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Was ist Widerstand?

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 81-91)

I. Die Kannibalen: To eat or not to eat

3. Was ist Widerstand?

a. „Mit Gebet, aber ohne Messer“

Klaub als profiliertester Befürworter des Kannibalismus bestreitet nicht nur die Berechtigung von Onkels moralischer Argumentation gegen das Menschenmahl, sondern er verweigert sich von Anfang an auch dem Traumspiel (I, 47: „Alle außer Klaub stampfen mit den Füßen […].“ – I, 48: „Die anderen, außer Klaub, lachen.“). Da er die Suggestivkraft des versinnlichenden und emotionalisierenden Spiels erkennt, wendet er das Mittel schließlich gegen Onkel (I, 58-64). Er greift dabei Elemente eines Gesprächs zwischen Ramaseder und Onkel auf, in dem der Junge nach Onkels in Tiermetaphern gekleideter Option des

‚Durchhaltens‘ gefragt hat (I, 39): „‘Die einzige Methode, Gänsen zu widerstehen, ist die, einer Gans so unähnlich wie möglich zu bleiben.‘ Was bedeutet das denn? […] Eine Mahlzeit verfluchen? Hungern?“ Die Frage bleibt zwar von Onkel unbeantwortet, aber sie spricht innerhalb der Figurenrede zum ersten Mal explizit die Idee des Widerstands an, die am Ende der Handlung in den Mittelpunkt rückt.

Klaub stellt mit den anderen Häftlingen die Deportation nach, bei der Onkel bewusst das einzige Messer hat verschwinden lassen, so dass die Möglichkeit vereitelt war, durch Ermordung der Wache und Flucht Auschwitz zu entkommen:

KLAUB: Welche Haltung drückte sich in dem Tötungsplan aus? Kannst du sie auf eine kurze Formel bringen?

ONKEL: „Ich lasse mich nicht wie ein Lamm zur Schlachtbank führen.“ (I, 59)

296 Zum Symbolwert des Messers in Hinblick auf Tod, Aggression und Gefahr in einer pazifizierten Gesellschaft und zur damit verbundenen Einschränkung seines Gebrauchs vgl. Elias 1990, S. 164-169. – Der bei Elias grundsätzlich gefasste Assoziationswert des Messers wird in den Kannibalen konkretisiert in Heltais Abwehr von Erinnerung und Schuldgefühlen.

Mit dem biblischen Zitat (nach Jes. 53, 7 und Jer. 11, 19) wird in den Kannibalen ein Gedanke ausgesprochen, der in der Debatte der 1960er Jahre über den jüdischen Widerstand auch in dieser beinahe ‚kanonischen‘ Formulierung zentral war.297 Mit diesem Signal erhält die zuvor dominante Auseinandersetzung über das moralisch gebotene Verhalten eine neue Dimension: die Frage nach dem Widerstand wird nun verhandelt. Klaub wirft Onkel sein Handeln und dessen religiöse Legitimierung in gezielt beleidigender Form vor, wenn er Formulierungen der Bergpredigt persifliert:

KLAUB: […] Er sprach flammende Worte, dort im Viehwagen, Gottes Marktschreier, ewig den gleichen alten Ramsch verhökernd – Den Sing-sang eines Betenden karikierend

„Widerstrebt nicht dem Übel. Bietet die andere Backe dar.

Selig ist, wen die Menschen schmähen, Wer den Bürgersteig aufwischt –”

Die anderen: den Rhythmus aufnehmend „Selig, selig sind die Toten!“

KLAUB: „Und die Lebenden, die essen wollen, soll der Teufel holen. […]

Du sollst nicht töten –”

DIE ANDEREN: „Warum den Mördern ihr Handwerk unnötig erschweren?“

KLAUB: „Denn wer das Schwert nimmt –”

DIE ANDEREN: „Der soll durchs Schwert umkommen!“

KLAUB: Läuft zu Onkel, beugt sich zu ihm Und die es nicht genommen haben? Wie sterben die, Onkel? Sag uns das, Onkel, du, der du uns hierher gebracht hast! (I, 61) Indem Klaub die Gebote der Bergpredigt persiflierend auf die Situation der Häftlinge appliziert, parallelisiert er Onkels Eintreten gegen den Mord an den Wachen („Du sollst nicht töten –”) und die Ablehnung des kannibalischen Mahls („Und die Lebenden, die essen wollen, soll der Teufel holen.“). Mit der Verantwortung für die Vereitelung der Flucht schiebt er Onkel auch die Verantwortung für die verzweifelte Lage und den drohenden Hungertod im Lager zu: „du, der du uns hierher gebracht hast!“

