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Hunger

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 63-71)

I. Die Kannibalen: To eat or not to eat

1. Hunger

a. Die Versuchsanordnung

Bei den vor den Kannibalen unternommenen Versuchen, das Schicksal des Vaters literarisch zu verarbeiten, hat Tabori als Grund für seine Gestaltungsschwierigkeiten den Umstand ausgemacht, dass er selbst nicht in Auschwitz war.248 Diesem Authentizitätsproblem begegnet er in seinem Holocaust-Erstling mit Hilfe zweier Strategien.

Zum einen hat Tabori sich bei der Ausgestaltung der dramatischen Handlung von Augenzeugenberichten über Auschwitz inspirieren lassen. Deutlicher noch als auf Viktor E. Frankls Bericht Ein Psycholog erlebt das Konzentrationslager, den Jan Strümpel als Taboris Hauptquelle postuliert,249 verweisen zahlreiche Motive der Kannibalen bis ins Detail auf Primo Levis Überlebendenbericht Ist das ein Mensch?. Schon eine Formulierung aus dem Begleittext zur europäischen Erstaufführung erinnert an den Abschnitt Diesseits von Gut und Böse aus Levis Bericht, in dem es um die Fragwürdigkeit der herkömmlichen Moralbegriffe innerhalb des Lagerzauns geht: Tabori nennt seine Figuren „Söhne, die versuchen, jenseits von Gut und Böse sich das Gewesene zurückzurufen, mit der kühlen Neugier von Leuten, die überzeugt sind, daß ihre Väter vor den Augen der Nachwelt bestehen werden“250. Die Umkehrung der Perspektive (diesseits – jenseits)251 trägt dabei sprachlich und gedanklich dem Umstand Rechnung, dass Tabori Auschwitz eben nicht ‚von innen‘ schildert, sondern

247 Zu den Nachwirkungen des ursprünglichen Konflikts auf die Nachgeborenen-Generation und zu den Bemühungen und Auseinandersetzungen um Erinnerung und Gedenken vgl. Strümpel 2000, S. 76-79; von Schilling 2001, S. 103-120.

248 Vgl. A. Müller 1994; Welker 1994b.

249 Vgl. Strümpel 2000, S. 57. Frankls Buch trägt heute den Titel … trotzdem Ja zum Leben sagen; vgl. Frankl 2002. – Strümpels Argument für die behauptete thematische Orientierung der Kannibalen an Frankls Bericht ist die Konvergenz in der Frage der inneren Freiheit und Entscheidungsfähigkeit des Menschen in der extremen Bedrohung und Erniedrigung des Vernichtungslagers. Diese Frage begegnet jedoch nicht nur bei Frankl und in den Kannibalen, sondern ihr wird in den Werken der Holocaustliteratur fast immer breiter Raum eingeräumt. So bezieht Feinberg die zentrale Frage der Kannibalen gerade nicht auf Frankl, sondern auf Primo Levi: „The question he [Tabori; D.B.] poses is in fact similar to the one brought up by Primo Levi: is it possible to maintain human dignity in the suburbs of hell, in a liminal situation (Grenzsituation)?“ (Feinberg 1999, S. 200). Ebensowenig wie Strümpel legt Feinberg weitere Belege dafür vor, dass Die Kannibalen gerade an dem von ihr ins Auge gefassten Überlebendenbericht orientiert seien. Dies zeigt sowohl die Universalität der besagten Frage in der Holocaustliteratur als auch die Beliebigkeit, mit der in den genannten Fällen Parallelen zwischen den jeweiligen Texten behauptet werden. Dass es aber tatsächlich zahlreiche motivische Anleihen bei Levi gibt, zeigt meine Untersuchung.

250 Tabori 1981a, S. 38.

251 Dieser chiastische Bezug zu Levi ist einschlägiger als jener zu Nietzsches philosophischer Schrift Jenseits von Gut und Böse, der allenfalls als ein über Levi vermittelter zu bestimmen wäre.

eine Annäherung von außen, aus dem Blickwinkel der Nachgeborenen, unternimmt.

