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Die referentielle Dimension: Essen als Kulturthema

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 46-51)

III. Das Kulturthema Essen in Drama und Theater. Grundlagen und Fragen

3. Die referentielle Dimension: Essen als Kulturthema

Im Folgenden werden die möglichen Referenzbereiche des Essensthemas mit Rekurs auf kultur- und literaturwissenschaftliche Studien aufgeschlüsselt und heuristische Fragen und Hypothesen für die Interpretationen entwickelt.

a. Natur und Kultur

Als erster Referenzbereich des Essens ist sein Rang als ‚Fundamentalie‘ des menschlichen Lebens namhaft zu machen. Das Essen kann also in literarischen Texten gerade auf die Schnittstelle von Natur und Kultur verweisen, d.h. eine Figur, die Handlung und andere Bedeutungsträger (wie das Bühnenbild, Requisiten etc.) im Bezugsrahmen von ‚Tier‘ und

‚Mensch‘, ‚Barbarei‘ und ‚Zivilisation‘‚ ‚Physiologie‘ und ‚soziokultureller

185 Fischer-Lichte 1998a, S. 11. – Ich benutze den Begriff der ‚Performanz‘ wie von Fischer-Lichte definiert;

zu anderen Performanzbegriffen in Sprachphilosophie, Literaturtheorie und Kulturwissenschaften vgl. Wirth 2002; vgl. ferner Fischer-Lichte/Wulf 2001.

186 Der performative Aspekt des Essens im Theater bereitet einige methodische Schwierigkeiten, weil die vorliegende Untersuchung nicht theaterwissenschaftlich, sondern literaturwissenschaftlich angelegt ist. Für die adäquate Erfassung der Performanz mit ihren drei Teilbereichen (Transformation des Textes in die Aufführung, die Aufführung selbst und die Rezeption) müssten systematische Untersuchungen der Probenarbeiten, Aufführungsanalysen und breit angelegte Rezeptionsanalysen unternommen werden, was den Rahmen der vorliegenden Arbeit zweifellos sprengen würde. Die Performanz der in Frage stehenden Theaterstücke wird daher zum einen aus dem schriftlichen Substrat rekonstruiert: aus dem Nebentext und impliziten Szenenanweisungen in der Figurenrede. Zum anderen wird in Einzelfällen auf Probenberichte, Berichte über konkrete Aufführungen und auf Rezeptionszeugnisse (vor allem auf Rezensionen) verwiesen, wenn die jeweils beschriebene Realisierung des Textsubstrats besondere Aufschlüsse über das Performanzpotential, die Wirkungen auf das Publikum o.ä. versprechen.

Norm/Konvention’, ‚Körper‘ und ‚Geist‘, ‚Fühlen‘ und ‚Denken‘, Triebgesteuertheit und soziokultureller Organisation des Triebs o. ä. verorten. Je nach Akzentsetzung kann dabei mehr die Kreatürlichkeit oder mehr die kulturelle Überformung des Kreatürlichen herausgestellt werden. An der spezifischen Verwendung des Essensthemas in einem Text kann sich also zeigen, ob die Judenvernichtung eher als atavistisches, barbarisches Abschlachten oder als pervertierter administrativer Prozess innerhalb der modernen Zivilisation dargestellt wird und welche Positionen den Täter- und den Opferfiguren in diesem Kontext zugeschrieben werden.

b. Zugehörigkeiten

Neben dem kulturalen Aspekt des Essens ist der kulturelle ins Auge zu fassen: Im Was und Wie des Essens können sich Zugehörigkeiten zu einer Nation, Region, Ethnie, Familie und Religion manifestieren, denn Essgewohnheiten sind Ausdruck und „Elemente der Primärsozialisation und Enkulturation“187.

