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Die Täter und ihre Gerichte

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 127-133)

III. Jubiläum: Bitterer Nachgeschmack

1. Die Täter und ihre Gerichte

An der Lebens- und Familiengeschichte des Neonazis Jürgen Schubert wird die Kontinuitätsthese des Dramas exemplarisch entfaltet. Rollenspiele von Jürgen und den anderen dramatis personae, tot-untoten Friedhofs-‚Bewohnern‘,417 die Opfer von alt- oder neonazistischer Hetze und Gewalt geworden sind, lassen weitere Figuren auf der Bühne Gestalt gewinnen, die nationalsozialistische Verbrecher waren und Nachkriegskarrieren gemacht haben.418 Als Täter besonders profiliert sind Jürgens Vater und ein gewisser Dr.

Josef, in dem unschwer der berüchtigte Auschwitz-Arzt Josef Mengele zu erkennen ist.419 Ferner werden die Täter der Kindermorde vom Bullenhuser Damm vergegenwärtigt,420 und die Figur des homosexuellen Friseurs Otto zeigt, wie sich der zeitgenössische Antisemitismus in der Bundesrepublik artikuliert. Diese alten und zeitgenössischen Antisemiten sind im Folgenden vor dem Hintergrund der Kontinuitätsthese und unter dem Aspekt ihrer Essensvorlieben bzw. ihres Essverhaltens zu charakterisieren.

a. Forensische und kulinarische Gerichte

Ein zweiphasiges Rollenspiel vergegenwärtigt Jürgens Vater: Zunächst lassen Jürgen in der Rolle eines Staatsanwalts und Jürgens Onkel Helmut in der Rolle seines eigenen Bruders, also in der Rolle von Jürgens Vater, eine forensische Szenerie aufscheinen, in der Jürgens Vater sich für seine Verbrechen als SS-Mann und KZ-Wächter verantworten muss (II,

417 Zur Frage, inwiefern die Figuren (außer Jürgen) als tot anzusehen und wann und wie sie im Einzelnen ums Lebens gekommen sind, vgl. Sander 1997a, bes. S. 191-197, und die Ergänzungen und Korrekturen bei von Schilling 2001, S. 123f. Von Schilling behauptet, alle Toten (außer dem Geist von Arnolds Vater) seien nach dem Holocaust umgekommen; in Hinblick auf Helmut, Otto und Mitzi ist ihm wohl zuzustimmen, aber im Falle Arnolds und Lottes bleiben Zweifel.

418 Von den im Personenverzeichnis aufgeführten Figuren ist niemand zu den Altnazis zu rechnen; diese erscheinen allein in den Rollenspielen, also indirekt dargestellt durch die Figuren des Dramas.

419 Die Nennung der medizinischen Experimente an Menschen, des Untertauchens in Südamerika und gelegentlicher Besuche in der Heimatstadt sowie die Charakterisierung von Dr. Josefs Familie als einer feinen

‚Oberstadt‘-Familie sind als deutliche Hinweise auf Josef Mengele zu verstehen; die Beschreibung des

„leichten Silberblick[s]“ und der „Lücken zwischen den Vorderzähnen“ (II, 69f.) vereindeutigt die Anspielungen weiter.

420 Tabori lässt im Rollenspiel auch die kindlichen Opfer dieser Morde erscheinen. Da es in diesem Kapitel um die Charakterisierung der Täter mittels der Essenmotivik geht, braucht Taboris spezifisch nicht-dokumentarischer Umgang mit den historischen Quellen nicht entfaltet oder gar ausführlich mit Peter Weiss‘

Dokumentarismus in der Ermittlung verglichen zu werden. Vgl. dazu Strümpel 2000, S. 118-122. – Eine detaillierte Darstellung der Bullenhuser Morde und ihrer juristischen (Nicht-)Verfolgung bietet Günther

66f.). Die Ungeniertheit und der Stolz, mit denen dieser über seine Verbrechen Auskunft gibt,421 werden ebenso deutlich wie der Umstand, dass Jürgen die Sicht seines Vaters auf die Gräueltaten ungebrochen übernommen hat: Wenn er von ihnen als von „Paps‘

polnischem Spaß“ (II, 66) spricht, stellt er zudem seine eigenen Friedhofsschändungen in eine Art Familientradition, da seine neonazistischen Umtriebe auch dem Bedürfnis nach

