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Gastronomiekritik, Theaterkritik, Selbstkritik

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 186-199)

V. Die Ballade vom Wiener Schnitzel : Ein köstlicher Leichenschmaus

1. Gastronomiekritik, Theaterkritik, Selbstkritik

Die zentrale Figur der selbstkritischen Retrospektive ist der jüdische Restaurantkritiker Alfons Morgenstern. In seiner Person sind qua Abstammung und qua Profession die

556 Vgl. Tabori 1996a, S. 48.

557 Nicht 60 Jahre, wie Strümpel (2000, S. 186) irrtümlich meint, sind nämlich im Jahr 1994 seit der Shoah, insbesondere seit der Ermordung der ungarischen Juden, vergangen, sondern 50 Jahre.

558 Zur Bedeutung und zu den Implikationen des Begriffs ‚Jubeljahr‘ vgl. meine Interpretation von Jubiläum, Kap. III im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit.

559 Seit dem Erscheinen der Ballade befasst Tabori sich nur noch in Einaktern wie etwa in (der ebenfalls mit der Verbindung des Holocaust- und des Essensmotivs spielenden Szene) Café aus der Zusammenstellung mit dem Titel Die letzte Nacht im September (Uraufführung 10. Januar 1997 im Akademietheater Wien) mit diesem zweieinhalb Jahrzehnte lang dominanten Thema seiner Theaterarbeit.

560 Der Begriff ‚Auto-Intertextualität‘ stammt von Manfred Pfister (1985) und bezeichnet das Phänomen, dass ein Autor Elemente bzw. Strukturen aus früheren eigenen Texten aufnimmt, die insofern als Quellen für

Themen miteinander verbunden, die in Taboris Theaterstücken und Regiearbeiten in prägnanter, produktiver Weise verschränkt sind: die conditio judaica nach dem Holocaust und das Essen. Eine solche Figur ist prinzipiell dazu geeignet, die Kombination dieser beiden Aspekte innerhalb des taborischen Œuvres zusammenfassend darzustellen oder neu auszurichten. Dass und inwiefern letzteres der Fall ist, soll im Folgenden detailliert gezeigt werden.

a. Präfigurationen des Kritikers Morgenstern in kurzen Prosatexten Taboris

Morgenstern ist nicht die erste Kritikergestalt in Taboris Texten, aber die erste explizit jüdische. Von Theater- und von Gastronomiekritikern, deren charakterliche sowie beruflich-funktionale Eigenschaften mitunter austauschbar erscheinen, handelt eine Reihe von kurzen Prosatexten. Les Gourmets und Der Tod eines Kritikers porträtieren Kritikergestalten, denen Morgenstern in vielerlei Hinsicht ähnelt. Da er vor dieser Folie als Figur besser verständlich wird, befasst sich der vorliegende Exkurs mit den Morgensternschen ‚Vorläufer-Figuren‘ aus den Prätexten.561

Les Gourmets entwirft ein negatives Bild von den titelgebenden Feinschmeckern, bevor im Schlussteil des Textes der Theaterkritiker Peter von Becker als positives Vorbild von der negativen Folie abgehoben wird. Das Negativbild weist zahlreiche Ähnlichkeiten mit Alfons Morgenstern auf. Der Text setzt unvermittelt mit dem Personalpronomen ‚sie‘ ein, das sich auf die Titelfiguren bezieht, und erläutert, ‚sie‘ seien „wie die gefürchteten Inspektoren des Guide Michelin, um uns mit einem Stern zu bedenken oder auch nicht.“562 Die besagten Personen haben demnach einen anderen, nicht näher bezeichneten Beruf – tatsächlich geht es ja um Theaterkritiker, was indessen an keiner Stelle des Textes explizit gemacht wird. Aber schon vom zweiten Satz an werden sie so charakterisiert, als seien sie eben doch Gastronomiekritiker.563 Folgende Merkmale zeichnen die Gourmets aus: Sie

„haben nicht nur Geschmack, sie machen ihn auch“, sie sind altmodische „Apostel der Haute Cuisine“ und wenden sich gegen Experimente mit ‚Küchenklassikern‘ wie etwa mit der „Forelle Müllerin“. Ihr Beurteilungsmaßstab leitet sich von „vergangene[n]

diese Referenzen anzusehen sind. – Für den Hinweis auf diesen Begriff und die zugehörige Forschungsliteratur danke ich Joachim Eberhardt, Tübingen.