Im Falle von Taboris Holocaust-Stücken ist etwa zu untersuchen, ob und wie sich das Judentum der jüdischen Figuren in ihren kulinarischen Gewohnheiten offenbart und ob es etwa Konflikte gibt zwischen den mosaischen Speiseregeln auf der einen und den persönlichen Vorlieben der jüdischen Figuren oder den Erwartungen der nicht-jüdischen Umwelt andererseits. Des Weiteren sind einzelne Speisen, die in den Stücken erwähnt werden, daraufhin zu analysieren, ob sie die Zugehörigkeit eines Speisenden zu einer der oben genannten Kategorien symbolisieren (zu denken wäre etwa an die Bedeutung der Regionalküche in den ‚Wiener Stücken‘ Mein Kampf und Ballade vom Wiener Schnitzel).

c. Status

Im Was und Wie des Essens manifestieren sich sozialer Status und Autorität der Essenden, Macht, Machtgewinn und -verteilung.188 Schon die Frage, wer überhaupt in welchem Maß über welche Nahrungsmittel verfügt, ist daher aufschlussreich für die Charakterisierung des Dramenpersonals in Holocaust-Stücken. Aus dem Essverhalten von Opfer- und Täterfiguren lassen sich Einsichten über ihren Status und ihre Handlungsmöglichkeiten ableiten.

187 Wierlacher 1987, S. 13.

188 Vgl. Macho 1996.

d. Soziale Interaktion

Soziale Normen, Bedürfnisse und Verhaltensmuster drücken sich in der Interaktion beim Essen aus. Wenn man also in Taboris Dramen die Interaktion zwischen Opfern und Tätern bzw. unter den Opfern beim Essen untersucht, kann man davon Aufschlüsse über die Beziehungen der Figuren zueinander, ihre jeweiligen Interessen, Wünsche und Ziele erwarten. Es ist zu beachten, ob allein oder gemeinsam gegessen wird, ob und welches Essen angeboten, aufgezwungen oder vorenthalten, angenommen oder abgelehnt wird, ob im Verhalten beim oder Reden übers Essen Gemeinschaft gestiftet und gefestigt wird oder ob gerade Unterschiede zwischen den Essenden hervorgekehrt werden, ob das Essen mit der Gewährung von Gastfreundschaft, mit Geselligkeit und Kommunikation verbunden ist oder aber der Machtausübung und Erniedrigung dient.

Über das Was und Wie des Essens können festliche Ereignisse aus dem Alltag herausgehoben werden. Ausgefallene, teure oder seltene Speisen und aufwändige, sorgfältige und stark konventionalisierte Zubereitungs-, Präsentations- und Verzehrformen bestimmen solche Mahlzeiten. Zu denken ist vor allem an das Modell der bürgerlichen Tischgesellschaft mit ihren Festessen zu bestimmten Anlässen (Hochzeiten, Geburtstagen, Beerdigungen etc.). Man kann vermuten, dass solche Mahlzeitentypen in der Holocaustliteratur selten und nur als parodistisches Zitat oder in grotesker Verzerrung vorkommen.

e. Psychologische Faktoren

Essensvorlieben und Abneigungen gegen bestimmte Speisen sind nicht nur durch nationale, regionale und familiäre Gewohnheiten und soziale oder religiöse Normen geprägt, sondern auch von den individuellen Erfahrungen jedes und jeder Einzelnen. Mit bestimmten Speisen verbinden sich Assoziationen an die Kindheit und ihre Unbeschwertheit, mit anderen unangenehme Erinnerungen an ekelerregende oder erniedrigende Erlebnisse. Essen kann Lustgewinn, Befriedigung, Genuss sein; es kann Frustrationen und innere Leere zu kompensieren helfen; es kann selbst als frustrierend und unbefriedigend erlebt werden.

Auf dem Gebiet der Holocaustliteratur ist danach zu fragen, was die kulinarischen Vorlieben und Abneigungen sowie das Essverhalten der Opfer über ihre Traumatisierung durch das Erlittene aussagen. Auch dürfen vom Essen Aufschlüsse über Motivation und Veranlagung hinsichtlich der Täterfiguren sowie über ihre Verarbeitung der eigenen Taten

erwartet werden. Taboris Verständnis vom Holocaust als etwas Unverdautem dürfte sich in den psychologischen Aspekten des Essenthemas wiederfinden.

f. Sinn und Transzendenz

Vom alltäglichen Essen unterschieden sind Mahle im religiösen Rahmen. In Taboris Dramen begegnen Anspielungen auf und Versatzstücke aus Passahmahl und Abendmahl.