„Spaß“ entsprängen (II, 65).422

Zur familiären Tradition gehört es auch, dass offensichtlich weder Vater noch Sohn die Strenge der Justiz fürchten müssen, da sie von einem verwandten „Richter alter Schule“ (II, 59) geschützt werden. Der Vater hat daher in das äußerlich biedere Leben eines Bäckers zurückfinden können. Diese Lebensphase wird im zweiten Teil des Rollenspiels dargestellt, in dem Jürgen selbst die Rolle seines Vaters übernimmt und Arnold dazu nötigt, den polnischen Bäckergehilfen Boleslaw zu spielen (II, 68f.). Im Dialog der beiden werden die

„unerschütterlichen Ansichten“ (II, 68) des Bäckers und seine Verehrung für Dr. Josef, also den berüchtigten KZ-Arzt Mengele, vorgeführt. Mengele, so vermutet der KZ-Mörder und Bäcker Schubert, „träumt von meiner Schwarzwälder Kirsch, seiner Leibspeise“ (II, 69), die als Inbegriff gutbürgerlicher Lebensweise die Biederkeit des Massenmörders herausstreicht:

Habe ihn nie vergessen, sehe ihn vor mir, wie er hereinspazierte das letzte Mal, mit seinem leichten Silberblick und den Lücken zwischen den Vorderzähnen, das waren noch Zeiten, man grüßte sich HH, anstatt wie heutzutage GG, und hier an der Theke verputzte er drei Stücke Schwarzwälder Kirsch mit Sahne. (ebd.)

Die kulinarische Vorliebe Dr. Josefs weist in der Vorstellung des Bäckers zweifelsfrei eine Kontinuität auf: Was Mengele gern aß, als man noch mit ‚Heil Hitler‘ grüßte, davon

„träumt“ er noch in seinem südamerikanischen Versteck im „Urwald unter den Scheißindios“ (ebd.). Die distanzlose Verehrung des mörderischen, aber mit bürgerlicher Harmlosigkeit getarnten Bäckers für den „arme[n] Dr. Josef“ kommt nicht nur darin zum

Schwarberg in einem Buch, das seine seit den späten 1970er Jahren in der Zeitschrift Stern veröffentlichten Recherchen zusammenfasst: Schwarberg 1997.

421 Die Formulierung „Das war eine Selbstverständlichkeit für mich“, die präzisen Angaben zu einzelnen Folter- und Mordpraktiken sowie das wiederholte „Jawohl“ als Antwort auf die staatsanwaltlichen Fragen nach bestimmten Taten zeigen die Ungeniertheit des Täters an. Sein Stolz kommt darin zum Ausdruck, dass er die Zahl seiner Opfer nicht zusammengezählt, sondern „nach oben abgerundet“ angibt (II, 66f.).

422 Von Schilling stellt dieses Bekenntnis zum Spaß in den Kontext der bundesdeutschen ‚Erlebnis- und Spaßgesellschaft‘ und versteht es als implizite Kritik Taboris an ebendieser Gesellschaft, die ihre mörderische Vergangenheit noch nicht bewältigt habe und auch deshalb „den Anspruch auf Spaß – auch wenn er aus der Zufügung von Gewalt resultiert – anzuerkennen und zu legitimieren [scheint], nicht indem offen Gewalt proklamiert, wohl aber, indem passiv in der Zuschauerhaltung Gewalt genossen wird“ (2001, S. 128). So griffig es klingen mag, das Argument ist anachronistisch: Der Begriff der ‚Erlebnisgesellschaft‘ ist von dem Soziologen Gerhard Schulze erst 1992 geprägt worden; jener der ‚Spaßgesellschaft, zum ersten Mal in der taz vom 23. Januar 1993 verwendet (vgl. Hachmeister 2001) und prinzipiell für den Bezug zum ‚Spaß‘-Begriff in Jubiläum wohl einschlägiger, hat erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Konjunktur. Von Schilling müsste also zeigen, dass er seine Applikation der entsprechenden Begriffe und Vorstellungen nicht aus der Entstehungszeit seiner Studie auf das deutlich früher entstandene Stück zurückprojiziert.

