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Essen zwischen sinnlicher Konkretion und Metaphorik der Verdauung

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 40-43)

II. Taboris Theaterkonzeption: Unverdaute Trauer und sinnliche

3. Essen zwischen sinnlicher Konkretion und Metaphorik der Verdauung

Vor dem Hintergrund der jüdischen Leidenserfahrung in der Shoah erkennt Tabori bei sich und anderen „unverdaute Trauer“164. Er will mit seinem Theater die ‚Verdauung‘ im Sinne einer Katharsis fördern, und deshalb besteht er auf der schonungslosen Thematisierung auch der kreatürlichen Momente seiner Dramenfiguren:

Ich hoffe, daß ich in einem Land, das der Welt die Walpurgisnacht und Luther auf dem Abtritt geschenkt hat, nicht die heilende Kraft eines Theaters zu verteidigen brauche, das nachdrücklich darauf besteht, himmlische und exkrementale Schau zu vermischen, und das auf vornehme Umschreibung und Propaganda verzichtet.

Schließlich heißt sacer nicht nur heilig, sondern auch unrein. Heilige werden nicht als solche geboren, sondern vom Leben gemacht, Helden haben Gedärme, und einige

159 Tabori 1975/76, S. 131; Hervorhebung D.B.

160 Vgl. dazu ausführlicher Tabori 1975/76, S. 130f.

161 Tabori 1981a, S. 20.

162 Tabori 1981a, S. 37. – Zur Verbindung von Therapie und Theater vgl. auch die ausführlichen Äußerungen Taboris in: Leiser 1987, S. 107.

163 Tabori 1981a, S. 7.

164 Tabori 1981a, S. 34.

unserer ältesten Mythen, vom ersten Vatermord bis zum Abendmahl, haben den gedeckten Tisch zum Mittelpunkt.165

Tabori beruft sich hier auf die Traditionselemente der deutschen Literatur, die sich durch Derbheit auszeichnen und dabei doch Fragen von metaphysischer Tragweite verhandeln,166 um seine Vermischung von „himmlische[r] und exkrementale[r] Schau“ zu rechtfertigen.

Außerdem macht er zur Legitimierung der potentiell schockierenden Momente seines Theaters das europäische Mythenerbe geltend, das dem Kreatürlichen eine herausragende Stellung zugestehe. Tatsächlich tritt diese schockierende Kreatürlichkeit in Taboris Holocaust-Dramen häufig im Zusammenhang mit dem Essen auf, und zwar sowohl was die Art der Speisen (Menschenfleisch in den Kannibalen und Mutters Courage) als auch was das Verhalten beim und nach dem Essen (tierhaftes Schlingen in den Kannibalen, Erbrechen in Mutters Courage, brutales Zwangsfüttern in der Ballade vom Wiener Schnitzel) und die Ausscheidung (Urinieren in den Kannibalen, verstopfte Figuren in Mutters Courage, Mein Kampf und der Ballade) angeht.

Dass Tabori sich damit immer wieder auch den Vorwurf einhandelt, gegen die Grenzen der Schönheit und des guten Geschmacks zu verstoßen, stört ihn nicht:

Schönheit und ihre Theorien sind eine Frage des Geschmacks und interessieren mich nicht besonders. Krankheit ist eben nicht hübsch. Unsere Eingeweide, auch in bestem Zustand, sind kein Augen- und Nasenschmaus.167

Die von Tabori wie von den Mitscherlichs diagnostizierte „Krankheit“, das Nicht-verarbeitet-Haben der Shoah, erfordert nach Taboris Ansicht ein präzises Wahrnehmen der Vergangenheit, auch und gerade in ihren besonders hässlichen und abstoßenden Momenten. Dass Tabori immer wieder gezielt Ekelgefühle bei seinem Publikum weckt, steht aus diesem Grunde vollkommen im Einklang mit seinem Bestreben, die ‚Haut zu durchdringen‘ und sinnlich wirksames, für die Zuschauer körperlich fühlbares Theater zu präsentieren.

