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Liebe geht durch den Magen

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 147-166)

IV. Mein Kampf : Von der Verstopfung zur Endlösung

1. Liebe geht durch den Magen

In einem Interview sagte Tabori in Bezug auf Mein Kampf: „Grundsätzlich geht es um die Liebe. Auf verschiedenen Ebenen.“472 Tatsächlich bilden drei Varianten der Liebe die Modelle für die Beziehungen der dramatis personae: die Liebe zu Gott, die Feindesliebe und die erotische Liebe. Diese strukturieren das Verhältnis Schlomo Herzls zu Lobkowitz, Hitler und Gretchen.473 Welche Rolle dabei jeweils dem Essen zukommt, sollen die folgenden Ausführungen deutlich machen.

a. Sündenfall und Amor dei

Noch bevor das Eingangsgespräch zwischen Lobkowitz und Herzl beginnt, sind mit dem Ort des Bühnengeschehens („Asyl in der Blutgasse“, II, 144) und der Regieanweisung „Ein Hahn schreit.“ (II, 145) im Nebentext Hinweise auf den blutigen Handlungsverlauf und den (zumindest auch) religiösen Deutungsrahmen des Dramas gegeben: Der schreiende Hahn verweist nicht nur auf das Huhn Mizzi, das im weiteren Verlauf der Handlung geschlachtet und „in delikater Blutsauce“ serviert werden wird, sondern fungiert auch als fast überdeutliche Reminiszenz an Christi Passionsgeschichte. Verrat und Leiden prägen als Elemente dieser Allusion auf Christi letztes Abendmahl die Atmosphäre des Gesprächs zwischen Herzl und Lobkowitz/Gott. Die biblischen Allusionen setzen sich in den ersten Sätzen des Stücks fort:

LOBKOWITZ: Also, da bist du.

HERZL: Bin ich?

LOBKOWITZ: Versuchst, an mir vorbeizuschlüpfen?

HERZL: O nein, Herr.

472 Tabori nach Palm/Voss 1987, S. 125.

473 Vgl. zu dieser Trias der Liebesarten den vorzüglichen Aufsatz von Seth L. Wolitz, der die Bedeutung von eros, philia und agape in Weisman und Rotgesicht herausarbeitet: Wolitz 1998.

LOBKOWITZ: Ich habe im Finstern hinter dem brennenden Busch gerufen, wo bist du, Schlomo Herzl, rief ich aus, wo bist du, wo, aber da war nur die Stille des Schnees. (II, 145)

Zunächst ist es von Bedeutung, dass Lobkowitz die ersten Worte des Theaterstücks spricht – gottgleich, obwohl es sich nicht um Schöpfungsworte handelt.474 Er wird auch das letzte Wort haben, was zwar keine Parallele in der Bibel hat, aber Lobkowitzens herausgehobene Stellung in der Figurenkonstellation des Dramas unterstreicht. Lobkowitz wird also gleich als ‚Gott‘ eingeführt; seine Identität oszilliert während des weiteren Bühnengeschehens zwischen der eines jüdischen Menschen und der des jüdischen Gottes. In dieser ‚Gottes-Funktion‘ ist Lobkowitz als allegorische Gestalt zu verstehen, genauso wie sein ‚Geschöpf‘

Schlomo Herzl, der für das europäische Judentum in den Zeiten der rechtlichen Gleichstellung und Akkulturation vor der Shoah steht. Für diese beiden Figuren gilt wie für alle anderen, später in die Bühnenhandlung eingeführten dramatis personae Herzls Erkenntnis (II, 194): „Diese verrückte Stadt ist voller Leute, die nicht sind, was sie sind.“

Lobkowitzens erste Äußerungen parallelisieren Herzl mit zwei zentralen jüdischen Gestalten des Alten Testaments: mit Moses und mit Adam. Die erste Parallele betrifft die Gestalt des Moses. Lobkowitzens Erwähnung des brennenden Busches lässt sich als Anspielung auf 2. Mose 3,4 erkennen: „Als aber der Herr sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich.“

In diesen Zusammenhang gehören auch die ‚Gebote‘, die Lobkowitz Herzl unterbreitet:

Ich habe eben ein paar neue Gebote erfunden, erstens: Ein Gott ist genug, und der bin ich. Zweitens: Kannst du deine Eltern nicht ehren, ruf sie wenigstens einmal die Woche an. Drittens: Bevor du deines Nachbarn Weib begehrst, überzeuge dich, dass sie keine behaarten Beine hat. (II, 145)