Ausdruck, dass Mengele ‚unerschütterliche Ansichten‘ bei seinen kulinarischen Präferenzen unterstellt werden. Dies unterstreichen auch die unglaubwürdige Hyperbel der „drei Stücke Schwarzwälder Kirsch mit Sahne“ und der Umstand, dass der wissenschaftliche Fortschritt, den Mengele als Wissenschaftler angeblich mitbewirkt habe, ausgerechnet an einer Errungenschaft für die Gastronomie exemplifiziert und gerechtfertigt wird: an der

„Sprühdosensahne“ (ebd.). Gemäß der verqueren Logik des Bäckers hätte Mengele also seine „Blutspur“ (II, 70) für einen wissenschaftlichen Fortschritt gezogen, der auf die Erleichterung des Bäckerhandwerks bzw. auf die bequemere Befriedigung seiner eigenen kulinarischen Wünsche hinausliefe. Wenn Jürgens Vater daher hofft, Dr. Josef sei wieder einmal auf Heimatbesuch, und seinen Gehilfen Boleslaw mit einer Schwarzwälder Kirschtorte zur Familie des Dr. Josef schickt, dann stellt dies einen Versuch dar, die Ungerechtigkeit der juristischen Verfolgung des Idols mit den Mitteln des Bäckers auszugleichen – durch kulinarische Wiedergutmachung am Täter.

Dem Unvermögen der Forensik wird das Weiterfunktionieren der Kulinarik auch in Szene 11 gegenübergestellt, in deren Zentrum die – historisch verbürgten – Kindermorde am Bullenhuser Damm stehen. Die Vorliebe eines weiteren Kindermörders423 für Süßspeisen wird deutlich, wenn der Angeklagte Arzt Heißmayer, gespielt von Mitzi, vor seiner Hinrichtung um folgende Henkersmahlzeit bittet:

Denkt bitte an mein Leibgericht, an Pfannkuchen und an etwas Schokoladenpudding, noch einmal richtig satt essen können. (II, 79)

Tabori kontaminiert in der Bühnenfigur Heißmayer zwei historisch reale Personen, denn diesen Satz hat tatsächlich der ebenfalls für die Morde verantwortliche Lagerkommandant von Neuengamme, Max Pauly, aus einer Zelle der britischen Militärgerichtsbarkeit 1946 an seinen Sohn geschrieben und nicht der für medizinische Versuche verantwortliche Arzt Kurt Heißmeyer (sic!).424 Worauf es ankommt, ist also nicht die historisch korrekte Zuordnung des verwendeten Dokuments, sondern die in ihm zum Ausdruck kommende Perversion des Täters: Der skrupellose Folterer und Mörder von Kindern bittet um eine Henkersmahlzeit, die sich ausgerechnet aus Kinderspeisen zusammensetzt und in deren Dominanz von Milch- und Zuckerbestandteilen regressive Bedürfnisse nach mütterlichem Schutz zum Ausdruck kommen.425 Die Mörder, die Jubiläum auf die Bühne bringt, zeigen anhand ihrer kulinarischen Vorlieben ihre Gefühlskälte: Medizinisch verbrämte Gräueltat und pervertierter Fortschrittsgedanke schlagen den Tätern, deren Speisenpräferenzen

423 Der als Dr. Josef angesprochene Auschwitz-Arzt Mengele wird in Szene 7 ausdrücklich als Kindermörder beschrieben: Arnold sagt in der Rolle Boleslaws, Mengele habe „[z]um Beispiel den Judenkindern die Augen rausgebohrt“ (II, 70).

424 Vgl. Schwarberg 1997, S. 90.

425 Vgl. Camporesi 1996.

ebenso ‚unerschütterlich‘ sind wie ihre ‚Ansichten‘, offensichtlich keineswegs auf den Magen.

b. Der braune Kreislauf

Die Kontinuität nationalsozialistischer Denk- und Verhaltensweisen wird in der ersten Druckfassung von Jubiläum vom Totengräber Wumpf ins Bild eines „Kreislauf[s]“ gefasst, das der Motivik von Ernährung und Verdauung entnommen ist. Während einer „Bier- und Stullenpause“ belehrt Wumpf den Neonazi Jürgen folgendermaßen:

Nichts geht verloren. Nimm deine Wurst zum Beispiel. Du denkst, sie ist verschwunden wie die Nazis, aber du irrst dich. Steckt dir im Darm, ein Teil ist schon in Energie verwandelt, der Rest ist bis morgen draußen, in den Fluß geflutscht, um die Fische zu füttern […], wird mir serviert nach Müllerinnen-Art mit Pommes und einer Flasche Rheinwein, und wenn es dunkel wird, wird sie durch das beste Kanalisationssystem, das die freie Welt zu bieten hat, wieder in den Kreislauf eintreten.426

Zunächst ist Jürgens Kaltschnäuzigkeit bemerkenswert: Auf dem jüdischen Friedhof, den er schon mehrfach geschändet hat, gönnt er sich ungeniert ein Wurstbrot und eine Flasche Bier. Zur Kaltblütigkeit und Unempfindlichkeit des Magens, die ihn mit den Nazi-Figuren Dr. Josef, Heißmeyer und mit seinem Vater verbindet, kommt bei Jürgen die Pietätlosigkeit des Essensschauplatzes.

