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Beweinter Verrat und unverdaute Schuld

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 111-118)

II. Mutters Courage: Der Biss in die Pflaume

2. Beweinter Verrat und unverdaute Schuld

a. Die Säfte der Trauer

Die Mutter verdankt ihre Rettung einem „Bekenntnis zur eigenen Person“378, weil sie als einzige der viertausend Deportierten „aus der Sicherheit der Nummern“ (I, 307) heraustritt und ihre Freilassung verlangt und weil der Deutsche nicht umhin kann, die „deportierte Jüdin als Individuum wahr[zunehmen] und ihre Individualität, ganz dem Ziel seines Auftrags entgegen, in Schutz“379 zu nehmen, indem er seinen ungarischen Schergen belehrt: „Diese Dame ist nicht irgend jemand. Niemand ist irgend jemand. Jeder ist irgendwer, verstanden?“ (I, 310)

378 Kagel 1998, S. 101.

379 Strümpel 2000, S. 92.

Ihr Ausbrechen aus der Anonymität der Masse empfindet die Mutter als Verrat, sich selbst als zur „Verräterin geworden; jeder, der diese Toten überlebt, ist ein Verräter.“ (I, 308) Denn nicht nur der Deutsche konnte nicht umhin, die Mutter als Individuum wahrzunehmen, sondern auch sie selbst musste dafür dem Deutschen als einem Individuum in die Augen sehen.380 „Hüte dich davor, deinem Feind in die Augen zu sehen, mein Schatz“, sagt sie daher zu ihrem Sohn, „es könnte sein, daß du aufhörst, ihn zu hassen, und somit die Toten verrätst.“ (I, 312) Wenn die Mutter daher auf der Rückfahrt nach Budapest auf einem „roten Plüschsitz[ ]“ Platz nimmt, dann signalisiert dies zweierlei:

Zum einen gemahnt nach der Schilderung der ‚Mohnblumen‘-Szene die symbolisch aufgeladene Farbe rot an jene Masse der Opfer, die nach Auschwitz weitertransportiert wird und der sich die Mutter durch ihren ‚Verrat‘ entzogen hat. Zum anderen erinnert der Plüschsitz an das Sitzmöbel des deutschen Offiziers am Budapester Bahnhof, denn dort hat der Deutsche „ganz unangebracht in einem Sessel aus Plüsch“ (I, 294) gesessen.381 Indem die Mutter auf dem Plüschsitz Platz nimmt, wechselt sie symbolisch die Seiten: Sie befindet sich nunmehr durch ihren ‚Verrat‘ an der Seite der Täter. Sie, das Opfer, verabschiedet die anderen, die todgeweihten Deportierten, „schuldbewußt“ (I, 313). Die Ambivalenz ihrer Situation und ihrer Gefühle gegenüber dem Mann, der sie rettet und Tausende anderer in den Tod schickt, fasst die Mutter in die Worte: „und doch hasse ich ihn dafür, daß ich ihn lieben muß, was ich ja tue.“ (I, 312)

Nach der Begegnung, die das Leben der Mutter gerettet hat, lässt die Anspannung382 nach:

„Im Augenblick, als man sie allein ließ, begannen ihre Beine zu zittern, und sie machte sich

380 „Sie war schon mitten auf dem Hof, als der Deutsche sie durch die Grünhemden hindurch sich nähern sah. Ihre Augen vereinigten sich auf wundersame Weise. Es stimmt, meine Mutter hätte sich am liebsten verkrochen, unsichtbar gemacht, aber jetzt war der einzige sichere Platz auf der Welt seine Augen.“ (I, 308) Schon vor der Bitte um Freilassung ist die Mutter für den Deutschen als Einzelne in Erscheinung getreten durch diesen intensiven Blickkontakt, der während des ganzen Gesprächs über den Schutzpass vom Roten Kreuz aufrechterhalten worden ist: „Wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden, hatten sich ihre Augen keinen Moment voneinander gelöst.“ (I, 309) Und auch am Ende des über Leben oder Tod entscheidenden Gesprächs hat der Deutsche, wie der Sohn zu berichten weiß, „meiner Mutter in die Augen wie durch ein Schlüsselloch“ gestarrt und die Mutter hat diesen Blick erwidert, so dass es in diesem Moment

„nichts als diese zwei Augenpaare“ gegeben hat (I, 310). – Vgl. dazu Kagel 1998, S. 102.