Mit dieser Verschiebung der Verantwortung von den eigentlichen Tätern, den Nazis, auf Onkel, das jede Form von Gewalt ablehnende Opfer, lässt Klaub im weiteren Nachspielen der Deportation ein Ventil für die aufgestaute Wut der Gefangenen entstehen (vgl. I, 62f.):

Während Onkel, seine ‚Rolle‘ im Viehwaggon konsequent weiterspielend, mit Auszügen aus dem Psalm 22 seine Ergebenheit ins Schicksal und sein festes Gottvertrauen in der Bedrohung zum Ausdruck bringt, steigert sich die Aggression der anderen so weit, dass sie in die Rolle der eigentlichen Aggressoren, der Nazis also, schlüpfen und Onkel zunächst mit den Worten „Sau – – jud – – Arsch – – loch – – Scheiß – – kerl!“, dann nur noch obstinat mit „Saujud! Sau…jud! Sau…jud! Sau…jud!...“ beschimpfen (I, 63). Spätestens an

297 Es geht hier also keineswegs um „Sprachskepsis“, wie Strümpel meint, zumal die Formel in den 1960er Jahren noch keine „längst abgenutzte Metapher“ ist (Strümpel 2000, S. 64), sondern die in ihr ausgedrückte Passivität ernsthaft und heftig diskutiert wird. Noch Jahrzehnte später bedient sich Hermann Langbein sogar im Titel seines Buchs über den Widerstand der biblischen Formel: ... nicht wie Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in den nationalsozialistischen Lagern. Vgl. Langbein 1985.

dieser Stelle verschwimmen die Spielebenen auf komplexe Weise: Man sieht hier nicht nur im Nachspielen der Deportation Nazis, die Juden beschimpfen, sondern auch auf der Auschwitz-Ebene gefangene Juden, die einen Mitgefangenen als ‚Saujuden‘ attackieren, weil sie ihn für ihr Los verantwortlich machen, und auf der Nach-Auschwitz-Ebene die nachgeborenen Juden, die einen der ihren als ‚Saujuden‘ schmähen, weil sie über die Frage streiten, ob man gewaltsamen Widerstand hätte leisten sollen.

Klaub lässt die Situation weiter eskalieren, indem er auf der grammatikalischen Ebene seiner Aussagen Onkel wiederholt an die Stelle jener rückt, von denen Onkel sich durch seine Gewaltlosigkeit gerade unterscheiden will:

GHOULOS: Also sperrten sie uns wieder in den Zug!

KLAUB: auf Ghoulos zu, reißt ihm den Arm in die Höhe, so daß die Finger auf Onkel zeigen ER SPERRTE UNS WIEDER IN DEN ZUG!

PUFFI: Sie haben uns nackt ausgezogen!

KLAUB: […] reißt Puffis Arm in die Höhe ER HAT UNS NACKT AUSGEZOGEN!

ZIGEUNER: Sie werden uns in den Duschraum führen!

KLAUB: zum Zigeuner, reißt ihm den Arm in die Höhe ER WIRD UNS IN DEN DUSCHRAUM FÜHREN! Er springt auf eine Bank; kreischend. MIT GEBET; ABER OHNE MESSER! (I, 63f.)

Die „außer Kontrolle“ (I, 64) geratende Auseinandersetzung, die in einer wüsten Schlägerei endet, führt die Brisanz des Widerstands-Themas für die Opfer eindrücklich vor Augen.

Was Jan Strümpel das ‚Täterpotential‘ im Opfer genannt hat, wird im Konflikt zwischen den Opfern in perfider Weise der Figur Onkel unterstellt, wenn er zum Urheber der tödlichen Bedrohung umgedeutet wird.298 Zudem wird dieses Potential in der verbalen und körperlichen Aggression auf der Bühne ausagiert, es erhält also eine performative Präsenz für das Publikum, und das auf beiden Ebenen der Handlung: Die eskalierende Aggression findet zwischen den Söhnen statt, die um das Andenken ihrer Väter ringen und die verschiedenen Handlungsoptionen der Auschwitz-Häftlinge mit großer Vehemenz gegeneinander verfechten; zugleich kann man den Konflikt um die Widerstandsfrage zwischen den Vätern ‚mitsehen‘. Im Augenblick der größten Aggression unter den Opfern bestätigen die Häftlinge – sie lynchen Onkel beinahe – ungewollt Onkels Plädoyer dafür, nicht die Methoden der Nazis zu übernehmen. Indem die Häftlinge gewalttätiges Verhalten auch für sich reklamieren, werden sie tatsächlich ‚wie die‘: Sie „zeigen die Brutalität der Unmenschen“ (I, 64).