Auffällig ist zum Zweiten der explizite Vergleich der Wurst mit den „Nazis“: Von beiden nehme Jürgen an, so Wumpf, sie seien verschwunden. Was die Wurst betrifft, führt Wumpf den „Kreislauf“ aus, in dem die Wurst sich in verschiedenen Erscheinungsformen bewege und doch in der Substanz nie verschwinde. Der menschliche Körper verwandle sich einen Teil der Wurst durch Resorption an („in Energie verwandelt“). Der unverdaute Anteil werde zum Exkrement, erreiche als solcher die Flüsse und gehe als Nahrung für die später von Menschen verzehrten Fische wieder in den Kreislauf ein. Wumpfs Überzeugung, dass

„nichts […] verloren“ gehe, lässt sich dem Vergleich von Wurst und Nazis zufolge so verstehen, dass auch der Nazismus wie in einem Kreislauf erhalten bleibe: dass nämlich ein Teil direkt von den Menschen ‚resorbiert‘ und der andere über Umwege schließlich auch noch wiederverwertet werde. Der Nazismus ist also keineswegs auf dem ‚Müllhaufen der Geschichte‘ gelandet, sondern wird immer von neuem ‚recycelt‘, so der Totengräber.

Der von Wumpf ausgeführte Vergleich des Nazismus mit der Wurst wird hinsichtlich der Verwandlung zum Exkrement gestützt durch die Farbassoziation: Braun ist nicht nur die Farbe des Kots, braun ist – abgeleitet von der braunen Parteiuniform – auch die politische

426 Tabori 1983b, S. 38.

Kennfarbe des Nazismus. Daher heißt es auch in den Erinnerungen Lottes an ihren ersten gemeinsam mit Arnold verbrachten Abend, der auf den 30. Januar 1933 fiel: „Später die Fackelparade. Eine braune Flut in der Wilhelmstraße.“ (II, 55) Die Apostrophe der Hitler zujubelnden Menschenmasse als einer „braune[n] Flut“ und die Vorstellung vom ‚braunen Kreislauf‘ des exkrementhaltigen Wassers begegnen erneut in der Szene 8:427 Lotte Sterns Ertrinken „im schlammigen Wasser“ (II, 73), dessen Aufsteigen in einer Telefonzelle

„vielleicht“ auf einen „Bruch in der Kanalisation“ (II, 72) zurückgeführt werden könne, nimmt sowohl das Bild von der nazistischen Menge als auch jenes von der kothaltigen Strömung des Flusses wieder auf. Der allegorische Tod der Lotte Stern in der Telefonzelle kann daher assoziativ sowohl auf den Referenzbereich ‚alter Antisemitismus/Holocaust‘ als auch auf eine neuerliche existenzielle Bedrohung ‚nach Auschwitz‘ bezogen werden.428 Das Aufsteigen des brackigen Wassers in der Telefonzelle greift Wumpfs Metapher des

‚braunen Kreislaufs‘ wieder auf. „Nichts geht verloren“429, auch nicht die Bedrohung durch den Nazismus – daher müssen die Opfer wie Lotte immer wieder feststellen: „es geht schon wieder los“ (II, 73).

Dass Wumpfs Ausführungen über den braunen Kreislauf in der späteren Textfassung fehlen, fügt sich ein in die generelle Tendenz der Überarbeitung: Die Wassermetaphorik tritt zugunsten einer Isotopie um die Worte Ofen/Feuer zurück (s. dazu unten Abschnitt 2).

c. „Wie eine Gräte im Hals“

Der zum Personal der ‚Toten‘ gehörende Friseur Otto ist nicht auf gleiche Weise zu den Tätern zu rechnen wie die Figuren Dr. Josef, Schubert und Heißmeyer. Otto gehört als Homosexueller einer sozialen Gruppe an, die im Nationalsozialismus verfolgt wurde und auch in der Bundesrepublik unter Diskrimierung zu leiden hat. Er solidarisiert sich aber nicht mit den anderen Opfergruppen, insbesondere nicht mit den Juden, sondern äußert sich selbst antisemitisch. Den Libanonkrieg von 1982 nimmt er zum Anlass, seine Abneigung gegen die Juden endlich „ohne schlechtes Gewissen“ offen zu legen (II, 57).