381 Die Bedeutung auch dieses ‚Details‘ wird vom Sohn/Erzähler herausgehoben, indem der die Heuernte beobachtende Offizier als derjenige identifiziert wird, „der zur Abfahrtszeit in dem Plüschsessel gesessen hatte“ (I, 302). Durch diesen zweiten Hinweis wird der Plüschsessel so eng mit dem Offizier verbunden, dass das Sitzen der Mutter auf einem Plüschsitz als Umcodierung ihrer Rolle zu verstehen ist.

382 Die Anspannung der Figur der Mutter und der Spannungsbogen der Handlung verlaufen parallel zueinander. Nach der Exposition, die sich der Lebenssituation der Mutter vor dem Hintergrund der Bedrohung der ungarischen Juden widmet, stellt die Verhaftung das erregende Moment dar (1. Szene). Die Zustände vor und während der Deportation (2. Szene) führen in steigender Handlung zum Höhepunkt, den Vorgängen in der verlassenen Fabrik, wo die schicksalhafte Begegnung mit dem Bekannten Kelemen die Mutter dazu zwingt, aus der Anonymität der Masse herauszutreten (3. Szene). Der Peripetie in der Begegnung zwischen Offizier und Mutter (4. Szene) folgt das retardierende Moment des Gesprächs im Zug und die Auflösung durch das endgültige Entkommen der Mutter (5. Szene). Mit diesem Aufbau (und hinsichtlich anderer Kriterien wie etwa der Ganzheit der Fabel, des überschaubaren Personals, der Ökonomie der Zeitstruktur) entspricht Mutters Courage weitgehend dem Idealtyp der geschlossenen Form des Dramas.

ihr Höschen naß, wagte aber nicht, auf die Toilette zu gehen.“ (I, 311) Wenig später, während sie lustlos eine Suppe löffelt, die man ihr gebracht hat, bemerkt die Mutter die Abfahrt der anderen Deportierten in Richtung Auschwitz und reagiert, wie der Sohn berichtet, folgendermaßen:

Und dann kamen ihr die Tränen, wie ihr der Urin gekommen war, und füllten ihre unvergleichlich blauen Augen und machten sie blind, bevor sie in die deutsche Suppe fielen, ach ja, diese verdammte jüdische Sentimentalität; statt kühl und sachlich zu bleiben, wie es einer Dame geziemt, dachte sie an die viertausendunddreißig Todgeweihten und versprühte in der Trauer um [sie] ihre Säfte über das saubere deutsche Abteil, aber was hat das für einen Sinn, wem ist mit Trauer geholfen, außer den Schleiermachern, na schön, ich sag dir, wem geholfen ist, denen, die nicht trauern, nämlich den Mördern, das ist mal klar, denn eins sag ich dir, mein Schatz, Mord beginnt dort, wo Trauer dir nicht mehr das Höschen näßt oder die Augen. (I, 313)

Ihre „verdammte jüdische Sentimentalität“ lässt die Mutter so weinen, „wie ihr der Urin gekommen war“, also unwillkürlich und ohne die Möglichkeit, die Tränen zurückzuhalten.

Die ‚Säfte‘ der Mutter sind unmittelbarer Ausdruck ihrer Gefühle: Die Mischung aus überstandener Todesangst, Erleichterung und Scham über den ‚Verrat‘ lässt die Mutter in die Hose machen, Trauer lässt sie weinen. Die ‚Fähigkeit zu trauern‘ manifestiert sich also körperlich, gemäß dem in der aristotelischen Poetik vorgeprägten und von Tabori programmatisch vertretenen physiologischen Verständnis einer Katharsis. Sie steht in Mutters Courage in auffälligem Gegensatz zur emotionalen Starre des deutschen Soldaten, der die Mutter beim Essen der Suppe beobachtet:

SOLDAT: Schmeckt Ihnen die Suppe nicht?

MUTTER: Oh, doch, doch.