561 Die beiden genannten Texte sind abgedruckt in Tabori 1993a, S. 149f. u. S. 167-175. In diesem Band findet man darüber hinaus die Texte Die ganze Welt ist Bühne, Geschmacksfragen, Die hohe Kunst, blöd zu sein und Liebe deine Kritiker wie die sich selbst sowie einen Leserbrief an Theater heute, in denen ebenfalls mit der Vermischung funktionaler Aspekte von Gastronomie- und Theaterkritikern gespielt wird. Die Implikationen dieser Vermischung können allerdings im Rahmen des vorliegenden Kapitels nicht für jeden Einzeltext berücksichtigt werden, so dass exemplarisch Les Gourmets und Der Tod eines Kritikers analysiert werden.

562 Tabori 1993a, S. 149.

563 Auf diese subtile Verschiebung sei an dieser Stelle nur am Rande hingewiesen; der stillschweigende Bildfeldwechsel wird im weiteren Gedankengang dieses Kapitels gedeutet.

Ruhmestaten“ ab. Sie „essen allein“ und leiden an charakteristischen Berufskrankheiten, nämlich an „chronischer Verstopfung und abgestumpftem Gaumen“.564

Ein ähnliches Bild entwirft der als Nachruf verfaßte Text Der Tod eines Kritikers von dem fiktiven Restaurantkritiker André de St. Bœuf,565 dem wiederum ein Antagonist in Gestalt des „gastronomische[n] Guerillero“ Joe Palucca entgegengestellt wird.566 Auch in diesem Text kontrastiert Tabori also zwei Konzeptionen der Gastronomie- bzw. Kunstkritik, von denen in Bezug auf Alfons Morgenstern abermals die ‚altmodische‘ Seite von Belang ist:

„Sein Leben lang verteidigte er [André de St. Bœuf] mit unerbittlicher Integrität die Hochkultur gegen die bedrohlichen Einfälle von Barbaren und Scharlatanen“.567 Das elitäre Bewusstsein und die konservativen Ansprüche des Kritikers kommen unter anderem darin zum Ausdruck, dass er ein Manifest mit dem Titel „Tod den Teebeuteln“ verfasst und sich als Experte für das Wiener Schnitzel profiliert hat:

Was er nicht über Wiener Schnitzel wußte, war es nicht wert, zu wissen [sic!], sei es der korrekte Farbton und Umfang der Panierung oder der sozialgeschichtliche Hintergrund des Gerichts, wie es seinen Weg aus der besetzten Lombardei in die Walzermetropole gefunden hat. 568

Aus seiner „enzyklopädische[n] Bildung“569 leitete der Kritiker seine Erwartungen an die Gerichte ab und verurteilte alle Abweichungen von der solchermaßen gesetzten Norm.

Dies wird in der Reaktion auf eine falsch zubereitete Forelle Müllerin deutlich, denn der Kommentar des André de St. Bœuf lautete: „[…] wir lieben unsere Klassiker und möchten sie gerne wiedererkennen.“570 Wie die allein essenden Gourmets reiste André de St. Bœuf

„incognito“ und „wurde selten von seinen Opfern erkannt“.571

Die negative Beurteilung des St. Bœuf muss in diesem Text – anders als in Les Gourmets – indirekt vom Leser erschlossen werden, weil der Text in Form einer Denkschrift durch einen Adepten verfasst ist. Das an einen der „gefürchtetsten Kritiker unserer Zeit“572 erinnernde Ich rühmt zwar den Konservativismus des Geschmacks und bekennt sich zu den Auffassungen seines Vorbilds, aber der gepriesene „Meister“573 selbst hat sich kurz vor seinem Tod von seinen eigenen elitären Idealen abgewendet.574 Dazu hat offenkundig die

564 Alle Zitate in: Tabori 1993a, S. 149.

565 Der Name St. Bœuf spielt auf den französischen Literaturkritiker Charles-Augustin Saint-Beuve an; er ist als sprechender Name ins Kulinarische (bœuf – Rind) transformiert.