Hier werden die biblischen, Moses diktierten Gebote nicht nur aktualisiert, säkularisiert und persifliert,475 sondern durch die Komik der Banalisierung scheinen durchaus auch ernste Themen hindurch, die im weiteren Verlauf der Handlung wieder aufgegriffen werden: Die Anforderungen des (jüdischen) Monotheismus an das menschliche Verhalten und die damit verbundenen Überforderungen werden konkretisiert als Schwierigkeit der jüdischen Figuren, in der nicht-jüdischen Umwelt Gottes Gebote einzuhalten; die Einbindung der Figuren in eine Generationenfolge und konkreter das Verhältnis zu Vater und Mutter werden erneut thematisiert in Herzls Geschichten über die jahrhundertelange Verfolgung der Juden und über die jeweiligen Tode seiner Eltern; und erotische Beziehungen zwischen Mann und Frau werden variiert in den Beziehungen

474 Die bleiben in Taboris dramatischem Schaffen Mr. Jay, der Gottesfigur in den Goldberg-Variationen vorbehalten.

475 Auf die Persiflage schränkt Sandra Pott in ihrer Deutung die Funktion der ‚Gebote‘ und der Moses-Parallele ein: Pott 1997, S. 257f.

Gretchen, Hitler-Gretchen und Hitler-Frau Tod. Diese drei Themen lassen sich auch auf die Trias der Liebesarten projizieren, die die Figurenbeziehungen in Mein Kampf bestimmen:

spirituelle Liebe des Menschen zu Gott (und umgekehrt auch Liebe Gottes zu den Menschen), brüderliche Liebe zwischen den Menschen, erotische Liebe zwischen den Geschlechtern.

Wie die biblischen Gebote nicht nur persifliert werden, so kann auch die Figuren-Parallelisierung durchaus anders gedeutet werden denn „allenfalls als Persiflage auf den biblischen Moses“476. Denn Herzl tritt zwar nicht als Religionsstifter in Erscheinung, aber durchaus – das ist in der Forschung bisher übersehen worden – als Bote der göttlichen Gesetze: Herzl verkauft Bibeln und bringt auf diese Weise Gottes Wort unter die Menschen. Sogar der mangelnde Absatz der Bibeln lässt sich mit der Skepsis vergleichen, die Moses entgegengeschlagen ist.477

Die zweite Parallele gilt dem Urvater Adam. Die oben zitierten Eingangssätze erinnern an die mythopoetische Urszene des Sündenfalls: Wie Gott Adam begegnet,478 so tritt Lobkowitz hier als Kontrolleur von Herzls Verbleib auf und spricht dessen Versuch an, sich zu verstecken.479 Diese Parallele charakterisiert das Verhältnis zwischen Lobkowitz und Herzl in transzendenter Perspektive als eines zwischen Schöpfer und Geschöpf und in immanenter Perspektive als eines zwischen Herr und Knecht. Indem Herzl Lobkowitz doppeldeutig „Herr“ nennt, erkennt er diese Konstellation an.

Zudem ist das Geschehen von Bedeutung, das vor dem Beginn dieses Gesprächs stattgefunden haben muss, nämlich der Sündenfall des Schlomo Herzl. In diesem metaphorischen Sinne liegt die erste Essensszene von Mein Kampf der eigentlichen Dramenhandlung voraus. Lobkowitz ermahnt Herzl wegen dessen Mangels an Gehorsam (II, 146): „[…] büße, bevor es zu spät ist. Aber ich rate Dir, kehre noch heute um, zurück in meinen Schoß […].“ Auch Herzl selbst verspürt das Bedürfnis, im religiösen Sinne

‚umzukehren‘ und Buße zu tun, und schreibt zu diesem Zweck ein Buch (II, 148): „[…]

jeden Morgen schüttelt mich der Wunsch, dass dieses Buch ein tägliches Gebet sei, was mich zurückhält, ist ein heidnisches Kichern, während ich Seinen Namen kritzle.“ Die hier

476 Pott 1997, S. 258.

477 In der Gestalt Herzls begegnet die in Taboris Texten öfters bemühte Vorstellung von den Juden als

„Gottes Zeitungsjunge[n]“ oder „Gottes Marktschreier[n]“ wieder, die sich auf das Urbild Moses bezieht.

Vgl. Die Kannibalen: I, 33, 61. In den Goldberg-Variationen wird Goldberg zum „Bote[n] Gottes“, als er auf Jays Geheiß in die Rolle des Moses schlüpfen muss; vgl. II, 316.