SOHN: Und doch würgte sie daran herum, bis sie schließlich einnickte. (I, 313) Offenbar ungerührt von der sich im selben Moment in Gestalt des Zuges wieder in Bewegung setzenden Vernichtungsmaschinerie und ohne jede Einfühlung in die Gefühlslage der Mutter fragt der Soldat nur nach dem Banalsten, der Suppe. Die vom Sohn zuvor formulierte emotionale Differenz zwischen Opfer („Sentimentalität“ 383) und Täter („kühl und sachlich“) zeigt sich nicht nur in dieser Szene, sie wird auch als allgemeingültiges Unterscheidungskriterium von der Mutter aus ihren Erfahrungen abgeleitet: „Mord beginnt dort, wo Trauer dir nicht mehr das Höschen näßt oder die Augen.“384 Dies belegt die zweite Begegnung der Mutter mit ihrem Retter. Dessen

383 Die Verwendung des Begriffs „Sentimentalität“ ist in diesem Zusammenhang nicht negativ konnotiert, weil er echte Gefühlbeteiligung ausdrückt. Im Gegensatz dazu lehnt Tabori die Sentimentalität des (auch literarischen) Gedenkkitschs ab, die er in mancherlei Beschäftigung mit dem Holocaust erkennt: „Was nach Auschwitz unmöglich geworden ist, das ist weniger das Gedicht als vielmehr Sentimentalität oder auch Pietät.“ (Tabori 1981a, S. 38). Vgl. auch Taboris Reflexionen über die Konnotationen von ‚sentimental‘ im Englischen und im Deutschen, in: Gronius/Kässens 1990, S. 171.

384 Innerhalb der oben zitierten, dem Sohn zugeordneten Replik werden Äußerungen des Sohns und Fazit der Mutter übereinander geblendet, ohne dass die Grenze markiert ist. Am wahrscheinlichsten ist es wohl, dass

Handlungsweisen und Denken stehen zu den ihren im denkbar stärksten Kontrast. Das Schuldbewusstsein, das der deutsche Offizier im Gegensatz zur Mutter mit Gründen empfinden sollte, tritt bei ihm nicht offen zu Tage, sondern manifestiert sich als Folge einer Verschiebung in Vegetarismus und Obstipation.

b. Die „Vorstellung, totes Fleisch zu essen“

Nachdem die Mutter kurz eingeschlafen und wieder aufgewacht ist, sieht sie ihren Retter in ihrem Abteil sitzen und eine der Pflaumen reiben, die sie als Proviant eingesteckt hat.

Anders als der Mutter, die angesichts des Schicksals der anderen Juden an ihrer Suppe

‚herumgewürgt‘ hat (vgl. I, 313), ist dem deutschen Offizier ob seinem mörderischen Tun keineswegs der Appetit vergangen, er hat „Hunger“ (I, 313). Er erklärt ihr, warum er selbst nichts von der Suppe isst, die er ihr hat servieren lassen:

DEUTSCHER OFFIZIER: Wissen Sie, die Kohlsuppe hat Wurststücke drin, das haben Sie doch bemerkt? Ich bin nämlich Vegetarier. Merkwürdig, aber die Vorstellung, totes Fleisch zu essen, widerstrebt mir.

MUTTER: Was Sie nicht sagen. (I, 314)

Diese Auskunft ist fürwahr merkwürdig im Wortsinne: Ein Massenmörder gibt sich als Fleischverächter zu erkennen. Dass das Morden und das Verschmähen von fleischhaltigen Gerichten aber gerade aus gutem Grund zusammenhängen, deutet subtil der Umstand an, dass der Deutsche nur von ‚totem Fleisch‘ spricht, ohne zu spezifizieren, ob es sich um Tier- oder um Menschenfleisch handelt. Die zunächst unauffällige Verschleierung dieser Grenze wird durch die folgende, genauere Erklärung des Deutschen deutlicher:

Es fing an in Hamburg nach einer Feuersbrunst, kennen Sie Hamburg? Ich war in einem Restaurant, und man brachte mir ein Steak mit kunstvoll arrangierter Beilage, als ich plötzlich erkannte, was es wirklich war, nämlich ein Stück von einem Kalb, das einst auf einer Wiese gegrast hatte, und das Kalb schien mich anzuglotzen. Wie kann jemand so tief sinken, sagte ich mir, ein Kalb zu schlachten, es in Stücke zu hacken und zu essen? (I, 314)