566 Tabori 1993a, S. 167-175, hier S. 171.

567 Tabori 1993a, S. 167.

568 Tabori 1993a, S. 167f.

569 Tabori 1993a, S. 167.

570 Tabori 1993a, S. 169.

571 Tabori 1993a, S. 170.

572 Tabori 1993a, S. 167.

573 Tabori 1993a, S. 170.

574 Im Übrigen unterliegt auch der Adept offenkundig dem Einfluss des Antagonisten Palucca, wenn er etwa bei seinem letzten Treffen mit dem Meister ein „Thunfischbrötchen“ in einem Café bestellt, das eindeutig

„Berufskrankheit kulinarischer Kritiker – eine nicht operierbare Geschwulst am Zwölffingerdarm“,575 verbunden mit einem abgestumpften Gaumen,576 beigetragen.

Wie im Fall der Gourmets schöpft die Charakterisierung St. Bœufs abwechselnd aus den bildspendenden Feldern der Gastronomie- und der Kunstkritik. André de St. Bœuf wird zwar als Experte für „Kunst“577 eingeführt, den dann folgenden Berichten entsprechend war er aber als Restaurantkritiker tätig. Seine Kritikertätigkeit hat er indessen nicht auf die

‚Koch-Kunst‘ beschränkt, sondern zu einer allgemeineren pessimistischen Kulturkritik aus konservativem Geist ausgeweitet. Dies illustriert die fortwährende Vermengung von Beispielen gastronomischen und kulturellen Verfalls:

Es ist alles vorbei […]. Nach der Bastille und dem Winterpalast ist es jetzt das Ritz.

Die Milch zum Kaffee wird in einem dieser grauenvollen Plastikcontainer serviert […]. Zum Frühstück Cornflakes! Und der Kellner, irgend so ein Flüchtling aus dem Busch, wärmt seinen Daumen im Rührei. Man hat mir erzählt, daß der Ring als marxistischer Comic strip aufgeführt wird, was früher einmal als Mayonnaise in Flaschen angeboten wurde, ist zu einem Apothekerspuk verkommen, der sich auf einem Lachs niederläßt, der in einer Samenbank gezeugt wurde. Faust ist nur noch eine Ménage à trois, Desdemona paradiert im Bikini, und Bouillabaisse ist nur noch ein anderes Wort für eine Art von Abfall, den die Katze hereinschleppt.578

Der von diesem Vorreiter der „neokonservativen Ästhetik“579 konstatierte Niedergang betrifft Politisch-Geschichtliches (Bastille, Winterpalast, marxistisch) ebenso wie Kulinarisches (Milch aus Plastikkännchen, Cornflakes) und Kulturelles, insbesondere in Hinblick auf das Theater (Wagners Ring als Beispiel aus dem Bereich des Musiktheaters;

Goethes Faust, Shakespeares Othello). Nebenbei klingen aus den Worten des elitären Chauvinisten580 Vorstellungen von einem durchaus auch biologistisch zu fassenden Dekadenz-Verständnis (Samenbank, Abfall) und antiamerikanische (Cornflakes, Comicstrip) sowie rassistische (Flüchtling aus dem Busch) Untertöne heraus.

Die taborischen Prosatexte über Gastronomiekritiker enthalten zwei Kerngedanken, die für das Verständnis der Ballade nutzbar gemacht werden können: Erstens zeigt sich, dass das Einzelgericht grundsätzlich auf einen kulturellen Gesamtzusammenhang zu beziehen ist, der für seine Beurteilung maßgebend sein kann. Dieser Gedanke spielt, wie zu zeigen sein wird, in Bezug auf das titelgebende Gericht der Ballade vom Wiener Schnitzel eine bedeutende

nicht der Haute Cuisine, sondern der Essenphilosophie des „Paluccanismus“ zuzurechnen ist (Tabori 1993a, S. 173).