Klaub, erschrocken über den Sog des Deportationsspiels, die Dynamik seiner eigenen demagogischen Verve und die Eskalation der verbalen zur handgreiflichen Aggression, erkennt, dass Onkel den Mechanismus des ‚Wie-die-Werdens‘ richtig eingeschätzt hat.

298 Das ‚Täterpotential‘ als Unterstellung innerhalb der Opfer-Gruppe der Väter hat Strümpel zwar übersehen;

sein Konzept lässt sich aber problemlos in dieser Weise erweitern.

Obwohl er zuvor den Kannibalismus am vehementesten propagiert hat, verzichtet er nun als erster auf das Menschenmahl: „Ich habe keinen Hunger.“ (I, 65)

b. Auftritt des Täters

Just in diesem Moment, da das kannibalische Mahl gar ist und jeder einzelne Häftling sich nach den langen internen Auseinandersetzungen für oder gegen das Essen entscheiden muss, erscheint der SS-Mann Schrekinger mit dem Kapo in der Baracke. Während er die Häftlinge für die Selektion einzeln mustert, lässt er den Kapo Fotos machen:

SCHREKINGER: Er reichte dem Häftling ein Miniatur-Schachspiel. Er machte einen Zug. Er gab auf. Er schüttelte dem Häftling die Hand.

Weiss streckt, grimassenhaft lächelnd, die Hand aus, erstarrt in dieser Pose.

KAPO: Klick.

SCHREKINGER: „Der gute Verlierer.“ (I, 68)

Dieser Auftritt wiederholt sich mehrfach und läuft jedes Mal nach demselben Muster ab (vgl. I, 67ff.): Der SS-Mann inszeniert kleine Begegnungen mit einem Häftling, in denen Täter und Opfer (wie hier als Schachpartner)299 scheinbar von gleich zu gleich einander gegenübertreten oder der Täter vorgeblich sogar großmütiges Verhalten gegenüber dem Opfer an den Tag legt. Das eingeschüchterte Opfer spielt seine ‚Rolle‘ gezwungenermaßen mit (Weiss: „grimassenhaft lächelnd“; Hirschler gibt in ‚seiner Szene‘ „ein forciertes Gelächter von sich“, I, 67). Schrekinger lässt davon ein Foto machen und gibt dem Bild klischeehafte Titel, die die Tendenz der kleinen Inszenierungen zur Wirklichkeitsverfälschung und zur Behauptung von ‚fairen‘ Täter-Opfer-Beziehungen weiter verfestigen: „Ein Scherzwort im Kreise der alten Knastbrüder.“ (I, 67) – „Der gute Verlierer.“ (I, 68) – „Den Toten gebührt unsere Achtung.“ (I, 68) – „Die Liebe höret nimmer auf.“ (I, 69). Schrekingers apologetisch-propagandistische Fotoinszenierungen bilden einen entscheidenden Schritt in der Handlung, weil sie den Häftlingen bewusst machen, dass Schrekinger sie nicht nur erniedrigt, sondern ihr Verhalten – sinnfällig in den Fototiteln – auch nach seinem Gusto umdeutet, um der Um- und Nachwelt ein falsches Bild von den Machtbeziehungen zwischen Tätern und Opfern zu vermitteln.

Schrekinger vermisst schließlich sein „Lieblingsobjekt“ Puffi (I, 69), dessen propagandistischen Nutzen für die Täter Onkel zu Beginn der Handlung benannt hat: „Die Aufseher machten gern Fotos von ihm, um der Nachwelt zu beweisen, wie gut man uns Judenschweine verpflegte.“ (I, 8) Als Schrekinger Puffi gegart im Topf entdeckt, erkennt er

299 Im Kern enthält diese kurze Szene schon eine Tendenz der Uminterpretation, der Tabori im Jahr 1991 Lessings Drama „Nathan der Weise“ unterzieht. Dem Schachspiel des Sultans kommt in Nathans Tod eine ähnliche Funktion zu wie hier: Es ist ein nur scheinbar von gleich zu gleich spielbares Spiel um Leben und Tod. Vgl. Brandstetter 1997, bes. S. 235ff.

augenblicklich, dass Kannibalismus unter Juden sich propagandistisch perfekt nutzen ließe, und er modifiziert seine Strategie. Der lebende, fette Puffi kann ihm nicht mehr dienen, also bedient er sich des toten „Fettwanst[es]“: „Deckt den Tisch.“ (I, 69) Mit dieser Replik ist die bis dahin vor allem unter moralischen Gesichtspunkten erörterte Frage, ob eine Gruppe von Auschwitz-Häftlingen einen von ihr erschlagenen Mithäftling verspeisen dürfe, um dem Hungertod zu entgehen, endgültig in einen anderen Bezugsrahmen gestellt.