Ein besonderes Erlebnis mit einem Fleischgericht hat den Deutschen also zum Vegetarier werden lassen: In dem Stück Fleisch hat er das getötete Tier erkannt, und zwar gewissermaßen als ‚Individuum‘, weil es ihn „anzuglotzen“ schien. Dieser ‚Blick‘ des Kalbs in die Augen des Offiziers erinnert daran, dass in dem Prozess, der die Mutter aus der Anonymität der Opfer hat heraustreten und als Individuum erkennbar werden lassen, der Blickkontakt zwischen Mutter und Offizier ausschlaggebend gewesen ist. Die Intensität, mit der der Retter nun von dem vermeintlichen Blick des Kalbs erzählt, klärt daher auch

der Sohn beginnend mit den Worten „na schön, ich sag dir, wem geholfen ist...“ gewissermaßen die wörtliche Rede der Mutter ihm selbst gegenüber wiedergibt.

über den Grund für die Rettung auf. Der Deutsche bezeugt die Unwiderstehlichkeit des individuierenden Blicks: Wie er das ‚abstrakte‘ Stück Fleisch nicht mehr hat essen können, nachdem es ihn scheinbar als ‚konkretes‘ einzelnes Kalb angesehen hatte, so hat er auch die Mutter nicht in den Tod schicken können, nachdem sie sich durch den Blickkontakt aus einer abstrakten Nummer unter den zahllosen Deportierten zu einer indivuellen Person gewandelt hat.

Dass gerade ein Kalb als Beispiel gewählt ist, lässt sich mit Bezug zur englischen Fassung des Stücks deuten: Deportiert wird die Mutter in einem „Viehwagen“ (I, 297). Das entsprechende englische Wort lautet ‚cattle car‘; ‚cattle‘ wiederum heißt ‚Rind(vieh)‘.385 Als Teil und in der Anonymität der Gruppe der Deportierten wird die Mutter wie Vieh behandelt und ist nicht als Einzelwesen erkennbar; ja die anderen Deportierten und die Mutter sehen im Viehwagen aus, „als seien [sie] schon zerstückelt“ (I, 298). Sobald sie den Deutschen aber anspricht und anblickt, gewinnt sie ihre personale Integrität zurück und individuiert sich ähnlich wie das „in Stücke [ge]hack[te]“ (I, 314) Kalb.386

Zum abstoßenden Gedanken an das Töten und Zerteilen eines als ‚Individuum‘ erkannten Tiers kommt das Erlebnis einer Feuersbrunst in Hamburg (offenbar wird auf den Luftangriff der Alliierten Ende Juli/Anfang August 1943 angespielt). Ohne dass der Offizier den Zusammenhang offen ausspricht, wird deutlich, dass das gegrillte Fleisch im Restaurant ihn im Geruch an das verbrannte Menschenfleisch nach den Luftangriffen erinnert hat. Der Vegetarismus des Mörders wurzelt also nicht nur im Respekt vor dem Lebewesen Tier, sondern er entspringt auch der uneingestandenen Angst, dass Menschenfleisch serviert werden könnte.

Selbst die Pflaume in seiner Hand erscheint dem deutschen Offizier plötzlich als fragwürdiges Lebensmittel:

385 Das Heranziehen des englischen Worts zur Interpretation ist dadurch gerechtfertigt, dass Mutters Courage wie alle anderen Texte Taboris in englischer Sprache geschrieben und dann erst für das deutsche Publikum übersetzt worden ist. Zu den Chancen und Einschränkungen, die sich für die Wirkung der Texte daraus ergeben, vgl. S. Schmidt 1997. – Schmidt vertritt wie Thomas Rothschild (1997, bes. S. 4) die These, dass viele Lexeme im Englischen nicht so eindeutig auf den Holocaust bezogen seien wie im Deutschen, und führt als Beispiel ‚cattle car‘ an (vgl. S. Schmidt 1997, S. 339f.). Anders als Schmidt und Rothschild sehe ich allerdings keinen Unterschied zwischen den Sprachen hinsichtlich der Konnotationen, die die Verwendung eines solchen Lexems beim Rezipienten auslöst, sofern der historisch-thematische Kontext einschlägig ist – und das ist er zweifellos immer, wenn man es mit Holocaustliteratur zu tun hat. Die These, dass im Deutschen manche Lexeme stärker auf den Holocaust verwiesen als in anderen Sprachen, scheint mir nur für solche Wörter zuzutreffen, die in denotativer Hinsicht eigentlich ‚unverdächtig‘, weil polynym, in konnotativer Hinsicht aber von der Sprache des Nationalsozialismus in besonderer Weise geprägt sind, wie etwa ‚Sonderbehandlung‘ oder ‚Endlösung‘. Diese Begriffe werden daher in nicht-deutschsprachigen (fiktiven, essayistischen, historiographischen etc.) Texten über den Holocaust üblicherweise nicht übersetzt, sondern auf deutsch ‚zitiert‘.