575 Tabori 1993a, S. 173.

576 André de St. Bœuf über seine Befindlichkeit kurz vor seinem Tod: „Ich habe aufgehört, zu fühlen, das heißt, zu schmecken. Mein Zunge ist verödet wie der späte Beckett. Ich könnte nicht einmal mehr zwischen einer Weihnachtsgans und einem Kaugummi unterscheiden. Meine Zunge ist ein Phantom, als sei sie chirurgisch entfernt worden.“ Tabori 1993a, S. 174.

577 Tabori 1993a, S. 167.

578 Tabori 1993a, S. 173f.

579 Tabori 1993a, S. 168.

580 Tabori 1993a, S. 169: „Ein Internationalist war er nie.“

Rolle. Wenn zweitens die kritische Aktivität gerade auf den theatralen Bereich ausgedehnt wird, erfüllt dies die Funktion, alle Äußerungen zu kulinarischen Fragen als allegorisch in Hinsicht auf das Theater lesbar zu machen. Nahegelegt wird die Übertragbarkeit, ja Austauschbarkeit der Argumente für oder gegen bestimmte Arten, Gerichte zuzubereiten bzw. Theater zu machen. Insofern die Hauptfigur der Ballade den oben skizzierten Kritikergestalten eng verwandt ist, wird somit auf subtile Weise das Thema Theaterkritik auch in die Ballade eingeführt. Mehr noch: Insofern die Hauptfigur autobiographisch angelegt ist, gerät die Ballade zur selbstkritischen Abrechnung mit Taboris früherem Theaterschaffen.

b. Der jüdische Gastronomiekritiker Morgenstern

Der Zusammenhang von Gastronomiekritik, Theaterkritik und selbstkritischer Retrospektive soll im Folgenden belegt werden, indem in drei Schritten zunächst die Hauptfigur Morgenstern als Gastronomiekritiker, sodann als Jude beleuchtet und schließlich als Alter ego des Autors Tabori charakterisiert wird.581

Der Restaurantkritiker Morgenstern

Der erste Akt der Ballade führt Morgenstern als Verwandten der Gastronomiekritiker aus den skizzierten Prosatexten vor. Morgenstern besucht an seinem letzten Arbeitstag vor der Pensionierung ein Restaurant, das sich nach Ansicht des Besitzers mit dem sehr deutschen Namen Herrmann besonders durch seine „gastronomische Gediegenheit“582 auszeichnet und dafür mit einem Stern belohnt werden soll. Morgenstern gibt bei diesem letzten beruflichen Auftrag seine Identität, d.h. seinen Namen und seine Funktion als Inspektor des Restaurantführers, preis, betont aber, dass er früher aus Gründen der Unbestechlichkeit mehrfach inkognito bei Herrmann gespeist hat:

Ich bin froh, daß Sie mich nicht erkannt haben. Ich war vor einem Jahr hier in einem karottenfarbenen Zweireiher und assyrischem Vollbart. Ich saß da drüben.

Ich war damals besonders an Ihrer Forelle Müllerin interessiert. […] Oder vor zwei Jahren – ich prunkte gerade mit einem aggressiven türkischen Schnauzbart – ich glaube nicht, daß Sie mich erkannt haben! – war ich leidenschaftlich an Ihrem Gulasch interessiert.583

581 Der genannte Zusammenhang dürfte sich in Bezug auf die Ballade zwar nur guten Kennern des Taborischen Œuvres erschließen. Er ist darum aber nicht weniger gegeben. Bärbel Heising (1996, S. 31) betont in Bezug auf auto-intertextuelle Referenzen: „Für die Wahrnehmung auto-intertextueller Referenzen ist die Kenntnis des gesamten veröffentlichten Werkes erforderlich.“