Zugleich distanziert Tabori sich, ganz in Levis Sinn, von der vorschnellen Übertragung moralischer Maßstäbe von der ‚normalen‘ Welt auf die Welt des Lagers und plädiert für eine Haltung der „kühlen Neugier“. Levis Versuch, die eigene Lagererfahrung gedanklich auf Distanz zu bringen, äußert sich entsprechend in der Überlegung, „daß das Lager, und zwar in beachtlichem Maße, auch eine riesige biologische und soziale Erfahrung gewesen ist“252. Der Naturwissenschaftler Levi beschreibt die ‚Versuchsanordnung‘ folgendermaßen:

Tausende von Individuen, voneinander verschieden nach Alter, Stand, Herkunft, Sprache, Kultur und Sitten, sperre man hinter Stacheldraht und unterziehe sie dort einer Lebensweise, die konstant, kontrolliert, für alle identisch ist und unterhalb aller Bedürfnisse liegt: Kein Experimentator könnte sich etwas Rigoroseres ausdenken, um zu ermitteln, was vom Verhalten des Lebewesens Mensch im Kampf ums Leben wesensbedingt und was erworben ist.253

Tabori, dessen Œuvre insgesamt einen „Hang zum Planspiel“254 offenbart, versetzt in den Kannibalen die dramatis personae in eine solche Lage, allerdings wegen des Fehlens eigener Augenzeugenschaft und gattungsbedingt mit Abwandlungen. Da Tabori über keine eigene Lagererfahrung verfügt, erhöht er – hier kommt die zweite Strategie zum Tragen – die Komplexität durch eine Verdoppelung des Experiments. Die Lagererfahrung der Opfer wird wie durch ein Prisma gebrochen, da die Väter und ihr Tun nur als „Emanationen“255 der Erinnerungsarbeit der Söhne (und der Überlebenden) erscheinen. Nur momentweise lassen sich die Identitäten von Vätern und Söhnen deutlich voneinander unterscheiden;

zumeist ist die Zuordnung einer Replik zu nur einer der Figuren (Vater oder Sohn) bzw.

Spielebenen nicht möglich. Vergangenheit und Gegenwart sind interdependent und gleichermaßen präsent.256 Der dramatische Konflikt ist damit nicht nur auf der Auschwitz-Ebene angesiedelt, auf der um die moralische Zulässigkeit des kannibalischen Mahls gerungen wird. Auch auf der Nach-Auschwitz-Ebene werden konfligierende Einstellungen der Nachgeborenen zu dieser Frage deutlich, und es wird zudem über den angemessenen Umgang mit der traumatischen Vergangenheit gestritten.

Der Wahl der Gattung Drama ist andererseits eine Reduzierung der Komplexität geschuldet. Zum einen beschränkt Tabori den ‚Versuch‘ personell auf zwölf Häftlinge (bzw.

zehn Söhne und zwei Überlebende), einen SS-Mann (bzw. seinen Sohn) und einen Kapo, zum anderen begrenzt er ihn zeitlich auf den letzten Tag vor der Befreiung des Lagers Auschwitz. Und schließlich konzentriert er das Experiment thematisch auf den in dieser

252 Levi 1991, S. 83.

253 Levi 1991, S. 84.

254 Strümpel 1995, S. 5. – Harth (1997, S. 15) nennt Taboris Stücke „laborähnliche Versuche“.

255 Diesen treffenden Begriff hat Jan Strümpel (2000, S. 61) geprägt.

256 Vgl. Feinberg 1999, S. 201f.; Strümpel 2000, S. 59-62.

letzten Phase der Lagergeschichte besonders virulenten Hunger, den Faktor, der das Leben nach Levis Auskunft in extremer Weise „unterhalb aller Bedürfnisse“ hielt.

b. „Das Lager ist der Hunger“ (Primo Levi)

Im Mittelpunkt der „biologische[n] und soziale[n] Erfahrung“ in Taboris Drama steht also das Essen, genauer: der Hunger und die Versuchung des Kannibalismus. Bei der Ausgestaltung dieses Themas übernimmt Tabori zahlreiche Motive von Primo Levi.

