle Beziehungsstrukturen.

Am Beispiel der Lehrer/-in/ Schüler/-in - Beziehung werden Widersprüche des professionellen Handelns verdeutlicht, so muss das Handeln der Lehrkraft einerseits die psychosoziale Integrität der Heranwachsenden fördern und andererseits die Autonomie zulassen. Das professionelle Handeln erfordert strukturell Nähe und gleichzeitig Distanz. (Nähe-Distanz-Antinomie). Bei der Vermittlung von fachlichen Inhalten muss der lebensgeschichtliche Hintergrund und die aktuelle persönliche Situation der Lernenden berücksichtigt werden, was zu Antinomien von Person und Sache führen kann. (Sachantinomie) Eine grundlegende Antinomie be-steht zwischen dem Anspruch alle Adressaten gleich zu behandeln (Ein-haltung einer Gerechtigkeits(Ein-haltung), dies steht in einem Spannungsver-hältnis zur Berücksichtigung eines Einzelfalls, z.B. durch spezielle Zuwen-dung, Förderung und Unterstützung einzelner SchülerInnen. (Differenzie-rungsantinomie)

Die organisationsförmige Institutionalisierung (Schulsystem) ermöglicht auf der einen Seite die Gewährleistung personenunabhängiger Standards, die Vorstrukturierung durch gemeinsame Regeln und rollenförmige

152 Vgl. Helsper 2000, 145.

lungsmuster, steht aber auf der anderen Seite im Spannungsverhältnis zur Offenheit der durch Interaktion erfolgenden professionellen Praxis, d.h.

dass ein fest gefügter Organisationsapparat die Berücksichtigung indivi-dueller Entwicklungen vernachlässigt. (Organisationsantinomie) Ein päda-gogisches Grunddilemma zeichnet sich dadurch aus, dass der Professio-nelle auf der Grundlage bestehender Ungleichheit den Klienten/ Lernen-den zur Autonomie erziehen muss, es besteht die Gefahr, dass durch das professionelle Handeln Abhängigkeit bzw. Unselbstständigkeit erzeugt wird. Hinzu kommt, dass Lehrende selbst in einem organisatorischen Rahmen handeln, d.h. nicht losgelöst von Abhängigkeiten handeln. (Auto-nomie-Antinomie)

3. Historische, kulturell ausgeformte Widerspruchsverhältnisse:

Diese Ebene bezieht sich auf die strukturellen Bedingungen des Bildungs-systems, denn es besteht ein Grundwiderspruch zwischen einer zwangs-förmigen allgemeinen Schulpflicht und dem Verspechen zur Selbststän-digkeit und MünSelbststän-digkeit zu erziehen.

Durch den Widerspruch zwischen Fördern und Auslesen werden die bis-her genannten Antinomien verschärft, weil dadurch die Konstruktion sym-metrischer Verhältnisse erschwert wird. Innerhalb dieses soziokulturellen Rahmens des Schulwesens findet jedes Lehrerhandeln statt und unter den konstitutiven Bedingungen dieses Rahmens ist mit den professionel-len Antinomien umzugehen. Helsper (2000) verweist an dieser Stelle auf eine klare Trennung zwischen einem soziokulturellen Professionalisie-rungsbedarf im Handeln der Lehrer und Lehrerinnen auf der Systemebene Schule und einer Professionalisierung der Berufsgruppe der Lehrerinnen und Lehrer auf der Individualebene. 153

4. Professionelle Handlungsdilemmata

Diese Handlungsdilemmata beziehen sich auf die konkrete Ausformung des professionellen Umgangs mit Antinomien. Dabei wird dieses Handeln sowohl auf der Ebene der Einzelschule (unterschiedliche Lehrergruppen) als auch auf der Individualebene Lehrerin/Lehrer betrachtet. Helsper (2000) geht davon aus, dass sich Zuspitzungen des Handelns ergeben, wenn in einer einzelschulspezifisch ausgebildeten Schulkultur wider-sprüchliche Anforderungen an das professionelle Handeln gestellt werden, z.B. höchste Leistungsansprüche und eine Hervorhebung differenzie-rungs- und selektionsorientierter Haltung vs. das Bild einer integrierten Schulgemeinde. Hier muss die einzelne Lehrkraft eine Haltung entwickeln und aufgrund dieser Positionierung prägen sich damit zusammenhängen-de Handlungsdilemmata aus.154

5. Modernisierungsantinomien

Ausgehend von der These, dass ein enger Zusammenhang zwischen ei-ner umfassenden sozialen und kulturellen Modernisierung und dem Fort-schreiten der konstitutiven Antinomien des Lehrerhandelns besteht, zeigt Helsper (2000) vier Modernisierungsantinomien auf: 155

153 Vgl. Helsper 2000, 154.

154 Ebd. 155.

155 Helsper (2000), bezieht sich auf das konzeptionelle Schema der Modernisierungsten-denzen von van der Loo und van Reijen (1992). Anhand der vier Dimensionen Struktur,

Rationalisierungsantinomie: Das Spannungsverhältnis der Professionellen zu der sie beschäftigenden Organisation, hier können zweckrationale abs-trakte Regeln im Widerspruch stehen – zum Beispiel im Fall der Schule- zu den inhaltlichen Zielen. Die Organisation kann einerseits Entlastungen durch geregelte Strukturen bieten, andererseits zu Beschränkungen füh-ren.