582 Tabori 1996a, S. 47.

583 Ebd.

Neben der Anonymität („ich glaube nicht, daß Sie mich erkannt haben“) verbindet auch das Allein-Speisen Morgenstern mit den Kritikern der oben exponierten Prosatexte. Bevor Morgenstern das Restaurant betritt, ist dort schon eine Gruppe von Speisenden versammelt, deren Uniformität auffällt: Alle sind „widerlich fett“, essen das Gleiche (zuerst Suppe, dann Wiener Schnitzel), trinken Bier, „rülpsen im Chor“ und verhalten sich – wie die Szenenanweisungen deutlich machen – während der ganzen Szene vollkommen gleichförmig (schweigen, sehen mehrfach erwartungsvoll auf, applaudieren, singen zur gleichen Zeit). Im Nebentext der ersten Szene wird der Kontrast der Vielen zu dem Einzelnen, zu Morgenstern, deutlich herausgearbeitet:

Die Eingangstür öffnet sich mit einem unangenehmen Geräusch, und eine schwarzgekleidete, bleichgesichtige Gestalt tritt ein: Morgenstern. Das Erscheinen des Fremden mit seinem bedeutungsvollen Kontrast zur Fettheit der Speisenden hat eine seltsame Wirkung. Das Klavierspiel, der Gesang und das allgemeine Entzücken über die Schnitzel flauen ab und hören endlich auf.584

Nicht nur das auffällig sich abhebende Äußere Morgensterns und die Zerstörung der fröhlichen, fast euphorischen Stimmung durch sein Eintreten machen den Kontrast zwischen dem Kritiker und den Restaurantgästen deutlich. Wie die aus den anderen taborischen Texten schon bekannten Kritiker leidet auch Morgenstern an charakteristischen Berufskrankheiten: „Ich bin Dyspeptiker. […] Chronische Verdauungsstörung.

Flatulenzen.“585 Diese Krankheiten lassen ihn statt eines Apéritifs ein Glas Wasser vom Hahn und zum Essen nichts als zwei magenfreundliche Scheiben trockenen Brots bestellen. Bei der Bestellung zeigen sich elitärer Anspruch und Arroganz des Kritikers – zwei weitere Charakteristika, die ihn mit den oben entfalteten Kritikergestalten verbinden:

MORGENSTERN: Dann hätte ich gerne zwei Scheiben Toast, ohne Butter, zwecks Warmhaltung eingehüllt in eine silberne Serviette. Und eine Portion indischen Tee in einer vorgewärmten Kanne, dazu Milch und ein slop-basin.

HERRMANN: Ein was?

MORGENSTERN: Mein Herr, bestimmt wissen Sie, was ein slop-basin ist.

HERRMANN: Nie von gehört.

MORGENSTERN: Eine kleine Porzellanschale, wo die Reste des Tees, nachdem er seine Aufgabe erfüllt hat, deponiert werden.

HERRMANN: Es tut mir schrecklich leid, aber wir haben nur Tee im Glas, mit einem Beutel darin.

MORGENSTERN schockiert: Beutel?

HERRMANN: Beutel.

MORGENSTERN: Ich bin Inspektor Morgenstern.586

Morgenstern offenbart hier das Bewusstsein, in Geschmacksfragen überlegen zu sein und seine hohen Ansprüche an das Was und Wie selbst unüblicher Kost stellen und ihre

584 Ebd.

585 Ebd.

586 Ebd..

Erfüllung erwarten zu dürfen. Ausgerechnet ob des Beuteltees verliert er die Contenance und verrät seine Identität. Dies ist als weitere Markierung der geistigen Verwandtschaft Morgensterns mit den anderen taborischen Kritikern zu verstehen, da jene ebenfalls Teebeutel verabscheuen.587

Zur Ablehnung solcher dem fast food nahestehenden Convenience-Produkte kommt bei Morgenstern wie bei André de St. Bœuf die enzyklopädische Bildung, die der Protagonist der Ballade in einem längeren Vortrag über die Geschichte des Wiener Schnitzels seit dem 18. Jahrhundert unter Beweis stellt. Das Schnitzel, das Herrmann kurz zuvor der Gruppe fetter Speisender serviert hat, wird von Morgenstern weniger wegen seiner konkreten Zubereitung als wegen seiner Unzeitgemäßheit herabgewürdigt:

Ah, da ist es. Das Schnitzel, das Schnitzel von Wien. Mir ist ganz nostalgisch, welche Erinnerungen! […] Die Mode ändert sich, so auch unser Geschmack.

