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Götter und Köche

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 166-172)

IV. Mein Kampf : Von der Verstopfung zur Endlösung

2. Götter und Köche

a. Gastfreundschaft und Gottesdienst

Schon bei Hitlers erstem, noch stummem Erscheinen im Bühnenhintergrund dreht sich das Gespräch um Gott und zugleich um einen Ort der freundlichen Bewirtung, denn Lobkowitz sagt in seiner Gottesrolle zu Herzl, der sich von Antisemiten bedrängt sieht (II, 146): „Wenn du lernst, mich zu fürchten, brauchst du niemanden in den Kaffeehäusern zu fürchten.“ Die Figur Hitler wird damit von Beginn an in den Zusammenhang von Glauben, Gottesfurcht und Gastronomie eingebunden. Seine ersten Worte fallen, als Herzl über den Bedeutungsverlust Gottes und seines Namens sinniert:

HERZL: […] Sein Name ist unaussprechlich in Wien, zur Blasphemie verkommen, er wird nur noch, vergeblich, erwähnt als Seufzer oder Fluch oder als Beschwörung, HERRGOTT NOCH AMOAL oder ACH GOTTCHEN oder...

HITLER eben aufgetreten: Grüß Gott.

HERZL: Wenn du ihn siehst. (II, 148)

Hitlers in Österreich üblicher Gruß beweist allerdings nicht Herzls These vom Bedeutungsverlust des Gottesnamens, sondern enthält das politische Programm des Ankömmlings, das man ausführlicher wie folgt formulieren könnte: Hitler wird später die Juden ‚ins Jenseits befördern‘, wo diese, wenn sie ihn sehen, Gott grüßen können.

Herzl beschwert sich bei Hitler über dessen unhöfliches Hereinplatzen:

HERZL: Ich hätte Freunde bewirten können, zufällig habe ich an einem Buch gearbeitet, bis Gott mich unterbrach.

HITLER: Wer?

HERZL: G-o-t-t.

HITLER: Ist tot.

LOBKOWITZ: Denkste.

HITLER: Wetten?

HERZL: Schon verloren. (II, 151f.)

Hitler behauptet mit Nietzsche, Gott sei tot, was nicht nur von Lobkowitz (dessen Gottesrolle dies nahelegt) bestritten wird, sondern auch von Herzl, trotz aller Zweifel und allen Haderns mit seinem Gott. Besondere Aufmerksamkeit verdient Herzls Bemerkung

„bis Gott mich unterbrach“, denn tatsächlich ist Herzl ja von Hitler unterbrochen worden, der das Männerheim betreten und „Grüß Gott“ gesagt hat. Selbst wenn man Hitler als von Gott geschickt und Gott als eigentlichen Urheber der Unterbrechung deutet, gilt es festzuhalten, dass der Dramentext Hitlers Erscheinen auf der Bühne und damit im Weltgeschehen eng an das Walten Gottes in der Geschichte anbindet. Daher kann man diesen Satz auch so deuten, dass Hitler sich an Gottes Stelle setzt, die seiner Meinung nach

vor der Folie des Großinquisitors aber nicht plausibel gelingen kann, zeigt neben anderen Argumenten wie den am Kuss beteiligten Figuren abermals der Umstand, dass Gretchen Herzl auf die Nase küsst (der Heiland küsst den Großinquisitor auf „die blutleeren neunzigjährigen Lippen“; Dostojewski 1994, S. 428).

ja vakant ist. Sie ist – von Hitlers Figurenperspektive abgesehen – auch insofern vakant, als Herzl Lobkowitz zum Zeitpunkt von Hitlers Auftritt bereits als Gott ‚entlassen‘ hat.

Diese Konstellation wird im weiteren Verlauf der Handlung immer deutlicher. Denn je wichtiger Hitler als Bezugsperson für Herzl wird, desto mehr zieht Lobkowitz sich zurück, bis er schließlich seinen Abschied bekannt gibt. In just diesem Moment kommt Hitler von der nicht bestandenen Akademie-Prüfung zurück:

HITLER: Um Shakespeare zu zitieren: Wo warst du?