478 „[…] Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter den Bäumen im Garten. Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?“ (1. Mose 3,8-9).

479 Hans Robert Jauß weist auf den „ästhetische[n] Überschuß“ schon des biblischen Sündenfall-Textes hin, der die zahlreichen Zitationen in literarischen Texten miterkläre. Dieser ästhetische Überschuss entspringe den „Unbestimmtheitsstrukturen“ des Textes und insbesondere etwa der Ironie Gottes, der aufgrund seiner Allwissenheit die Frage ‚ubi es?‘ eigentlich nicht zu stellen brauche. Vgl. Jauß 1981.

zum Ausdruck kommende mangelnde Demut bestimmt auch die aufmüpfigen und herausfordernden Repliken, die Herzl dem als Gott auftretenden Lobkowitz entgegenhält:

LOBKOWITZ: […] Du bezweifelst meine Allwissenheit. Frechling. Schlägt zu.

HERZL: Wenn ich nicht zweifle, was bin ich dann?

LOBKOWITZ: Wenn du nur zweifelst, was bist du dann?

HERZL: Kein Theologe.

Lobkowitz: Ich auch nicht. (II, 146)

Dieses (nicht auf Adam zurückbeziehbare) Aufbegehren gegen Gott in Form des geschliffenen Arguments kennzeichnet durchgängig Herzls Verhalten. Gott bzw.

Lobkowitz ist ein ebenbürtiger Streitpartner, so dass die einander abwechselnden pointierten Repliken sich zu einer Art talmudischer ars disputandi fügen.480 Die rhetorische Ebenbürtigkeit der beiden in ihrer intellektuell brillianten dialogischen Dauerkonfrontation ist prinzipiell dazu angetan, das hierarchische Herr-Knecht-Verhältnis zu untergraben.

Zunächst besteht es gleichwohl, weil Herzl sich von Lobkowitz körperlich züchtigen lässt und in dieser Hinsicht eine Asymmetrie akzeptiert.481

Doch Herzl kündigt das hierarchische Verhältnis zu Lobkowitz auf, als dieser aus seiner Gottesrolle heraus Herzls mangelnde Gottestreue kritisiert:

LOBKOWITZ: […] Übrigens, wie viele Bibeln hast du heute nacht verkauft?

HERZL: Fünf.

LOBKOWITZ: Du lügst. Schlägt ihn.

HERZL: Drei.

LOBKOWITZ: Welche Fassung?

HERZL: Luthers.

LOBKOWITZ: Das nennst du Bibel?

HERZL: Ich nicht, er, Herr.

LOBKOWITZ: Verfickter Renegat, mein schönstes Gebot zu vergessen, dass ich dich auserwählt habe […], damit du mir hilfst, ein Königreich in diesem Schnee zu errichten […]. Aber ich rate dir, kehre noch heute um, zurück in meinen Schoß, unter uns, Schlomo, worauf wartest du? Er schlägt ihn.

HERZL: Lobkowitz, ich schreibe ein Buch.

Stille.

LOBKOWITZ kindlich: Lobkowitz? Hast du statt ‚Herr‘ Lobkowitz gesagt?

HERZL: Ja, Lobkowitz, ich habe statt ‚Herr‘ Lobkowitz gesagt. (II, 146f.)

Herzl-Moses hat demnach nicht Gottes Wort in Form der Thora verbreitet, sondern die Bibel in Form des Alten und des Neuen Testaments, und noch dazu in der Übersetzung des Reformators, der sich bekanntermaßen wiederholt judenfeindlich geäußert hat. Der Bund des auserwählten Volkes mit Gott, Thema der fünf Bücher Mose, wird vom Juden

480 Vgl. Bayerdörfer 1997, S. 17.

481 Die physische Gewalt des indignierten Lobkowitz steht nach Sandra Pott in der Gattungstradition der Farce und gehört damit zu den komischen Mitteln von Mein Kampf. Pott stellt allerdings eine

„Entbrutalisierung“ der Dramen- gegenüber der Prosafassung des Stoffs fest und hält diese für einen Hinweis darauf, dass Tabori insgesamt die farcenhaften Elemente in der Dramenfassung zurücknehmen will (vgl. Pott 1997, S. 257). In Kapitel 3.c gehe ich detailliert auf Potts Thesen zu Taboris Umgang mit der Bezeichnung

‚Farce‘ ein.