Besonders der Abschnitt Geschichte von zehn Tagen aus Levis Bericht lässt sich als Quelle erkennen.257 In diesem Abschnitt erzählt Levi von der Zeit zwischen dem Abzug der SS-Mannschaften aus dem Lager und dem Eintreffen der Roten Armee (18. bis 27. Januar 1945), die vom völligen Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung, von Bombenangriffen, vom Ausfall der Heizungen in den Baracken und vom in vielen Fällen vergeblichen Überlebenskampf der verbliebenen Häftlinge gekennzeichnet war. Die Situation der Kannibalen ist vergleichbar: Die Zeit der Handlung auf der Auschwitz-Ebene lässt sich angeben mit einem „Sabbatmittag im Januar“, jenem Tag, „als sie befreit wurden“

(I, 35); die Lagersirenen sind zum Zeitpunkt der Handlung schon „zwei Wochen außer Betrieb“ (I, 18), „die Köche auf einem Lastwagen weggefahren“ (I, 25), die Häftlinge werden offensichtlich nicht mehr zur Arbeit abkommandiert und warten auf die Befreier.258 Levi verbrachte diese Zeit in einer Krankenbaracke zusammen mit zehn Leidensgenossen, die ‚nach Alter, Stand, Herkunft, Sprache, Kultur und Sitten‘ so bunt zusammengewürfelt sind, dass man in ihnen mühelos die Vorbilder für Taboris Figuren erkennen kann. Auch diese zählen elf Mann, nachdem Puffi erschlagen worden ist. Unter Levis Mithäftlingen befand sich ein älterer ausgezehrter Ungar namens Sómogyi, der kurz vor seinem Tod seine letzte Brotration den Mithäftlingen ‚vermachte‘ und dessen langsames und qualvolles Sterben eindrücklich geschildert wird.259 Wie sein Schicksal, so könnte auch das eines anderen namenlosen „alte[n] Ungar[n]“, den Levi tot, „in der Gebärde des Hungernden“260 erstarrt, neben einem Kartoffellager erblickte, Taboris Bedürfnis weiter verstärkt haben, dem Sterben seines Vaters ein literarisches Denkmal zu setzen.

Weitere Motive weisen Parallelen zwischen den Texten auf: die Unfähigkeit der Häftlinge, sich ohne Lagersirene und Uhr zeitlich im Tagesverlauf zu orientieren,261 vor der Baracke

257 Vgl. Levi 1991, S. 143-165.

258 Allerdings ist die Situation, die in den Kannibalen skizziert wird, keinesfalls als historisch anzusehen. Dass der SS-Mann Schrekinger noch Stunden vor der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee Häftlinge ins Gas schickt und sich die Zeit nimmt, das kannibalische Mahl zu verzehren, ist historisch nicht möglich.

Elemente aus Levis Bericht und andere Motive werden zeitlich zusammengezogen und zugespitzt.