Das unter der israelischen Besetzung Beiruts von den christlichen Falange-Milizen verübte Massaker in zwei palästinensischen Flüchtlingslagern, auf das Otto sich bezieht, verschafft ihm demnach zynischerweise eine solche „Riesenerleichterung“ (ebd.), dass er fortan mehrfach ungeniert von „Saujuden“ spricht (II, 57 u. 60).

427 Nach der Zählung in Tabori 1983b: Szene 6.

428 Vgl. dazu Sander 1997b, bes. S. 236-239.

429 Tabori 1983b, S. 38.

Von seinen antisemitischen Ressentiments spricht Otto als von einer „Gräte im Hals“ (II, 57), die er nach dem Libanonkrieg endlich von sich geben kann.430 Bringt man diese Formulierung in Zusammenhang mit Wumpfs Äußerungen zum ‚braunen Kreislauf‘, so wird deutlich, dass Otto den nazistischen Antisemitismus noch nicht einmal

‚hinuntergeschluckt‘, geschweige denn ‚verdaut‘ hat: Was nicht im Magen angekommen ist, das drängt in unverarbeiteter und leicht wiedererkennbarer Form, etwa als unverblümte Rede von den „Saujuden“, zurück nach außen.

Die Scham, die sein Lebensgefährte Helmut angesichts der nationalsozialistischen Gräueltaten und ihrer Verherrlichung und Fortsetzung durch Neonazis empfindet, teilt Otto nicht. Während es dem sensiblen Helmut angesichts des Leidens anderer Lebensfreude und Appetit verschlägt,431 ist Otto unbekümmert um die häusliche Gemütlichkeit besorgt: Bei Helmuts Rückkehr aus dem Krankenhaus, in dem er sich hat beschneiden lassen, bietet Otto seinem Freund fürsorglich „Hühnersuppe“ an (II, 60), die dieser ablehnt. Dass Otto Hausfrauenpflichten hochhält, zeigt sich aber nicht nur in diesem Anflug von Fürsorglichkeit in Bezug auf das Essen. Sein Antisemitismus lenkt seine Hausfrauen- und Ernährerinnengedanken ins Negative: Als Helmut ihm von seiner Lektüre von Brechts Jüdischer Frau erzählt, zeigen sich Ottos historische Unkenntnis und politisches Desinteresse, denn er fragt zurück (II, 60): „Und was macht sie da, bei B-r-e-c-h-t, Matze-Suppe?“ Nicht etwa die von Brecht thematisierte Verfolgungs- und Fluchtsituation kommt

430 Äußerungen des damaligen israelischen Verteidigungsministers Ariel Sharon zum besagten Massaker sind in Heinar Kipphardts Drama Bruder Eichmann als Analogie-Szene (Szene 5) zur Eichmann-Handlung einmontiert. Sharons Haltung gegenüber den Palästinensern wird zu derjenigen von Eichmann gegenüber den Juden in Analogie gesetzt. Insofern Jubiläum insgesamt als kritische Auseinandersetzung mit diesem Drama zu verstehen ist, können (auf der Ebene der Darstellung) auch Ottos Äußerungen auf Kipphardts Umgang mit dem Massaker bezogen werden. Darin läge zwar versteckt, aber doch erkennbar eine sehr harsche Kritik an Kipphardt. Für diese Lesart sprechen inner- und paratextuelle Befunde: Innertextuell ist die Umarbeitung der in Theater heute erschienenen Textfassung zur späteren Druckfassung zu nennen. Ottos Antisemitismus wird in der späteren Fassung deutlicher herausgearbeitet: Die Äußerung „Glauben Sie, ich lasse meinen Helmut allein mit euch Juden?“ (Tabori 1983b, S. 37) lautet nun „Glauben Sie, ich lasse meinen Helmut allein mit euch Saujuden?“ (II, 57). Der Satz „Ich mag den Geruch von brennendem Laub.“ (Tabori 1983b, S. 37) wird zunächst von Arnold gesprochen, später Otto in den Mund gelegt (II, 53). Insofern diese Aussage in der späteren Fassung in einem Kontext steht, der deutlich die Kremierung der ermordeten Juden in den KZ assoziieren lässt, kann sie als antisemitisch oder wenigstens als unsensibel gegenüber den prekären Assoziationen gewertet werden. Paratextuell kann auf den Leserbrief verwiesen werden, den Tabori an Theater heute geschrieben hat (Tabori 1983a). Dort äußert Tabori Verständnis für das folgendermaßen formulierte Gefühl: „Meine Schuldgefühle habe ich satt; ich will nicht länger der einzige Prügelknabe der Klasse sein;