Beide rituellen Mahlzeiten wirken sinnstiftend, indem sie Essen und Reden in besonderer Weise miteinander ins Verhältnis setzen: Das Wort überhöht, konsekriert, strukturiert und interpungiert das Essen bestimmter, symbolischer Speisen.

Das Sedermahl des jüdischen Passahfestes findet zu Hause im Familienkreis statt; es erinnert an den Auszug der Juden aus der ägytischen Gefangenschaft und den Übertritt ins Gelobte Land und damit an ein (im emphatischen Sinne) religiöse Identität stiftendes Ursprungsereignis.189 Der Familienvater liest bei Tisch die Exoduserzählung aus der Haggada vor und deutet die Elemente des Mahls (vor allem Lamm, bittere Kräuter und ungesäuertes Brot), die an die Bitternis der Gefangenschaft und an die Umstände erinnern, unter denen Gott die Juden aus Ägypten herausgeführt hat. Die Sederfeier hat einen eher freudig-feierlichen als andächtig-getragenen Charakter: Es wird gegessen und Wein getrunken, es wird erzählt, gebetet, gesungen und diskutiert. Der Sederabend ist ein Fest zur „Aktualisierung des jüdischen Gruppengedächtnisses“190, das der Vergegenwärtigung der Identität stiftenden Vergangenheit und der Feier der Gemeinschaft dient. Es trägt zudem einen messianisch-eschatologischen Zug, insofern neben der vergangenen Befreiung aus der Knechtschaft auch die zukünftige Befreiung Israels in Aussicht genommen wird.191 Auch die Eucharistie erinnert an ein religiöse Identität stiftendes Ereignis, das letzte Abendmahl Christi. Sie findet aber nicht im häuslichen Rahmen, sondern eingebunden in den Gottesdienst in der Kirche statt. Durch die Einsetzungsworte des Priesters bzw. durch den Glauben dessen, der am Abendmahl teilhat, wandeln sich nach der Transsubstantiationslehre Brot und Wein in Leib und Blut Christi.192 Das Abendmahl dient

189 Vgl. J. Assmann 1992, S. 196-228.

190 Yerushalmi 1988, S. 56; vgl. Solomon 1999, S. 68-73; W. Rothschild 2000.

191 Vgl. den Artikel „Pesach II“ von Franz Schnider in TRE, Bd. 26, S. 236-240, hier S. 239.

192 Hörisch (1992, S. 118) erkennt den Kern der Differenz zwischen dem katholischen Abendmahlsverständnis und jenem Luthers darin, dass – aus Sicht Luthers – „nicht die wandelnde Kraft priesterlicher Worte, sondern allein der Glaube“ bei der Transsubstantiation zählten. – Die innerchristliche Diskussion um die Transsubstantiation hat eine unüberschaubare Literatur hervorgebracht. Einen knappen, allerdings inzwischen veralteten Überblick bietet Feld 1976. – Aus verschiedenen, auch nicht-theologischen wissenschaftlichen Blickwinkeln wird das Abendmahl beleuchtet in Josuttis/Martin 1980.

dem Gedächtnis, es ist die Feier der Präsenz Christi und es hat eine eschatologische Dimension.193

Wenn Tabori Essensszenen in seinen Holocaust-Dramen nach dem Modell der religiösen Mahle gestaltet, ist daher zu klären, welche Funktionen dieser Mahle aktualisiert werden, warum der Bezug jeweils gerade dem jüdischen oder dem christlichen Mahl gilt, welche immanenten oder transzendenten Deutungsangebote damit für das Dargestellte, also den Holocaust verbunden sind, inwiefern dem Holocaust ein eschatologischer, heilsgeschichtlicher oder sonstiger religiöser Sinn zugesprochen wird.194

g. Metaphern der Inkorporation

Das Kulturthema Essen birgt ein Potential für poetologische Reflexionen, das sich aus dem jüdisch-christlichen Urmythos des Essens ebenso ableiten lässt wie aus der Psychogenese:

Der mythopoetischen Formel des Sündenfalls zufolge entspringen Essen und Erkennen aus derselben Wurzel;195 in der oralen Phase eignet der Säugling sich die Außenwelt dadurch an, dass er alles Erreichbare in den Mund nimmt.