386 Ihr werden Attribute der Kindlichkeit zugesprochen, was dem Noch-nicht-ausgewachsen-Sein des Kalbs entspricht: „braves kleines Mädchen“ (I, 297), „mit mädchenhafter Stimme“, „wie ein zwölfjähriges Mädchen“ (I, 309). – Vgl. dazu Feinberg 1999, S. 228f.; Strümpel 2000, S. 106f.

DEUTSCHER OFFIZIER: Natürlich, man sollte noch weitergehen. Eine Pflaume zum Beispiel, empfindet sie Schmerzen, wenn man sie ißt?

MUTTER: Ach, das glaube ich nicht.

DEUTSCHER OFFIZIER: Sie sind sehr gütig. Aber irgendwo habe ich gelesen, daß Lilien, wenn sie Stimmen hätten, schreien würden, wenn man sie bricht. Manchmal höre ich alle Lilien auf dem Feld schreien und die Kohlköpfe auch. (I, 314)

Mit diesen Äußerungen nimmt der Offizier verschlüsselt zu seinem massenmörderischen Tun und zur Rettung der Mutter Stellung. Die Pflaume ist als Tagesproviant der Mutter in auffälliger Weise eingeführt worden. Der Sohn hat angegeben, sie habe am Morgen einen Apfel eingesteckt, worauf die Mutter entgegnet (I, 288): „Es waren wohl eher Pflaumen:

Die waren süß in jenem Jahr.“387 Damit spielt die Mutter auf die Rede vom

„hervorragenden Erntejahr für den Tod“ (I, 287) an. Noch zweimal korrigiert die Mutter den Sohn in ähnlicher Weise: einmal in der Frage, ob die den Juden Blutdurst unterstellende Nachbarin ihr Äpfel oder Pflaumen vor die Tür gestellt habe (vgl. I, 289), und ein weiteres Mal, wenn der Sohn schildert, wie sie sich, ihre Handtasche mit den Pflaumen an sich pressend, aufmacht, um von dem Deutschen ihre Freilassung zu verlangen (vgl. I, 306). Die Pflaume ist demgemäß sowohl konnotativ mit der Getreideernte-Isotopie als auch pragmatisch388 und farbmetaphorisch mit dem Blut assoziiert. Die beiden Allusionslinien der Abendmahlbestandteile laufen in ihr als in einem

„Dingsymbol“389 zusammen, zumal ihr gelblich-rotes Fruchtfleisch Fleisch und Blut vereint. Wenn der Deutsche sich fragt, ob er nicht auch mit der Pflaume ein dem Kalb vergleichbares Lebewesen verspeist, so nimmt die Angst vor dem Fleischverzehr endgültig nicht nur exzessive, sondern auch pathologische Züge an. In seinem absurden Skrupel schwingt die Angst vor dem Kannibalismus mit, vermittelt über die Ähnlichkeit des Fleischs und Safts der Frucht mit menschlichem Fleisch und Blut. Da zuvor die Fleisch-und-Blut-Motivik mit dem Schicksal der Shoah-Opfer verbunden worden ist, sind die vor dem Pflaumenessen geäußerten Skrupel als mehrstufig (vom Menschenfleisch übers Tierfleisch hin zur Frucht) verschobene Gewissensbisse des Judenmörders zu verstehen, der Angst hat, ausgerechnet seine eigenen Opfer zu verspeisen.