Herzl geringgeschätzt, wenn dieser das Neue Testament als Zeugnis des Neuen Bundes mitverkauft, so Lobkowitzens Einschätzung. Dass Lobkowitz ihm dieses Verhalten als Verrat vorwirft und ihn zugleich körperlich züchtigt, lässt Herzl das religiös überhöhte Herr-Knecht-Verhältnis noch am ersten Tag der fünf Tage umspannenden Dramenhandlung aufkündigen.

Indem Herzl das Verhältnis zu Lobkowitz enthierarchisiert, deckt er zugleich auf, dass sein Gegenüber in seiner ‚irdischen‘ Identität ebenfalls einen Verrat an Gottes Wort begangen hat. Ans Publikum gewendet sagt er:

[…] an diesem Morgen, in diesem Schnee, hatte ich es satt, Gott war seines Amtes enthoben, als Koch demaskiert. Dieser Gott ist natürlich nicht Gott, Sie wissen schon, wen ich meine, denn es gibt schließlich nur einen, Sein Name sei gepriesen, sondern Lobkowitz, ein kaputter Koscher-Koch, der von seinem Chef Moskowitz seines Amtes enthoben wurde, weil er Schmelzkäse und Tafelspitz gemischt hatte.

(II, 147)

Lobkowitz war also Koch koscheren Essens und verstieß gegen die mosaischen Speiseregeln, indem er Milchiges und Fleisch zusammengab. Die Pointe an dieser Klarstellung liegt darin, dass Herzl sein Gegenüber nicht nur als entlassenen Koch vorstellt, sondern gleichsam auch als Gott soeben entlassen hat, da er das „Spiel […] satt“ hat und Lobkowitz während des ganzen weiteren Geschehens bei seinem eigentlichen Namen ruft, statt ihn weiter „Herr“ zu nennen. Dass die ‚Amtsenthebung‘ durch Herzl, das Geschöpf, den Knecht, geschieht, macht deutlich, dass dieser seine bisherige Rolle nicht mehr zu erfüllen gedenkt. Die Aufkündigung seines Gehorsams lässt sich somit – je nach religionsphilosophischer Position – als Emanzipation oder als Abfall Herzls von Gott deuten; die dramaturgischen Funktionen der Anspielungen auf Moses und Adam konvergieren im Anlass für die ‚Amtsenthebung Gottes‘.482 Wenn Herzl solcherart Gott

‚entlässt‘ und Lobkowitz nur noch als sein gleichgeordnetes, menschliches Gegenüber akzeptiert, wird der Koch als ebensolcher ‚Renegat‘ erkennbar wie Herzl, denn das unkoschere Kochen stellt eine (mindestens) ebenso massive Verletzung göttlicher Gebote dar wie das Verbreiten der Lutherbibel.483

Aufschlussreich ist die Begründung für Lobkowitzens Missachtung der jüdischen Speiseregeln:

Warum, ich sag dir, warum, sagte Lobkowitz zu Moskowitz, weil ich sauer auf Moses bin, dass er vierzig Jahre lang durch die Wüste gewandert ist […] statt sich in

482 Jauß (1981, S. 30) führt aus, dass Adams Essen von der verbotenen Frucht in modernen Interpretationen überwiegend als „Anfangsereignis der Emanzipation der Menschheit aus selbstverschuldeter Abhängigkeit“

verstanden wird.

483 Dass Herzls Sündenfall nicht nur im allgemeinen Sinne einen Abfall von Gott bedeutet, sondern wie im dritten Kapitel der Genesis erotische Implikationen hat, wird in Kapitel 1.c erörtert.

Wien niederzulassen. Sei es, wie es sei, entgegnete Moskowitz, du bist entlassen. (II, 147)