To eat or not to eat, so lautet nun nicht mehr nur das Dilemma zwischen Wahrung der Menschenwürde und Hungertod, dies ist nun auch die Wahl zwischen zwei möglichen Haltungen gegenüber den Tätern: zwischen einerseits der restlosen Willfährigkeit gegenüber dem Vernichtungswillen der Täter, die mit ihren Propagandamitteln auch auf die symbolische Auslöschung des Subjekts zielen, und andererseits dem Widerstand. Ein akustisches Signal („In diesem Augenblick ertönt aus den Lautsprechern leise die Polka des Anfangs.“ I, 69) zeigt die Neuperspektivierung der Frage an: Der Konflikt der Opfer ist wieder ‚auf Anfang gestellt‘.

Die Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen des Kannibalismus haben sich mit dem Auftritt des Täters verändert.

c. Ein Zeichen

Bevor Schrekinger die Häftlinge direkt auffordert zu essen, bietet ein Gespräch zwischen Schrekinger-Sohn und Schrekinger-Vater Einblicke in die Gedanken des Täters.300 Vorangetrieben werden die Äußerungen des Vaters durch die fünfmal hartnäckig wiederholte Frage des Sohns „Vater, was hast du im Krieg gemacht?“ (I, 69-71). Beim ersten Fragen schwadroniert der Vater abgehoben „von moralischer Vorzüglichkeit“ und vom ‚Bösen‘ (I, 70). Nach der zweiten Frage greift er die Frage des ‚Bösen‘ auf und erzählt von seinen Gefühlen bei der Bombardierung Dresdens:

Das hat mir nichts ausgemacht, es war eine Auseinandersetzung zwischen Mördern, das Böse hielt Zwiesprache mit dem Bösen. Ich sah die Trümmer und die verbrannten Kinder, und ich schrie den Bombern zu: Ihr dämlichen Arschlöcher, ihr seid auch nicht besser als ich! Ja, mein Lieber, in Dresden, da hab ich mich wohl gefühlt. (I, 70)

Diese Replik verdient Beachtung: Tabori, der nach Großbritannien emigrierte, 1945 im Dienst der britischen Armee stehende Jude, legt einem deutschen Täter Worte in den Mund, die den Luftangriff der Briten auf Dresden explizit als Ausdruck des ‚Bösen‘ und Werk von ‚Mördern‘ charakterisieren, und er relativiert diese Aussagen weder durch eine Gegenreplik noch durch den Nebentext. Eine Abwertung der Feststellung erfolgt auch

nicht einfach dadurch, dass ein Mörder sie ausspricht. Denn Tabori benutzt diese Einschätzung Schrekingers als valides Element in einer Hierarchie der unmoralischen Taten, die – dies vor allem ist bemerkenswert – mit Onkels moralischer Argumentation konvergiert. Onkels Ansicht, dass die Übernahme ‚bösen Handelns‘ durch jene, die sich moralisch im Recht befinden, sie selber ins Unrecht setzt und ‚wie die werden‘ lässt, nämlich wie die ‚Bösen‘, lässt sich auf die Geschehnisse in Dresden anwenden: Die Alliierten haben mit der Tötung zahlloser Zivilisten sich selbst ins Unrecht gesetzt und sind wie die Nazis geworden.301 So verkündet es unwidersprochen der Nazi in den Kannibalen.302 Ganz anders fühlt Schrekinger gegenüber den Juden, die ihr Verhalten nicht dem seinen angepasst haben, wie er nach der dritten Frage des Sohns gesteht:

Heute wird gern behauptet, daß sie sich nicht wehrten, daß sie keinen Widerstand leisteten. Du weißt nicht, was Widerstand ist; aber ich weiß, was Widerstand ist. Ich wußte es schon damals, als ich diesem bärtigen Kacker befahl, den Bürgersteig aufzuwischen, und er tat es, und ich wartete auf ein Zeichen, ein Zeichen des Kontaktes, etwas Erkennbares, eine Geste, irgend etwas, das zeigen würde, […] daß wir im Innersten doch Brüder waren […]. Doch es kam kein Zeichen. Er wischte den Bürgersteig auf. Er hielt sich vollkommen rein, nein intakt, in seiner Verschiedenheit! (I, 70f.)