387 Anat Feinberg (1999, S. 228) schreibt dazu: „What she [die Mutter] takes with her is notable too: not an apple, with its heavy biblical symbolism, as her Son suggests, but a prosaic plum.“ – Dazu ist ergänzend anzumerken, dass der Sohn die biblische Symbolbeladenheit des Apfels trotz der Korrektur seiner Mutter noch mehrfach ins Spiel bringt, dass sie also durch den ganzen Handlungsverlauf immer mitschwingt, weil er obstinat von dem Apfel spricht, den die Mutter mitgenommen habe. Das mit dem Apfel angesprochene Sündenfall-Thema fügt sich ein in die Gestaltung der Geschichte anhand erotischer Motive. Vgl. dazu Kagel 1998; Strässle 2001. – Die Charakterisierung der Pflaume als ‚prosaic‘ übersieht die symbolische Aufladung der Frucht als eines Dingsymbols für die Shoah-Opfer, die ich in diesem Kapitel herausarbeite.

388 Eine pragmatische Assoziation von Pflaume und Blut ist gegeben, weil die Frau Csibotnik Blut durch die Gabe der Pflaume zu ersetzen beabsichtigt, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben.

389 Diesen Begriff verwendet Kagel (1998, S. 100) für die Funktion der Pflaume, jedoch hinsichtlich der erotischen Symbolik, nicht hinsichtlich der Holocaust-Opfer-Symbolik.

Obwohl die Antwort der Mutter solche Gedanken abweist, versteigt sich der Deutsche zu weiteren, scheinbar zusammenhanglosen Spekulationen über die „Lilien auf dem Feld“.

Damit spielt er auf zwei Bibelstellen an. Im Hohelied Salomos heißt es über Sulamith:

„Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Lilien.“ (Hld 7, 3) Zum einen erinnert der Offizier mit dieser indirekten Allusion auf die Getreideernte an den Judenmord; zum anderen spricht er mit dem Bezug auf die Salomonische Liebeserklärung aus, dass er die Mutter auch deshalb vor dem Weitertransport nach Auschwitz gerettet hat, weil sie ihm als Frau gefallen hat.390 Dass das Nachdenken über das eigene mörderische Tun allerdings in dieser Äußerung schwerer wiegt als das Kompliment an die Mutter, macht die zweite anzitierte Bibelstelle deutlich. In der Bergpredigt heißt es:

Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.

Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? (Mt. 6, 28-30)

Mit Hilfe der verfremdet zitierten Bibelverse spricht der Deutsche indirekt sein mörderisches Tun an: Hat er kurz vor dem Gespräch mit der Mutter noch versonnen die Feldarbeit beobachtet und sich dann seinerseits als ‚Schnitter‘ betätigt, so bereitet ihm nun die Vorstellung Unbehagen, dass Lilien „schreien […], wenn man sie bricht“. Damit erfüllt er weniger das „Klischee vom sensiblen, musisch veranlagten Nazi, der nur seine Befehle ausführt“,391 als dass er im verfremdeten Zitat seine Schlächterei spiegelt. Das biblische Sinnbild für Vergänglichkeit und Niedrigkeit, das Gras, „das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird“, fungiert, verändert zur Metapher vom Heu, das im

‚hervorragenden Erntejahr für den Tod‘ geerntet wird, in Mutters Courage als Bild für die Ermordung der Juden.

Die Reflexionen und Erklärungen zum Vegetarismus erfüllen, wie die Durchsicht der Anspielungen gezeigt hat, mehrere Funktionen: Vermittelt über die Frage, was man essen dürfe, weisen sie darauf hin, dass der Mord den Mörder nicht unberührt lässt. Genauso deutlich demonstrieren sie, dass der Deutsche seine moralischen Skrupel und seine Schuldgefühle auf ein anderes Handlungsfeld verschoben hat, indem er sie durch seinen

Die Reflexionen und Erklärungen zum Vegetarismus erfüllen, wie die Durchsicht der Anspielungen gezeigt hat, mehrere Funktionen: Vermittelt über die Frage, was man essen dürfe, weisen sie darauf hin, dass der Mord den Mörder nicht unberührt lässt. Genauso deutlich demonstrieren sie, dass der Deutsche seine moralischen Skrupel und seine Schuldgefühle auf ein anderes Handlungsfeld verschoben hat, indem er sie durch seinen

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