Wichtig ist Tabori die oben zitierte Auffassung von der „heilende[n] Kraft des Theaters“, die sich nur entfalten könne, wenn das Theater dem Publikum „monströse Mythen“168 biete, denn „die Sprache bleibt, wenn sie nicht die Haut durchdringt und einen Schauer das

165 Tabori 1981a, S. 37.

166 Man denke etwa an die heilspädagogisch legitimierten sexuellen und skatologischen Zoten in mittelalterlichen Krämer- und Teufelsspielen; vgl. Linke 1987. – Tabori spielt konkret an auf das kuriose Theaterstück Doktor Luther auf’m Abtritt, das vorgeblich aus der Feder eines Pater Ignatius Rivero stammt, tatsächlich aber den Maler und Kupferstecher Balthasar Anton Dunker zum Verfasser hat: Das Stück zeigt den scheiternden Versuch des subalternen Teufels Alraun, Luther im Auftrag des Satans vom Reformieren abzuhalten. Der derbes Reden (und Verhalten!) nicht scheuende Luther empfängt den als Magister verkleideten Alraun auf einem offenen Abtritt sitzend, lehnt dessen Bestechungsversuch ab und vertreibt den sich schließlich zu erkennen gebenden Teufel, indem er ein Tintenfass nach ihm wirft. Vgl. Doktor Luther 1920.

167 Tabori 1993a, S. 18f.

168 Tabori 1993a, S. 16.

Rückgrat hinunterschickt, ein Gestammel von Blablas.“169 Wirksames Theater, das über das

‚Blabla‘ hinausgeht, verabreiche dem Publikum „eine Diät und einen Einlauf und ein Purgatorium“170 und bewirke dadurch eine Katharsis. In diesem Sinne versteht Tabori seine Aufgabe als Regisseur wie die eines Arztes:171

Es ist meine hippokratische Aufgabe, unser Sensorium aufzutauen, indem ich uns helfe, besser zu sehen, zu hören, zu riechen und zu fühlen. […] Fast alle meine Palliativa sind primitiv; ein gutes Abführmittel, d.h. ein gutes Lachen, ein gutes Weinen, selbst ein gutes Gähnen.172

Das bewusste und umfassende Einsetzen des ganzen Körpers und besonders des Sinnesapparates der Schauspieler in einem auf Sinnlichkeit und Emotionalität ausgerichteten Theaterkonzept soll die Zuschauer im übertragenen und auch im wörtlichen Sinne ‚berühren‘. Der mitunter geäußerten Sprachskepsis Taboris (und dem ihr inhärenten Anti-Rationalismus)173 entspringt dieses Programm der „Berührung von Körpern“174. Ob sie gelingt, zeigt sich wiederum an körperlichen Reaktionen (Lachen, Weinen, Gähnen).

Die Sichtung der programmatischen Äußerungen Taboris zum Theater hat zum einen gezeigt, dass das Essensthema ein metaphorisches Sprechen über den Holocaust und die Aufgaben von Holocaust-Theater erlaubt und damit poetologischen Reflexionen Ausdruck geben kann (‚unverdaute Trauer‘, ‚Einlauf‘). Zum anderen erwies sich, dass Tabori das Essen als ein auf Körperlichkeit verweisendes Darstellungsmittel innerhalb der Theaterstücke konzipiert: Im Rahmen eines Holocaust-Theaters, das sich von kreatürlich-sinnlichen Momenten kathartische Wirkungen verspricht, erklärt und legitimiert sich diesem Konzept zufolge die herausgehobene Stellung des Essens als ein probates Mittel, die Leiden der Shoah-Opfer und die Nachwirkungen der Verbrechen an konkreten Figuren zu vergegenwärtigen. Das Essenthema ist nach diesem Verständnis daran beteiligt, „den Zuschauer mit Begebenheiten [zu konfrontieren], die er lieber nicht wahrhaben will“175.

169 Tabori 1993a, S. 19.

170 Tabori 1993a, S. 36.

171 Taboris Auffassung der Katharsis als eines medizinischen Vorgangs findet sich schon in Aristoteles‘

Poetik. Vgl. dazu Manfred Fuhrmanns Nachwort in Aristoteles 1982, S. 164f. – Die einige Zeit verpönte Auffassung des Dichters als eines Arztes bzw. Seelsorgers kann in den 1970er Jahren offenkundig wieder vertreten werden; sie ist wieder ‚verfügbar‘ geworden.

172 Tabori 1993a, S. 18.

173 Vgl. etwa Tabori 1981a, S. 19f., S. 202ff.

174 Tabori 1981a, S. 20.

175 Tabori 1981a, S. 202.

III. Das Kulturthema Essen in Drama und Theater. Grundlagen und

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