Es wird suggeriert, dass Lobkowitz die in der Wüste entwickelten und als Zeichen für die Gottesfurcht im jüdischen Glauben zentralen Regeln verletzt hat, weil er ihre Befolgung unter den klimatischen Verhältnissen im mitteleuropäischen Wien für sinnlos erachtet.484 Wien, Ort des Bühnengeschehens und durch „Tafelspitz“ und „Beuschl“ mit kulinarischem Lokalkolorit versehen, wird zu Beginn der Handlung in insistenter Weise als verschneit beschrieben. Schon die ersten Regieanweisungen enthalten den Hinweis „Es schneit.“ (II, 145), und wenn Lobkowitz klagt, er habe Herzl aus dem brennenden Busch heraus gerufen, so verweist er auf die „Stille des Schnees“ (ebd.), die er anstelle einer Antwort vernommen habe. Noch einmal erwähnt Lobkowitz den Schnee, wenn er sich über Herzls Renegatentum beklagt, weil der als Bibelverkäufer nur die Luther-Bibel verkauft hat (vgl. II, 146f.). Wenn daher Herzl betont: „an diesem Morgen, in diesem Schnee, hatte ich es satt, Gott war seines Amtes enthoben“ (II, 147), so stellt auch er einen Zusammenhang her zwischen der Schwierigkeit, an Gott zu glauben, und der Tatsache, dass er sich als Jude in einer nicht-jüdischen Umgebung mit ganz anderen als den biblischen Lebensbedingungen bewegt. Der Schnee des winterlichen Wien erhält so zeichenhaften Charakter für die majoritär nicht-jüdische und sogar judenfeindliche Umgebung.

Lobkowitzens und Herzls Abfall von Gott sind parallel konstruiert: So wie Lobkowitz im winterlichen Wien die mosaischen Speisegebote nicht durchgehalten hat, so kann Herzl nicht allein vom Verkauf der Thora leben. Beide machen also Zugeständnisse an die nicht-jüdische Umwelt, der Koch durch Anpassung an die Kochgewohnheiten der Umwelt, der Buchverkäufer durch Anpassung an die Kaufwünsche der christlichen Kunden. Tabori thematisiert anhand seiner Figuren Herzl und Lobkowitz daher die innerjüdisch kontrovers geführte Diskussion über die angemessene Reaktion der europäischen Juden auf ihre im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgte gesetzliche Besserstellung gegenüber dem weitgehend entrechteten früheren Zustand (bzw. je nach Staat sogar auf die Gleichstellung mit Nicht-Juden) und auf den damit verbundenen Assimilationsdruck. Herzl und Lobkowitz reagieren

484 Dass die mosaischen Speiseregeln sich aus den klimatischen Verhältnissen und hygienischen Bedingungen ihrer Entstehung erklären lassen, ist eine der hergebrachten Hypothesen zu ihrer Genese. Diese Auffassung ist insbesondere von Mary Douglas bestritten worden, die ein rationales Muster zum Ausschluss bestimmter Tiere vom Verzehr zur Diskussion stellt. Vgl. Douglas 1966; vgl. ferner die kritische Einwände berücksichtigende Modifikation in Douglas 1972. – Für die Interpretation von Taboris Mein Kampf ist die wissenschaftliche Klärung der Genese bzw. der ursprünglichen Symbologie der Speiseregeln von untergeordneter Bedeutung. Hier geht es vorrangig textanalytisch um die Bedeutungen, die den Speiseregeln von den Figuren zugeschrieben werden.

darauf offensichtlich mit wenigstens punktueller Anpassung, aber beide empfinden dieses Verhalten auch als problematisch in religiöser Perspektive, als einen Abfall von Gott.485 Der von Herzl referierte Kommentar von Lobkowitzens ehemaligem Chef, Moskowitz, gewinnt in diesem Diskussionszusammenhang auch für den ‚unkoscheren‘ Bibelhändler Bedeutung (II, 147): „Es sei, wie es sei […].“ In Anlehnung wiederum an göttliche Formulierungen wie „Ich bin, der ich bin.“,486 die in der Thora mehrfach begegnen, spricht Moskowitz aus, was das Judentum seit dem Auszug aus Ägypten ausgezeichnet hat, nämlich das ‚kontrapräsentische‘ Festhalten an den Geboten. Jan Assmann charakterisiert dies folgendermaßen: „Dem Volk wird das Kunststück einer Erinnerung abverlangt, die durch keine ‚Rahmen‘ der gegenwärtigen Wirklichkeit bestätigt wird. […] Anpassung wäre Vergessenheit.“487 Die Einhaltung der göttlichen Gebote (zumal solch gewichtiger wie der Speisegebote) und die Bewahrung des jüdischen Anders-Seins in der Diaspora wird den Juden demzufolge von Gott zugemutet. „Religion als Erinnerung“ an die jüdische Identität (J. Assmann) wird in Taboris Mein Kampf als problematisch gewordene entfaltet, ja als eine Aufgabe, an der die beiden jüdischen Bühnenfiguren auf ihre je eigene Weise scheitern. Die