HERZL: Hier, um Shakespeare zu zitieren, war ich. (II, 165)

Dieses Frage-Antwort-Spiel nimmt fast wörtlich den ersten Wortwechsel zwischen Lobkowitz/Gott und Herzl/Adam wieder auf (vgl. oben Abschnitt 1.a). Hitler setzt sich mit seiner Frage also unverhohlen an die Stelle Gottes, der Rechenschaft von seinem Geschöpf verlangt. Erst ganz am Ende der Dramenhandlung, wenn Hitler an der Seite von Frau Tod die Bühne wieder verlässt, “taucht [Lobkowitz] aus einer dunklen Ecke auf”:

HERZL: Wo bist du gewesen?

LOBKOWITZ: Ich war hier, die ganze Zeit hier, aber du hast vergessen nachzuschauen. (II, 203)

Hier dreht sich das Frageverhältnis um: Lobkowitz/Gott wird gefragt, wo er gewesen sei, denn er soll zur Rechenschaft gezogen werden für das vorausgegangene katastrophische Geschehen. Die Umkehrung der Eingangsfrage des Stücks (II, 145) bzw. ihrer Variation durch Hitler (II, 165) spielt zudem auch auf die bereits zuvor einmal alludierte Frage des sterbenden Christus „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ an. Denn trotz des angekündigten Abschieds verlässt Lobkowitz Herzl nur scheinbar; Gott ist zwar verborgen im katastrophischen Geschehen des blutigen Massakers, aber doch präsent. Bei diesem Massaker schwingt sich Himmlischst, der Freund Hitlers, auf dessen Geheiß zum Herrn über Leben und Tod auf und schlachtet als Koch das Huhn Mizzi und bereitet es zu.

b. Das stellvertretende Opfer: Huhn Mizzi

Der fünfte Akt von Mein Kampf kann, wie Sandra Pott richtig bemerkt hat, als Katastrophe im Sinne der Freytagschen Pyramide angesehen werden. Aber nicht oder wenigstens nicht allein im gemeinsamen Abgang Hitlers mit Frau Tod zwecks zukünftiger ‚Zusammenarbeit‘

besteht – wie Pott meint – diese Katastrophe. Sie würde damit in das imaginär auf die Dramenhandlung folgende, aus Sicht der Rezipienten historisch schon vergangene Geschehen hineinverschoben.516 Katastrophisches vollzieht sich aber schon auf offener Bühne: Mizzi, kraft ihrer Ähnlichkeit mit Herzl von den anderen Bühnenfiguren als

516 Pott wendet die Freytagsche Pyramide (mit den Hauptschritten Einleitung, Steigerung, Höhepunkt, Fall/Umkehr, Katastrophe) insgesamt überzeugend auf die Aktfolge von Mein Kampf an, macht als

Stellvertreterin des Juden eingeführt, wird geschlachtet und als „Hühnerkotelett Mizzi in delikater Blutsauce auf Wildart“ (II, 199) zubereitet.

Von Beginn an sind Hitlers antisemitische Ausfälle immer begleitet von verbalen oder physischen Angriffen auf Herzls Nase, das tertium comparationis im Vergleich mit Mizzi, oder auf das Huhn selbst. Nachdem Hitler mit Anspielung auf Herzls Nase dessen Ausländer-Status behauptet hat (II, 151), nachdem er mit Hinweis auf die Nase jede Gemeinsamkeit mit dem Juden negiert hat (II, 156), nachdem er Herzl für sein Scheitern bei der Akademie verantwortlich gemacht und ihm dabei aus Wut in die Nase gekniffen hat (II, 165) und nachdem er die Assoziationskette Mizzi-Geier-Todesvogel-Jude gebildet hat (II, 181), gebärdet sich Hitler nicht nur Herzl, sondern auch der Henne gegenüber immer aggressiver:

[…] Diese verdammten Juden machen aus jedem Ziegenfurz eine Predigt.