endlich haben sich die Juden so abscheulich benommen wie die Nazis.“ Dieses Gefühl äußert Otto – wie oben gezeigt – ganz deutlich und in sehr ähnlichen Wendungen gegenüber Lotte Stern. Tabori bezieht sich in seinem Leserbrief aber auf Heinar Kipphardt und kritisiert an dessen Stück, dass es das angesprochene subjektive Gefühl durch die Analogie-Szene mit Sharon „hinter Pseudo-Objektivität“ verstecke. Damit spricht Tabori das Grundproblem von Dokumentarliteratur an, nämlich die Umarbeitung von Quellen zu Beweisen für eine subjektive Erklärung und Bewertung dieser Quellen und die gleichzeitige Verschleierung dieser Umarbeitung. Vgl. zu diesem Grundproblem Young 1992, bes. Kapitel I,4 „Dokumentarisches Theater, Ideologie und die Rhetorik des Tatsächlichen“, S. 110-136.

431 Aus Scham fasst Helmut nach neuerlichen neonazistischen Taten seines Neffen Jürgen den Entschluss, sich beschneiden zu lassen. In seiner Betroffenheit „rührt [er] nicht mal den Haferschleim an” und trinkt

“kein[en] Schluck Kaffee“ (II, 59), wie Otto aufmerksam registriert.

ihm in den Sinn, sondern das Wort Frau löst bei ihm die Assoziation ‚Ernährerin‘ aus, und das Wort ‚jüdisch‘ löst die Assoziation ‚Matzen‘ aus. Dass Otto aus diesen Assoziationen die Vorstellung entwickelt, die jüdische Frau koche ihrem Mann ausgerechnet Matze-Suppe, lässt sich als Ausdruck von Eifersucht auf die Ablehnung der Hühnersuppe durch Helmut zurückbeziehen. Die vor Ahnungs- und Bodenlosigkeit strotzende und mit antisemitischen Untertönen versehene Replik offenbart, dass Ottos Desinteresse für die jüdischen Opfer, verstärkt durch Eifersucht, in aggressive Reflexe umschlägt.432

Statt Helmuts Ängste vor einer Wiederholung der nationalsozialistischen Vergangenheit ernst zu nehmen (wozu er als Homosexueller, also als wahrscheinliches Opfer, durchaus Grund hätte), hält Otto am ‚business as usual‘ fest (II, 61): „Ich tue eine Flasche Blanc de Blanc auf Eis und hole die Peking-Ente aus der Röhre. Sportschau um sechs.” Seine Reaktion auf Helmuts zunehmend misstrauische, von Verfolgungsängsten geprägte Wahrnehmung der Umwelt besteht also im demonstrativen Festhalten an den alten Essgewohnheiten, so als könnte deren Aufrechterhaltung Helmut von der Grundlosigkeit seiner Befürchtungen überzeugen. Sie zeigt auch, dass Otto Nazismus und Antisemitismus eben noch nicht ‚verdaut‘ hat, dass sie ihm „wie eine Gräte im Hals stecken“.

Das Beharren auf der in Mahlzeiten- und Fernsehgewohnheiten manifesten Überzeugung, man lebe im Jahr 1983 und habe daher nichts zu befürchten (vgl. II, 60), dient damit auf der Ebene der Darstellung erstens dazu, Ottos Mangel an politischer Wachsamkeit herauszustreichen und seine Mitleidlosigkeit gegenüber den jüdischen Opfern zu betonen, mit denen Helmut sich durch die Beschneidung zu solidarisieren versucht. Zweitens zeigt es auch den Unwillen Ottos an, auf den Neonazismus in seiner Umwelt und auf dessen Folgen zu reagieren. Wie im Falle der Kindermörder Dr. Josef und Heißmeyer sowie des KZ-Wächters Schubert beleuchtet die Essensmotivik Otto als einen gefühlskalten Antisemiten,433 dem weder die Vorgänge um ihn herum noch das eigene hasserfüllte Verhalten den Appetit zu verderben vermögen.

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 127-133)