Lebwohl, liebes Schnitzel! […] dieses erbärmliche Schnitzel, […] es läßt mich erschauern in der Erinnerung an die gute alte Zeit, aber heute ist es für einen erfahrenen Gaumen untauglich. Ja, es ist vulgär, ohne Charakter, ein verstaubtes Museumsstück, unwiderruflich dahin, so wie Pferdekutsche Vatermörder Rockschöße Jungfrauen und seufzendes Verlangen und Schnitzler, Arthur und der Walzer, Wiener, und die kaiserliche Pracht und Franz Joseph, […] sein mächtiges Reich, das Europa überzog von Triest bis Lemberg wie ein Schnitzel.588

Die Worte ‚nostalgisch‘, ‚Erinnerung‘ und ‚die gute alte Zeit‘ machen deutlich, dass mit dem Wiener Schnitzel eine Fülle von bestimmten Assoziationen verbunden ist, die die untergegangene k.u.k. Monarchie oder doch wenigstens die zugehörigen Klischees heraufbeschwören.589 So nennt Alfons Morgenstern denn auch eine Reihe von weiteren

‚unwiderruflich vergangenen‘ Merkmalen der k.u.k. Monarchie und lässt diese Aufzählung schließlich im Vergleich des Schnitzels mit der geographischen Ausdehnung der Doppelmonarchie gipfeln.

587 Die Nennung weiterer ‚Schlüsselspeisen‘ (Forelle Müllerin und Wiener Schnitzel) signalisiert, wie nahe Morgenstern etwa André de St. Bœuf steht. Die im Zusammenhang mit der Identitätsverschleierung schon erwähnte Forelle Müllerin wird von ihm im Nachhinein als schlecht zubereitet und serviert abqualifiziert: Sie habe den Einfluss der „vielen neumodischen Neigungen der Nouvelle Cuisine“ aufgewiesen, weil sie nicht im Ganzen und mit ihren „melancholischen“ Augen, sondern „nur als zwei unverbindliche abgegrätete Scheiben Fisch“ aufgetragen worden sei (Tabori 1996a, 47).

588 Tabori 1996a, S. 47f.

589 Im Katalog zur Ausstellung „mäßig und gefräßig“, die kurz vor der Premiere der Ballade vom Wiener Schnitzel im Österreichischen Museum für angewandte Kunst in Wien eröffnet wurde, widmet sich ein Beitrag von Richard Zahnhausen der Wiener Küche. Zahnhausen weist auf die ‚invention of traditions‘ hin (im Hobsbawmschen Sinn, aber ohne diesen Begriff zu benutzen) und stellt fest, dass es „wahrscheinlich unmöglich [sei], auch nur ein traditionelles Gericht zu finden, das älter ist als die Ringstraßenbauten oder die Stadtbahn“. Zahnhausen 1996, S. 89. – Vgl. auch die S. 96-99 des Katalogs (Mäßig und Gefräßig 1996), auf denen einzelne Speisen der Wiener Küche erläutert und ihre Herkunft aus anderen Kulturkreisen nachgezeichnet werden, sowie Sandgruber 1997. – Ob Tabori von diesen Feststellungen schon Kenntnis hatte, als er die Ballade schrieb, weiß ich nicht. Die Thesen der Ausstellung und die Darstellung des Wiener Schnitzels in der Ballade konvergieren aber jedenfalls in der Idee, dass die an bestimmte Speisen geknüpften Assoziationen für deren Verbreitung und Beliebtheit mitentscheidend sein können.