Mizzi kommt vorbei, Hitler wirft die Bibel nach ihr.

Paß bloß auf, sonst bestelle ich dich zum Abendessen. (II, 186)

Hitlers Aggression ist mit antireligiösen, insbesondere antijudaistischen Affekten beladen und lässt erkennen, dass das Töten Mizzis in Stellvertretung ‚dieser verdammten Juden‘

geschehen wird. Die Ursache für die Verstopfung, die ins „Vorblutungsstadium der Endverstopfung“ eingetreten ist, wird von Hitler nicht zufällig in „zu viele[n]

Hühnersuppen“ ausgemacht (II, 187). Damit verdichten sich die Antizipationen von Mizzis stellvertretendem Tod zu hinreichender Deutlichkeit: Die ‚Endlösung‘ wird an Mizzi vorexerziert.

Hitlers Kamerad Himmlischst, eine superlativisch übersteigerte Karikatur des Reichsführers SS Himmler, bereitet wie ein Fernsehkoch auf der Bühne den „strangulierten Leichnam“ als „Hühnerkotelett Mizzi in delikater Blutsauce auf Wildart“ (II, 199) zu. Dass das Tier in seinem eigenen Blut gekocht wird, stellt in jüdischer Perspektive eine krasse Verletzung der mosaischen Speiseregeln dar.517 Aber nicht in diesem Sakrileg beim Kochen liegt die eigentliche Brutalität des szenischen Vorgangs, sondern im Vollzug des von den Kaschruth vorgeschriebenen Schächtens beim Töten Mizzis: „Man sticht sie ab,“ erläutert Himmlischst synchron zu seinem Tun den Schlachtvorgang, „indem man sie bei beiden Flügeln packt, ihnen den Hals zurückbiegt und nahe am Kopf so tief einschneidet, daß das Blut fließt.“ (II, 200)

Diese Schlacht- und Kochszene enthält strukturelle und funktionale Parallelen zum Einsatz von Puppen in anderen taborischen Stücken. Birgit Haas analysiert dessen Funktionen anlässlich ihrer Interpretation der Shylock-Improvisationen wie folgt:

Katastrophe aber die „Anstellung Hitlers bei Frau Tod“ namhaft. Vgl. Pott 1997, S. 264. – Vgl. ferner Freytag 1965.

Als visueller Kommentar des Dialogs machen die leblosen Gegenstände die Verdinglichung der Menschen anschaulich. Die Puppen sind symbolische Ausdrucksmittel, die eingesetzt werden, um unmittelbar auf die Sensibilität des Zuschauers zu wirken. Statt Botenbericht oder Mauerschau wird das Berichtete auf verfremdend-einfache, reduktionistische Weise gezeigt. Das Theater als Raumkunst im Sinne Artauds zeigt sich in der Visualisierung der latenten Gewalt, die in offen gezeigte Grausamkeit umschlägt. Zugleich transportieren die Puppen einen Antinaturalismus, der dem Zuschauer eine ästhetische Distanz zum Dargestellten nahelegt.518

Analoges lässt sich von der Schlachtung Mizzis sagen: Das Huhn, von Gretchen und Hitler als ein Herzl ähnliches Wesen eingeführt, symbolisiert in dieser Szene die jüdischen Holocaust-Opfer. Die Performanz des Schlachtens ist ein visueller Kommentar zu Himmlischsts Vortrag und macht anschaulich, dass die Juden von den Nationalsozialisten nicht als Menschen betrachtet und im Holocaust wie ‚Vieh‘ abgeschlachtet wurden.519 Der Holocaust wird auf verfremdend-einfache, reduktionistische Weise gezeigt, d.h. die verborgene Gewalt des massenhaften Mords an den Juden wird offen auf der Bühne am Huhn vorgeführt. Zugleich ist dieses einzelne Tier, insofern es Millionen von Menschen vertritt, für die Zuschauer leicht als antinaturalistisches Zeichen zu erkennen; es vermittelt seinen Reduktionismus mit und erfüllt dadurch seinen Darstellungszweck. Wegen der Stellvertretungsfunktion Mizzis wirkt die von Himmlischst vorgeführte Methode des Schächtens besonders schockierend.520