In dem „bärtigen Kacker“ kann man durchaus Onkel erkennen, von dessen Bürgersteig-Aufwischen Ramaseder Ähnliches berichtet (vgl. I, 39). Die Verweigerung von Widerstand im herkömmlichen Sinn – etwa: Aufbegehren, Streit, ein tätlicher Angriff auf den Nazi – die Verweigerung eines „Zeichen[s] des Kontaktes“ also, das eine Gleichheit von Täter und Opfer signalisieren würde („im Innersten doch Brüder“), dies wird vom Täter als

‚Widerstand‘ begriffen. Er muss sich der Erkenntnis stellen, die ihm am unangenehmsten ist: dass er allein ‚das Böse‘ vertritt. Die Epiploke lenkt die Aufmerksamkeit auf den Begriff: ‚Widerstand‘ ist auch innerhalb des Dramentextes explizit so gekennzeichnet, wie Tabori ihn in seinem Begleittext zu den Kannibalen definiert hat, nämlich als die

„Weigerung, sich zu etwas zwingen zu lassen“. Die abstrakte Definition wird konkretisiert

300 Wie in manchen Repliken der Opfer ist das Gespräch zwischen dem Mörder und seinem Sohn als Selbstgespräch des Sohns angelegt. Es wird suggeriert, dass das Gespräch zwischen dem Vater und dem Sohn so stattgefunden hat, wie der Sohn es mit verteilten Rollen ‚nachspielt‘.

301 Tabori weist damit auf die moralische Dimension des alliierten Luftkriegs gegen die deutsche Zivilbevölkerung hin, lange bevor diese Frage in der deutschen Öffentlichkeit breit diskutiert wurde. Diese Diskussion hat der Historiker Jörg Friedrich mit seinem wegen emotionalisierender Formulierungen umstrittenen Buch Der Brand erst in jüngster Zeit wirkungsvoll angestoßen; vgl. Friedrich 2002.

302 Dass Schrekinger sich angesichts der „verbrannten Kinder“ durchaus „wohl gefühlt“ hat, erinnert zudem frappant an Hirschlers Traum vom Glück (I, 50): „In meinem Traum sah ich dieses Kind im Reisfeld! Sein eines Auge war nur’n großes klaffendes Loch, Nase war weggebrannt, die Zunge herausgeschnitten, aber … und das ist das Faszinierende an der Sache … ich war glücklich! […] Ich war glücklich, weil mir klar wurde, daß alle anderen auch Mörder sind, nicht nur ich allein, alle, hören Sie? ALLE!“ Auch diese Übereinstimmung bestätigt Onkels Mahnung, dass man sich durch unmoralisches Handeln ‚denen‘ angleiche: Der Nazi und der Jude brauchen am Ende beide das Gefühl, dass alle anderen genauso schlecht wie sie sind.

in der Weigerung der Opfer, sich zur Anpassung an die Tätermethoden zwingen zu lassen, sich mit den Tätern gemein zu machen.303

Dass Onkels und – wie der Begleittext zeigt – auch Taboris Verständnis des Widerstands ausgerechnet von der Täterfigur innerhalb des Dramas bestätigt und bekräftigt wird, kann man problematisch oder sogar skandalös finden, aber es gehört zu Taboris programmatisch betriebener Aufkündigung der eingefahrenen Figurenschemata, zur Weigerung, „die tödliche, katastrophische Konstellation zwischen Deutschen und Juden im Einvernehmen mit den umlaufenden Schematisierungen und Verabredungen darzustellen“.304 Dass die Häftlinge ein breites Repertoire von unmoralischen Verhaltensweisen an den Tag legen, hat die vorliegende Interpretation im Zusammenhang mit der Darlegung des Hungers und der kannibalischen Versuchung schon gezeigt: die Opfer beschimpfen, bestehlen, belügen, verraten, prügeln und erschlagen einander. Was Tabori an seinen Opferfiguren vorgeführt hat, das fasst seine Täterfigur Schrekinger ebenfalls noch einmal zusammen, nach der vierten Frage des Sohn:

Und dabei waren sie nicht etwa gütig oder tapfer, nein, sie stahlen, sie betrogen, sie verrieten sich gegenseitig, sie stanken, sie hungerten, sie mordeten, das ist nichts Besonderes, das kann jeder, aber da war immer diese Verschiedenheit, diese unvertraute Art, wie sie sich abschlachten ließen, um dadurch das Wesen der Schlächterei genau zu kennzeichnen. (I, 71)305

In Übereinstimmung mit der Darstellung der Opferfiguren innerhalb des Dramentextes und mit den paratextuellen Äußerungen des Autors hebt die Täterfigur nicht nur das moralische Fehlverhalten der Opfer, sondern gerade auch den entscheidenden Unterschied zwischen Tätern und Opfern hervor: die Gewaltlosigkeit der Opfer angesichts der Schlächterei, die für den gewaltgewohnten Täter „unvertraute Art, wie sie sich abschlachten ließen“. Daher werden Opfer und Täter keinesfalls einander gleich oder austauschbar.306 Allerdings hat Tabori in den Kannibalen – anders etwa als Sylvanus in seinem Stück Korczak und die Kinder – gezeigt, dass die Opfer des Holocaust keine der Wirklichkeit entrückten Heiligen mit unangreifbarer moralischer Standhaftigkeit waren, sondern dass sie in ihrer verzweifelten physischen und psychischen Notsituation auch anfällig für unmoralisches Tun waren. Deshalb könnte auch von Tabori der Satz stammen, den Primo Levi anlässlich seiner Schilderungen aus Auschwitz geschrieben hat: „Ich weiß sehr wohl, daß dies alles recht wenig zu dem Bild paßt, das man sich im allgemeinen von Unterdrückten macht, die

303 Karin Dahlke nennt Schrekingers Ziel die „Gleichschaltung der Opfer mit den Tätern“; vgl. Dahlke 1997, S. 140.

304 Braese 1996, S. 33.

305 In Tabori 1994a ist in sinnentstellender Weise das falsche Wort kursiviert („[…] diese unvertraute Art, wie sie sich abschlachten ließen […]“); ich korrigiere die Kursivierung hier gestützt auf eine frühere deutsche Druckfassung der Kannibalen in Tabori 1981a, S. 41-138, hier S. 134.

306 Vgl. Uberman 1995, S. 71; Pott/Sander 1997, S. 175f.

sich, wenn schon nicht im Widerstand, so doch im Erdulden zusammenschließen“.307 Der Entzauberung des Mythos von „stets unschuldigen Opfern“308 entspricht komplementär eine programmatisch zu verstehende Vermenschlichung: „das ist nichts Besonderes, das ist normal“.

Die von Schrekinger angesprochene „Verschiedenheit“ gewinnt szenische Präsenz, wenn die Bühnenhandlung vom Vater-Sohn-Dialog zurück auf die Auschwitz-Ebene springt.

Schrekinger fordert die Häftlinge zum Essen auf und kündigt auch gleich die propagandistische Verwertung der Vorgänge an:

Guten Appetit.

Keiner rührt sich.

Ich mache Fotos.

Keiner rührt sich.

Eßt. (I, 71f.)

Worauf Schrekinger wartet, nämlich ein „Zeichen des Kontaktes“, das verweigern die Häftlinge nun. Nachdem die Implikationen der beiden Handlungsoptionen – to eat or not to eat – geklärt sind, genügen den Häftlingen zunächst Schweigen und Regungslosigkeit, dann gestischer Ausdruck, um ihre Entscheidung kund zu tun: „Dreißig Sekunden Stille. Dann schüttelt Haas lange und heftig den Kopf.“ Nach und nach folgen alle Haas‘ Beispiel und ziehen den sofortigen Gastod der vollkommenen Erniedrigung vor. Die durch Schrekingers Worte als Widerstandsakt gekennzeichnete Essensverweigerung bedarf keiner Verbalisierung

Worauf Schrekinger wartet, nämlich ein „Zeichen des Kontaktes“, das verweigern die Häftlinge nun. Nachdem die Implikationen der beiden Handlungsoptionen – to eat or not to eat – geklärt sind, genügen den Häftlingen zunächst Schweigen und Regungslosigkeit, dann gestischer Ausdruck, um ihre Entscheidung kund zu tun: „Dreißig Sekunden Stille. Dann schüttelt Haas lange und heftig den Kopf.“ Nach und nach folgen alle Haas‘ Beispiel und ziehen den sofortigen Gastod der vollkommenen Erniedrigung vor. Die durch Schrekingers Worte als Widerstandsakt gekennzeichnete Essensverweigerung bedarf keiner Verbalisierung

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 81-91)