Essen kann daher als Inkorporationsmetapher auch auf mentale Inhalte, Ideen oder Wissen bezogen sein; es kann In-sich-Aufnehmen durch Lesen, Hören, Sehen bedeuten.196 Nicht nur Speisen, sondern auch Geschichten können gierig ‚verschlungen‘ oder widerwillig

‚geschluckt‘ werden.

193 Dass die verschiedenen Funktionen je nach Auffassung stärker oder schwächer ausgebildet sein können, zeigt Hörisch (1992, S. 46-51) anhand der Synoptiker.

194 Hörisch (1992) bezeichnet das Abendmahl als eines der Leitmedien unserer Kulturtradition; es sei „das (im Rahmen unserer Tradition) überragende kultische Paradigma einer Verdichtung von Sein und Sinn. […]

Indem das Abendmahl das göttliche Wort immer erneut Fleisch werden und mitten unter uns wohnen läßt, garantiert es die erfüllte Identität von Sein und Sinn. Im Sakrament von Brot und Wein wird Sinn sinnlich erfahrbar.“ (S. 16) Hörisch treibt in seiner ‚diskurspositivistischen‘ Arbeit die Paradoxien und Unplausibilitäten heraus, die im realpräsentischen Verständnis des Abendmahls begründet sind. Sie würden von der Dichtung als einer „Binnenethnologie“ (S. 42) aufgedeckt, so dass die Korrelationen von Sinn und Sein ihre ontologische Verbindlichkeit verlören und als poetische, d.h. gemachte erkennbar würden. – Wenn in der vorliegenden Untersuchung danach gefragt wird, welche Sinnangebote Referenzen auf das Abendmahl in Taboris Holocaust-Stücken machen, geht es weniger um eine Fortschreibung von Hörischs Ausführungen über die poetische Dekonstruktion der eucharistischen ‚Ontosemiologie‘. Da Tabori nur mit Versatzstücken einer (um mit Hörisch zu formulieren:) als ‚unplausibel‘ längst erwiesenen religiösen ‚Formation‘ arbeitet, geht es mir vielmehr darum zu zeigen, ob Tabori mit Hilfe dieser Versatzstücke eine religiöse, geschichtstheologische oder andere transzendente Deutungsperspektive für das geschichtliche Phänomen des Holocaust öffnet.

195 Nach Lévi-Strauss besteht das abstrakte narrative Grundschema von Ursprungsmythen darin, die semantisch kontradiktorische Opposition von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ in eine Äquivalenzrelation zu überführen.

In der Sündenfall-Erzählung geschieht dies durch Ineinssetzung von Essen und Erkennen, von körperlichem und kognitivem Akt. Vgl. Lévi-Strauss 1967. Vgl. auch Kott 1990.

196 Zur Skala der Inkorporationsmetaphern und ihrer Verwendung in der europäischen Literatur vgl. Kilgour 1990.

Wenn Tabori von ‚unverdauter Trauer‘ spricht und zugleich seine Theaterstücke als „eine Diät und einen Einlauf und ein Purgatorium“197 versteht, bedient er sich dieser Metaphorik der Inkorporation und gibt ihr eine wirkungsästhetische Richtung. Es ist daher zu vermuten, dass innerhalb der Dramentexte auftretende Inkorporationsmetaphern poetologische Reflexionen encodieren. Aufmerksam zu deuten sind auch die Verwendungen des Begriffs ‚Geschmack‘, dessen Metaphorik im Zusammenhang mit jener der Inkorporation steht.198

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 46-51)