Das solchermaßen charakterisierte Wiener Schnitzel fungiert innerhalb der Ballade als Symbol einer verlorenen Welt, einer Vergangenheit, deren Verlust von Morgenstern beklagt wird. Zugleich hat dieses Symbol der k.u.k. Monarchie nur als „verstaubtes Museumsstück“ überlebt, wie Morgenstern feststellt: Es ist „für einen erfahrenen Gaumen untauglich“ geworden. Dass sein Symbolcharakter im Alltagsgebrauch verkümmert ist, lässt sich daran ersehen, dass das Schnitzel heutzutage nicht mehr „den ganzen Teller bedeckt“, dass seine Form also nicht mehr der k.u.k-Monarchie auf der Landkarte gleicht. Vielmehr wird das Gericht – die Analogie zum ‚amputierten Rumpfstaat‘ Österreich ist unüberhörbar – „gewellt zu zwei kläglich panierten Scheibchen“ serviert und vermag damit das ihm ursprünglich eigene habsburgische Flair nicht mehr zu verströmen.

Der erste Akt der Ballade vom Wiener Schnitzel führt nicht nur den Restaurantkritiker Morgenstern mit all seinen unsympathischen Eigenschaften vor, die seine Verwandtschaft mit den taborischen Vorläuferfiguren unterstreichen. Am Beispiel des titelgebenden Schnitzels wird auch Morgensterns Sensibilität für den Symbolgehalt von Speisen und für dessen Zeitgebundenheit gezeigt. Dies unterscheidet ihn von seinen ‚Berufskollegen‘: Jene scheinen keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass auch die hohe Kochkunst ein zeitgebundenes Phänomen sein könnte, und wollen ihre Küchenklassiker daher in immer der gleichen Zubereitungsweise serviert bekommen („[…] wir lieben unsere Klassiker und möchten sie gerne wiedererkennen.“590). Morgenstern hingegen behauptet, dass das Wiener Schnitzel heutzutage gar nicht mehr angemessen zubereitet werden kann, weil ihm der ursprüngliche k.u.k. Hintergrund abhanden gekommen ist.

Der Jude Morgenstern

Das aus der Mode gekommene Schnitzel kommt im Sinne einer Ringkomposition im fünften und letzten Akt wieder vor; dort erhält es seinen verlorenen Symbolwert – allerdings aussagekräftig verändert – zurück. Zunächst jedoch wird es vom Streitobjekt zum Mittel der Auseinandersetzung. Nach der Mitteilung, dass Herrmanns Restaurant in der nächsten Ausgabe des Restaurantführers überhaupt nicht mehr verzeichnet werde, erfährt der Kritiker die Enttäuschung des Kochs am eigenen Leib:

HERRMANN braust auf: Gebt ihm ein Schnitzel! Stopft es dem Saujud in den Schlund.

Die Speisenden stopfen ihr Schnitzel in Morgensterns Mund. 591

Mit diesem Akt physischer Aggression macht Herrmann den Kritiker ‚mundtot‘: Wem das Maul gestopft wird, der kann nicht mehr sprechen, also insbesondere keine Kritik mehr

590 Tabori 1993a, S. 169.

591 Tabori 1996a, S. 48.

formulieren. Der Gastronomiekritiker, der zuvor allenfalls durch seinen Namen als Jude in Erscheinung getreten ist (als Kritiker hat er offenbar die mosaischen Speiseregeln nicht beachtet und keine seiner Äußerungen oder Verhaltensweisen im ersten Akt deuten auf die jüdische Abstammung hin), wird unvermittelt als „Saujud“ beschimpft. Der Wirt führt die Kritik an seinem Restaurant nicht etwa auf Morgensterns gewissenhafte Berufsausübung

formulieren. Der Gastronomiekritiker, der zuvor allenfalls durch seinen Namen als Jude in Erscheinung getreten ist (als Kritiker hat er offenbar die mosaischen Speiseregeln nicht beachtet und keine seiner Äußerungen oder Verhaltensweisen im ersten Akt deuten auf die jüdische Abstammung hin), wird unvermittelt als „Saujud“ beschimpft. Der Wirt führt die Kritik an seinem Restaurant nicht etwa auf Morgensterns gewissenhafte Berufsausübung

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 186-199)