‚Amtsenthebung‘ Gottes in der allegorischen Gestalt von Lobkowitz und die Ausfüllung dieser Vakanz durch Hitler, der sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwingt, stehen in Mein Kampf in direkter Interdependenz. Das manifestiert sich auf der Ebene der Bühnenpräsenz der Dramenfiguren: Hitler löst mit seinem Erscheinen im Männerwohnheim Lobkowitz als Hauptbezugsperson Herzls ab.

b. Liebe macht blind: Feindesliebe und Nächstenhass

Aus den Wiener Jahren (also etwa von 1907 bis 1913) ist nur Weniges und zudem wenig Verlässliches über den sich zum Judenhasser wandelnden historischen Adolf Hitler überliefert. Tabori nutzt die biographische Lücke der Jugendjahre, indem er sie mit unhistorischer Fantasie ausfüllt.488 In „eine[r] Art directed dream“489 führt er Hitler und den Juden Herzl in der Zeit vor dem Verbrechen zusammen und lotet das denkbare

485 Sandra Pott (1997, S. 267) geht m. E. vorschnell davon aus, dass Schlomo Herzl sich durch das

„nationalistische Attribut“ des Zionismus auszeichne. Außer der Namensgleichheit mit dem Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, hat Schlomo Herzl nichts Zionistisches oder gar Nationalistisches an sich. Mir scheinen die Assoziationen ‚Herz‘, ‚Herzlichkeit‘ und die Reimwörter ‚Scherz‘ und ‚Schmerz‘ den vielversprechenderen Weg für die Deutung des Namens zu weisen.

486 Vgl. Birus 1986.

487 J. Assmann 1992, S. 225.

488 Dass Tabori als jüdischer Autor sich überhaupt mit der Person Adolf Hitler künstlerisch auseinandersetzt, macht allein schon eine Besonderheit seines Schreibens aus. Vgl. Rosenfeld 1985.

489 Tabori nach Palm/Voss 1987, S. 130.

Verhältnis der beiden zueinander aus. Tabori geht dabei so weit, das spätere Opfer den späteren Täter ‚lieben‘ zu lassen.

Von Beginn an ist Herzl bemüht, den aus der Provinz angereisten neuen Männerheimbewohner zu integrieren. Zwar kanzelt er ihn zunächst kühl ab, weil der

„Ausländer“490 Hitler ohne anzuklopfen ins Asyl hereinplatzt (vgl. II, 150f.), doch sobald Hitler diesen Fauxpas korrigiert hat, bietet Herzl Hitler als Zeichen des Willkommens ein Heißgetränk an:

HERZL: Möchten Sie Kaffee?

HITLER: Nein.

HERZL: Milch und Zucker?

HITLER: Beides. (II, 152)

Herzls Angebot ist nicht nur Ausdruck seiner Freigebigkeit, sondern markiert auch Hitlers Eintritt in die für den Provinzler neue Welt der Hauptstadt Wien, zu deren kulinarischen Markenzeichen seit den beiden Belagerungen durch die Türken guter Kaffee gehört.491 Daher gilt Hitlers trotzige Ablehnung auch nicht nur dem Anbieter des im Winter und zumal nach langer Reise wohltuenden Heißgetränks, sondern auch dem Kaffee als türkischem Import-Getränk, als Getränk des großstädtischen, fremde kulturelle Einflüsse adaptierenden Lebens. Es ist deshalb um so bemerkenswerter, dass Hitler bei Milch und Zucker zugreift: Das im Grunde ja sinnlose Annehmen der bloßen Zutaten zum eigentlichen Getränk, zum verschmähten Kaffee, produziert einen komischen Effekt;

darüber hinaus sind aber auch die mit Milch und Zucker verbundenen Assoziationen wichtig, denn beide Nahrungsmittel befriedigen regressive Bedürfnisse nach Geborgenheit (bei der Mutter), Wärme und Umsorgtwerden.492

Nachdem Herzl Hitler wohlmeinend in die Hausregeln und in allerlei Alltagskniffe eingeweiht hat (vgl. II, 152f.), unternimmt er einen ersten Versuch der Verbrüderung mit dem Ankömmling, indem er, ausgehend von Hitlers vermeintlich jüdischem Namen,493 eine

Nachdem Herzl Hitler wohlmeinend in die Hausregeln und in allerlei Alltagskniffe eingeweiht hat (vgl. II, 152f.), unternimmt er einen ersten Versuch der Verbrüderung mit dem Ankömmling, indem er, ausgehend von Hitlers vermeintlich jüdischem Namen,493 eine

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 147-166)