259 Levi 1991, S. 162-165.

260 Levi 1991, S. 160.

261 Vgl. I, 18f. und Levi 1991, S. 149.

sich türmende Leichenberge,262 eine im Kampf ums Essen gründende, sich langsam wie in Zeitlupe oder unter Wasser vollziehende Schlägerei263 und die „Hungerphantastereien“, d.h. die Erzählungen von früher verzehrten Speisen und die ausführliche Wiedergabe von Rezepten, mit denen die Häftlinge sich gegenseitig unterhalten.264 Levi erwähnt die Benutzung von Essnäpfen als Fäkalieneimer;265 in den Kannibalen gehört zu den spärlichen Requisiten ein „großer Kochkessel, der als Pißeimer dient“ (I, 4), später ausgewaschen und wieder als Kochgeschirr verwendet wird, nun aber für die Menschenbrühe (vgl. I, 10). Die mehrfache Umnutzung des Gefäßes (für ‚normale‘ Speisen, für Exkremente, für die kannibalische Speise) ist in Taboris Stück ein zentrales theatrales Zeichen für das rasche Umschlagen von Genuss in Ekel und von Ekel in Genuss, vom Miteinander in die Aggression und umgekehrt unter den KZ-Bedingungen und damit für die Instabilität der sozialen Beziehungen, die sich in der Essensfrage fokussieren.266

Besonders deutlich sind die Anregungen Levis für Tabori, wenn es um die Ausgestaltung der Hungersituation der Häftlinge geht. So formuliert Levi die alles beherrschende Macht des Hungers in Auschwitz folgendermaßen:

Aber wer könnte sich vorstellen, einmal keinen Hunger zu haben? Das Lager ist der Hunger. Wir selber sind der Hunger, der lebende Hunger.267

Der Darstellung dieses dringenden Hungergefühls widmet Tabori die Exposition der Kannibalen. Mit einem ähnlich konstruierten syntaktischen Parallelismus und einer vergleichbaren Epipher erinnert ein Gespräch zwischen Hirschler und Heltai explizit an Levis Sentenzen:

HELTAI: Du bist auf ihn losgegangen – so!

HIRSCHLER: Na, sehr hart kann ich ihn aber nicht getroffen haben. Wollen wir sagen, ich hab ihn mit der Faust gestreift?

HELTAI: Gestreift? Du hast ihm fast den Schädel eingeschlagen!

HIRSCHLER: Ich hatte Hunger.

HELTAI: Na, klar hattest du Hunger. Wir hatten alle Hunger. (I, 14)

Dieser aus der Retrospektive (also auf der Nach-Auschwitz-Ebene) gesprochene Dialog verdeutlicht zum einen, dass die Überlebenden keine vollkommen verlässlichen Zeugen des Geschehens sind, weil sie eigenes Fehlverhalten verdrängen und weil damit ihre Erinnerung immer von eigenen Interessen und Bedürfnissen getrübt sein kann.268 Zum anderen betont

262 Vgl. I, 19 und Levi 1991, S. 158, 161.

263 Vgl. I, 13 und Levi 1991, S. 154.

264 Vgl. I, 11, 19f., 42 und Levi 1991, S. 71f.

265 Vgl. Levi 1991, S. 156.

266 Hadomi (1996, S. 83) hebt als mit dem Pisseimer verbundene Assoziation „a possible communal experience of food-sharing with aggressive and degrading practices“ hervor.

267 Levi 1991, S. 71.

268 Vgl. dazu Schulz 1996, S. 153; Strümpel 2000, S. 65f. – Russells Auffassung, Hirschler und Heltai „seem to be reliable (if not particularly commendable) narrators“, ist damit als unzutreffend widerlegt (Russell 1989, S.

58).

er die Macht des Hungers: Der Hunger hat Hirschler zum Schläger werden lassen, also ein Verhalten bewirkt, das ihm im freien Leben so fremd ist, dass er sich daran nicht erinnert.

Die Figur der Epipher legt die Deutung nahe, dass am Ende alles Verhalten der Ausgehungerten immer auf eine Erklärung hinausläuft, eben den Hunger.

Explizit äußert auch Ghoulos seinen Hunger, als Onkel vom kannibalischen Frevel abzuschrecken versucht:

ONKEL: […] Ihr habt euren Vater geschlachtet, er dient euch zur Speise. Ich werde mich diesem Greuel widersetzen bis zum letzten Hauch!

GHOULOS außer Atem: Hauch? Was für’n Hauch? Der letzte Hauch? Oh, sehr schön ausgedrückt. Aber, entschuldige, […] ich habe Hunger. Verstehst du mich?