517 Vgl. 3 Mos. 19, 26.

518 Haas 2000, S. 118. – Prägnant ist der Einsatz von Puppen, wie Haas ihn deutet, auch in den taborischen Goldberg-Variationen, wo die Figur der Bühnenbildnerin einer Lammpuppe die Beine bricht, um eine Variante der zu inszenierenden Kreuzigung zu demonstrieren. Taboris Uraufführung spielte den Effekt dieser Szene voll aus durch ein markerschütternd knackendes Geräusch beim Brechen der Beine.

519 „Blut, viel Blut, wenn‘s richtig blutet, ist es gut“ (II, 200), lautet der erste einer Reihe von Merksätzen, die Himmlischst in das von ihm vorgetragene Rezept einstreut. Das ist als historische Anspielung auf die erste Phase der Judenvernichtung zu verstehen, in der die sowjetischen Juden von deutschen Einsatzgruppen direkt hinter den Frontlinien erschossen wurden. Später sagt Himmlischst (ebd.): „Wenn‘s jetzt noch blutet, ist‘s nicht gut.“ Dem entspricht historisch der Übergang zur Tötungsmethode durch Gas. Himmlischst fährt fort (II, 200f.): „Wie fängt man Blut auf, daß es nicht stockt? Man hält das abgestochene Tier an den Füßen hoch, daß das Blut bei der Stichwunde abfließen kann, fängt das Blut in einer Schale auf, man rührt es in Essig, damit es nicht stockt.“ Diese Sätze können auf die Schwierigkeiten bezogen werden, die z. B. in Auschwitz bei den Erschießungen im Hof des Blocks 11 auftraten, weil das Blut der Erschossenen sich an der Erschießungsstelle ansammelte. Damit das Blut nicht mehr ‚stocke‘, grub man an einer Seite des Hofes Abflussrinnen; vgl. Piper 1981, S. 110f. Insofern die Merksätze von Himmlischst sogar die einzelnen Phasen der Ermordung der Juden wiedergeben, ist die Handlungssequenz der Schlachtung und Zubereitung Mizzis als Allegorie des Holocaust anzusehen.

520 Das Darstellungspotential solcher ‚stellvertretender Morde‘ auf der Bühne scheint Tabori bei seiner allerersten Inszenierung erkannt und daraufhin in seine eigenen Stücke übernommen zu haben: Bei seiner Regie von Strindbergs Fräulein Julie (1958 in New York) hat Tabori das Töten von Julies Kanarienvogels durch Jean („ein indirekter Mord an ihr“, wie Tabori feststellt) so inszeniert, dass zuerst ein echter Kanarienvogel auf der Bühne war, der für den Mord gegen eine Requisite ausgetauscht wurde. Das Ergebnis war ein schockiertes „Raunen“. Vgl. Taboris Auskünfte dazu in: Ohngemach 1989, S. 130f. – Die Inszenierung von Mein Kampf am Dortmunder Schauspielhaus (Uraufführung 1987, Regie: Guido Huonder), die wegen des großen Erfolgs bis weit in die 1990er Jahre gespielt wurde, wandte dasselbe Verfahren an:

Zuerst sah das Publikum ein lebendes Huhn auf der Bühne; im Gedränge beim Fangen Mizzis wurde das lebende Huhn gegen ein totes ausgetauscht.