Differenzierungsantinomien: Durch eine wachsende Spannung zwischen der Tendenz zur Vereinheitlichung (Globalisierung) einerseits und ande-rerseits durch die voranschreitende Ausdifferenzierung von Lebensformen und Weltdeutungen ergibt sich eine Zunahme von Entscheidungsmöglich-keiten bei gleichzeitiger Zunahme von Entscheidungszwängen.

Zivilisierungsantinomie: Im Zuge der Modernisierung nehmen Anforderun-gen an die Affekt- und Selbstkontrolle des Individuums zu und gleichzeitig wird ein hohes Maß an Verständigung und emotionaler Nähe gefordert.

Individualisierungsantinomie: Einerseits ist die Individualisierung durch die Aufhebung gesellschaftlicher Zwänge befördert worden, beinhaltet aber andererseits die Last der eigenverantwortlichen Entscheidungsfindung.

Ausgehend von Schützes Darstellung der Profession als Beruf, deren Be-sonderheit durch professionelle Paradoxien gekennzeichnet ist, sollten die Ausführungen von Helpers Konzept zu einer genaueren Bestimmung die-ser Widersprüche führen. Auch bei Helsper werden strukturelle Besonder-heiten des professionellen pädagogischen Handelns hervorgehoben, um fundamentale Antinomien zu bestimmen. Da sich die pädagogische Praxis nicht vollkommen geändert hat und es auch nicht zu grundlegenden struk-turellen Umbrüchen in der Organisation Schule gekommen ist, kann man davon ausgehen, dass die Antinomien auch in der Gegenwart Bedeutung haben.

Helsper (2000) führt die Probleme des professionellen Handelns im We-sentlichen auf die Institutionalisierung des pädagogischen Handelns und die sich daraus ergebenden Widersprüche zurück, er bezeichnet die struk-turtheoretische Ebene als die grundlegende Ebene. Die Antinomie von Organisation versus Interaktion ist bereits im Rahmen der klassischen Professionstheorie beschrieben worden, auch Schütze (1996) geht davon aus, dass ein wesentlicher Teil der professionellen Handlungsparadoxie durch den Kontext der Organisation entstehen würde. Er weist darauf hin, dass es durch das eingegangene Arbeitsbündnis und den sich daraus er-gebenden Aktivitätsbereich für die Professionsratio besonders schwierig sei, ihre Umsicht bei der Bearbeitung der unaufhebbaren Paradoxien zu

Person, Kultur und Natur arbeiten sie die Modernisierungstendenzen (Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung, Domestizierung) heraus und ordnen diesen wider-sprüchliche Begleiterscheinungen (Modernisierungsparadoxien) zu. Helsper ordnet die fünf strukturellen Antinomien dem Schema zu, wobei zum Beispiel die Zuordnung der Antinomie Nähe/Distanz zu der Dimension Natur nicht unhinterfragt bleiben dürfte. Des Weiteren verwendet Helsper die Begriffe Modernisierungstendenz und Paradoxien meist synonym. Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, auf die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten einzugehen. Hierzu vgl. Soertz (2002), 163ff.

bewahren. Zudem würde die zunehmende Durchorganisiertheit und Tech-nologisierung heutiger Komplexgesellschaften die Organisationsstrukturen immer umfangreicher und anspruchsvoller werden lassen. Dadurch wür-den sich die Paradoxien des professionellen Handelns fortlaufend ver-schärfen.156

Die Betonung dieses Aspektes birgt die Gefahr, dass alle „Nicht-Professionalität“ auf das Grundparadoxon der Organisation reduziert wer-den könnte. Mit dem Hinweis auf die vielfältigen und unterschiedlichen, nicht immer widersprüchlichen Anforderungen des pädagogischen Han-delns formuliert Soretz (2003): „Hier wäre allerdings die Beobachtung aus-zuschließen, dass das inflationäre Insistieren auf paradoxale, widersprüch-liche und antinomische Konstellationen auch als Versuch einer Aufwer-tung des Lehrberufs angesichts seines ungeklärten Professionsstatus in-terpretiert werden kann.“157

Positiv gewendet könnte also folgende Professionalisierungsanforderung formuliert werden: Der organisatorische Rahmen der Schule sollte so ge-nutzt werden, dass dem Berufsauftrag möglichst professionell nachzu-kommen ist, zumal Lehrkräfte und Schulleiterinnen und Schulleiter sich freiwillig diesen organisatorischen Zusammenhang für ihre berufliche Tä-tigkeit gewählt haben, was auf Schülerinnen und Schüler nicht zutrifft.