Ich…habe…Hunger! Du bist wunderbar, aber wenn du noch einmal dein stinkendes Maul aufmachst, dann schlage ich dir den Schädel ein! (I, 12)

Ghoulos greift Onkels Begriff Hauch auf und kontrastiert ihn mit seinem ‚stinkendem Maul‘. In dieser Beleidigung schwingt nicht nur die vom Hunger verursachte Unduldsamkeit, ja Aggressivität von Ghoulos mit (Androhung von Schlägen), sondern das

‚stinkende Maul‘ verweist auch auf einen konkreten körperlichen Effekt des chronischen Hungers, nämlich auf den Mundgeruch. Die unmittelbaren Folgen des Hungers lassen also den Gebrauch solch erhabener Begriff wie ‚Hauch‘ und vor allem die mit ihnen verbundenen Vorstellungen von moralischem Verhalten fragwürdig werden.269

Implizit gibt es eine ganze Reihe von Indikatoren der Übermacht des Hungers. Onkel wirft dem Jungen Ramaseder vor, nicht genügend Disziplin aufzubringen, um sich bei der Essensausgabe hinten in der Schlange anzustellen, denn „unten im Topf ist die Suppe am besten“ (I, 7). Der Heißhunger aber macht Ramaseder unvernünftig, so dass er nur die dünnere, von oben geschöpfte Suppe bekommt. Ein solcher Hinweis auf den größeren Nährwert der von unten aus dem Topf geschöpften Suppe ist auch bei Levi zu finden.270 Ein weiteres anschauliches Beispiel für die Auswirkungen des Hungers stellt der Streit darüber dar, wer eine Fliege essen darf:

KLAUB: eine Fliege verfolgend Bsss. Bsss.

Er will sie fangen, da kommt ihm Onkel um Haaresbreite zuvor.

ONKEL: triumphierend Bsss. Bsss.

Die anderen applaudieren.

RAMASEDER: Darf ich die haben, Onkel?

ONKEL: Fang dir doch deine eigene Fliege, verdammt noch mal!

DIE ANDEREN: schockiert Bsss!

ONKEL: Warte, es tut mir leid, komm her zu mir, Junge. […]

Er schiebt Ramaseder die Fliege in den Mund. (I, 7)

269 Der Dialog zwischen Onkel und Ghoulos und die jeweiligen Schlüsselwörter ‚Hauch‘ und ‚stinkendes Maul‘ können als Paradebeispiele für erhabenes und groteskes Sprechen über den Holocaust gelten. Diesen Gegensatz und Taboris dezidierte Hinwendung zu den Darstellungsmitteln der Groteske behandelt ausführlich, allerdings ohne auf das genannte Beispiel einzugehen, Perets 1998.

270 Vgl. Levi 1991, S. 73.

Sogar das nach normalen Maßstäben ekelerregende Insekt, das als besonders abstoßend und unrein gilt, weil es sich auf Kot setzt, avanciert zur begehrten Nahrung. Dies zeigt die Intensität des Hungers ebenso eindrücklich wie der Hinweis auf einen ehemaligen (inzwischen wohl toten) Mithäftling, der „seine eigene Scheiße aß“ (I, 10) und damit nicht nur alle üblichen Ekelschwellen unterschreitet, sondern gewissermaßen auch den kannibalischen Akt in der Form eines denkbar widerwärtigen Autokannibalismus vorwegnimmt.271

Wie Brot schmeckt, hat Onkel wegen der langen Entbehrung vergessen: „Ich bin einfach neugierig, wie Brot schmeckt.“ (I, 6) Und auch was Milch ist, scheint den Häftlingen entfallen zu sein, bis Haas und Lang eine stillende Mutter und ihr Baby mimen und damit das Urnahrungsmittel und auch seine beruhigende, tröstende, Geborgenheit und Liebe vermittelnde Funktion in Erinnerung bringen (vgl. I, 25f.).