Obwohl die Shoah nur mittelbar an einem Huhn und weil sie eben dadurch in der szenischen Performanz vorgeführt werden kann, wirkt diese Szene, entsprechend den Ausführungen von Haas, „auf die Sensibilität“ des Publikums. Dazu tragen das Auseinanderreißen des Tierkörpers, die beim Braten entstehenden Geräusche und Gerüche, die gegenseitige Verstärkung von brutalem Wort und brutaler Tat sowie die pervertierte Rhetorik Himmlischsts bei, der wie ein Show-Koch sein Tun erläutert. Sie spielen in ihrer Wirkung auf den Seh-, Hör- und Geruchssinn des Publikums zusammen und lassen zwar nicht die Shoah, aber immerhin die für sie einstehende brutale Szene auf der Bühne in drastischer Weise sinnlich erfahrbar werden. Die Intensität dieser Handlungssequenz wird gesteigert und die mögliche Distanz des Publikums zum Bühnengeschehen wird vermindert, weil Himmlischst das Publikum direkt anspricht: „Ich serviere Ihnen heute [...]“ (II, 199; Hervorhebung D.B.). Die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen dramatis personae bzw. Schauspielern und Publikum wird dadurch aufgeweicht. Dies ist umso bedeutsamer, als auf der Bühne mit der Huhnschlachtung und -zubereitung ein liminaler, Ritualen ähnlicher Vorgang abläuft: Die den fünften Akt einleitenden Szenenanweisungen, denen zufolge sich das Geschehen am „Bußtag“ abspielt, eine „feierliche Stimmung“ herrscht und der Raum sich „wie im Traum“ verwandelt (II, 195), signalisieren, dass die Schlachtung und gastronomische Zubereitung Mizzis sich durch Liminalität auszeichnet. Himmlischst tritt dabei wie der Hohepriester des Rituals auf, zumal er die Handlungssequenz mit den Worten „Frohes Fest!“ (II, 196) einleitet.

Das Theaterpublikum nimmt daher an einem Geschehen teil, das auf paradoxe Weise zugleich der Verheißung und der Erinnerung dient. Insofern die Bühnenhandlung vor der Shoah stattfindet, fungiert das Massaker an Mizzi innerhalb des Dargestellten als negative Verheißung der künftigen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden; insofern die Handlung vor einem Post-Shoah-Publikum abläuft, vergegenwärtigt die szenische Gewalt verfremdend und reduktionistisch die historisch schon vergangene. Die Markierung der Liminalität weist dabei vor allem auf den Antinaturalismus und die Verfremdetheit des szenischen Vorgangs hin, der dadurch als eine aus der zeitlichen Logik der Bühnenhandlung herausspringende Sequenz besonderes Gewicht bekommt.

Es gibt allerdings keine schlüssige transzendente Sinngebung für das mittelbar Dargestellte, die Shoah, obwohl religiöse Sinnstiftungsangebote angesprochen werden: Mizzi kann als Kappara angesehen werden, d.h. als Sühnopfer in Gestalt eines Huhns, das fromme Juden am Tag vor Jom Kippur schächten.521 Wie die Kappara stellvertretend die Sünden des

521 Dieser Brauch ist allerdings kein Gebot, wird nicht im Talmud, sondern nur in den Schriften des Geonim erwähnt und nur von europäischen und amerikanischen Juden geübt. – Vgl. den Abschnitt „Erew Jom Kippur“ in: Payer 1999.