Ausgerechnet der an dieser ‚Milch-Szene‘ beteiligte Lang berichtet, im weiteren Verlauf der Handlung aus seiner Rolle heraus tretend, in der dritten Person davon, wie das physische Bedürfnis nach Essen sogar die Mutterliebe zu verdrängen vermag:

Er legte es immer darauf an, seiner Mutter einen Schrecken einzujagen – – kletterte auf Berge – – verliebte sich – – rauchte zuviel – – aber seine verdammte Mutter war durch nichts zu erschüttern. Das letzte Mal, als er sie sah…auf der anderen Seite des elektrischen Drahts… knabberte sie an einer Mohrrübe…Stellt euch vor, damals hatten sie noch Mohrrüben…Er ging nahe an den Draht heran – – Er hebt eine Hand mit gespreizten Fingern und nähert sie langsam Onkels ebenfalls in gleicher Weise erhobenen Hand. – – ganz nahe – – er berührte ihn fast. Er begab sich in Lebensgefahr. Aber seine Mutter verzog keine Miene. (I, 51)

Die ersten, leicht komisierenden Beispiele für Langs pubertär anmutendes, provokatives Verhalten gegenüber seiner Mutter bewegen sich ebenso im Rahmen des Alltäglichen wie die Gelassenheit der Mutter. Doch das Wagnis der Annäherung an den elektrisch geladenen Zaun im KZ sprengt diesen Rahmen: Es ist nicht als etwas übersteigerte Form der Provokation zu deuten, sondern als verzweifelter Versuch, etwas von der Mohrrübe abzubekommen, ungeachtet der Lebensgefahr. Das völlige Ausbleiben einer Reaktion von der Mutter wiederum lässt sich ebenfalls nicht als überzogene Ungerührtheit erklären,

271 Birgit Haas deutet die Fliegenszene als Widerspruch Taboris gegen Brechts Satz „Die Abwehrhaltung gegen eine Fliege ist zunächst noch kein gesellschaftlicher Gestus […].“ (Brecht 1993b, S. 330) Dem ist entgegen zu halten, dass Tabori keine Abwehrhaltung, sondern die doch sehr ungewöhnliche Einverleibung einer Fliege vorführt. Im Fliegenfressen zeigt sich die verzweifelte Lage der Hungernden besonders eindrücklich, so dass ich auch Haas‘ folgender Bewertung nicht zustimmen kann: „Die ausführliche Darstellung des Fliegenfangens wirkt wegen der Belanglosigkeit lächerlich und überflüssig.“ (Haas 2000, S.

59) Dieses Beispiel zeigt, dass Haas‘ ohnehin fragwürdiger Ansatz, demzufolge Taboris Œuvre nicht in erster Linie der Erinnerung an den Holocaust verpflichtet, sondern bloße „parodistische Destruktion des Theaters“

(Haas 2000, S. 12) und insbesondere des Epischen Theaters Brechts sei, mitunter zu ungenauem Lesen der Dramentexte führt. Denn belanglos kann das Fliegenfangen und -fressen nur nennen, wer über die dargestellte Not der dramatis personae hinwegzulesen bereit ist.

sondern nur mit Rekurs auf die Erniedrigung durch extremen Hunger: Das Stillen des eigenen Bedürfnisses ist im Lager wichtiger geworden als die Sorge um den Sohn.

c. Menschen fressen

Levi berichtet davon, „daß nur die ‚hohen Nummern‘ ihr Brot in der Tasche behalten“;272 von den anderen, schon länger der ständigen Unterernährung ausgesetzten Häftlingen sei

„keiner imstande [gewesen], sein Brot auch nur ein halbe Stunde lang aufzubewahren“.

Außer dem Hunger habe auch die Erfahrung, „daß der Magen der sicherste Tresor gegen Diebstahl und Erpressung sei“, zum sofortigen Verschlingen des Brots geführt.273 Die Gefahr des Brotdiebstahls stellt Tabori an den Beginn seiner Exposition. Puffi, schon im Personenverzeichnis eingeführt als „ein fetter Mann“ (I, 4), der demnach noch die Kraft hat, sein Brot aufzuheben, schleicht sich heimlich in eine Ecke, um dort ungestört zu essen:

„Aus der Achselhöhle holt er ein Stück Brot heraus. Er betastet es, riecht daran, küßt es.“

(I, 5) Der erotisch konnotierte Umgang mit dem Brot, das durch das asyndetische Trikolon betonte stufenweise ablaufende, synästhetische Sich-Nähern (betasten-riechen-küssen) unterstreichen den hohen Wert des Brots.

Primo Levi berichtet weiter, dass der Kapo seines Arbeitskommandos statt vom ‚Essen‘

nur vom ‚Fressen‘ gesprochen habe und erläutert dies so:

Das sagt er nicht aus Spott und Hohn, sondern weil das, was wir da in größter Hast stehend tun, wobei wir uns Mund und Kehle verbrennen und nicht einmal Zeit haben, Atem zu holen, ein ‚Fressen‘ von Tieren und wahrlich kein ‚Essen‘ von Menschen ist, die gesammelt bei Tisch sitzen. ‚Fressen‘ ist der angebrachte und von uns allgemein gebrauchte Ausdruck.274

Der übergroße Hunger führte demnach dazu, dass Menschen sich um die Ess-Etikette nicht mehr scherten, sondern nur an der möglichst schnellen Dämpfung des nagenden Hungers interessiert waren, dass Menschen fraßen, Tieren gleich. Tabori verknüpft diese

‚Vertierung‘ der Hungernden mit dem Motiv des Brotdiebstahls. Puffis Genuss wird entdeckt, weil das harte Brot beim Kauen Geräusche verursacht:

Klaub, Ghoulos und der Zigeuner fangen an, nach dem Esser zu suchen. Sie halten inne, sie spähen, sie lauschen. Sie öffnen Haas mit Gewalt den Mund, um nachzusehen, ob sich Brotkrumen darin finden.

PUFFI: K-r-r-ump.

Sie drehen sich um. Sie beobachten ihn. Der Speichel tropft ihnen vom Kinn, wie Hunden. […]

Krrump.

Er bemerkt sie. Er versucht, aus dem Raum zu entkommen.

272 Die Auschwitz-Häftlinge bekamen Häftlingsnummern in den Arm eintätowiert. Je später das Aufnahmedatum lag, desto höher fiel die Nummer aus.

273 Levi 1991, S. 72.

274 Levi 1991, S. 73.

KLAUB: Schnappt ihn!

Sie stürzen sich auf Puffi.

[…]

Sie lassen Puffi liegen und trotten eilig mit den erbeuteten Brotstücken an ihre Plätze. Sie essen gierig, grunzend und schmatzend. (I, 5f.)

Die Reaktion der anderen Häftlinge lässt an Jagdszenen denken, wenn sie ‚innehalten‘ –

‚spähen‘ – ‚lauschen‘, um die Witterung ihrer Beute aufzunehmen. Das hier zum zweiten Mal eingesetzte asyndetische Trikolon verstärkt die Atmosphäre der Anspannung, Bedrohung und „Gewalt“. Das bei jeder neuen Kaubewegung Puffis hörbar werdende Geräusch lässt das Verhalten der anderen stufenweise zum Tierhaften eskalieren: Zunächst

‚spähen‘ – ‚lauschen‘, um die Witterung ihrer Beute aufzunehmen. Das hier zum zweiten Mal eingesetzte asyndetische Trikolon verstärkt die Atmosphäre der Anspannung, Bedrohung und „Gewalt“. Das bei jeder neuen Kaubewegung Puffis hörbar werdende Geräusch lässt das Verhalten der anderen stufenweise zum Tierhaften eskalieren: Zunächst

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 63-71)