Menschen übernimmt, bevor dieser sich mit seinem Gott aussöhnen kann, so stirbt Mizzi in Mein Kampf stellvertretend für den als Sünder eingeführten Herzl und für die Juden überhaupt. Die religiösen Bezüge, die der Dramentext herstellt, beschränken sich aber nicht auf den genannten jüdischen Ritus. Sie werden ergänzt und konterkariert durch Anspielungen auf das Passahmahl und die Passionsgeschichte. Im Brauntünchen der Wände durch die „Tiroler Dorfdeppen“ (II, 195) und im Zerhacken des Huhns lassen sich Inversionen der Exoduserzählung erkennen: Die Juden haben am Vorabend des Auszugs aus Ägypten ihre Türpfosten mit Blut bestrichen, um von der zehnten Plage verschont zu werden; das Passahopfer ist ein am Feuer geröstetes Lamm, kein gebratenes Huhn. Zu den Anspielungen auf die Passion gehören der Hahnenschrei zu Beginn der Handlung (II, 145), der in scherzendem Ton probeweise vorgeschlagene Titel „Ecce Schlomo“ für Schlomo Herzls Buß-Buch (II, 149) und schließlich der Umstand, dass Herzl Mizzis Opfertod als Vorspiel zu seiner eigenen „Kreuzigung“ versteht (II, 201).

Es fällt auf, dass die von Himmlischst vollzogene exemplarische Opferung des Huhns weder ganz in den jüdischen Deutungsmustern der Kappara oder des Passahfestes noch im christlichen der Kreuzigung aufgeht. Denn der jüdische Kappara-Brauch findet am Tag vor dem Jom Kippur statt, während Mizzis Schlachtung am „Bußtag“ (II, 195) vorgenommen wird. Für eine schlüssige Modellierung des Bühnengeschehens nach dem Passahfest – und sei es in Form einer Inversion – gibt es zu wenige Parallelen.522 Und obgleich die genannten Fingerzeige recht explizit auf den Vergleich mit der Kreuzigung hindeuten, sprechen die Kappara-Parallelen, die Passah-Inversionen und zahlreiche phänomenologische Inkongruenzen zwischen Mizzis Tod und der Passion Christi auch gegen eine Festlegung auf dieses Deutungsangebot. Das Bühnengeschehen und die von ihm symbolisierte Shoah werden demnach zwar auf religiöse Sinngebungsmuster bezogen, aber keine der angebotenen Deutungen kann als vorrangig oder gar gültig angesehen werden. Am Ende steht die Erkenntnis, dass religiöse Folien das Schreckliche nicht zu erklären und damit erträglicher zu machen vermögen.

Tabori führt die drastische liminale Szene schließlich in die Immanenz zurück: Frau Tod tritt erneut auf und rettet Herzl vorerst, indem sie verfügt (II, 202): „Finita la commedia.“523 Als sie mit ihrem neugewonnenen Mitarbeiter Hitler abgetreten ist, fordert Lobkowitz Herzl auf, einen der Hühnchenschenkel zu essen:

522 Haas (2000, S. 160-170) führt außer den oben genannten noch einige weitere Elemente an, die sie nicht immer überzeugend als Inversionen des Passahmahls deutet. Sie vermischt dabei insbesondere Referenzen auf das Passah- mit solchen auf das letzte Abendmahl, ohne dies zu reflektieren, etwa wenn sie zu dem Schluss kommt: „In diesem Sinn lässt sich Mein Kampf als Anti-Passionsspiel lesen, an dessen Schluss nicht die Auferstehung, sondern eine Apokalypse steht.“ (S. 168)

523 Zu den gattungspoetologischen Implikationen dieser Feststellung vgl. unten Abschnitt 3.c dieses Kapitels.

Es riecht nach dem Wienerwalde. Er nimmt zwei Schenkel, bietet Schlomo einen an. […]

Iß, Söhnchen, nicht aus Hunger, sondern in der Hoffnung, eine Kraft in dich aufzunehmen, die du in all den kommenden Jahren, wenn das Schuhplatteln wieder zum Donnern geworden ist, brauchen wirst. Du wirst es brauchen. (II, 203)

Lobkowitz erinnert Herzl daran, dass Essen das Aufnehmen von physischer und ideeller Kraft und Energie bedeuten kann, die das Überleben ermöglichen. Der (anachronistische) Hinweis auf den ‚Wienerwald‘, d. h. auf die im Nachkriegsösterreich erfolgreiche Restaurantkette mit ihrer Spezialisierung auf Geflügelgerichte, holt die zuvor von Herzl gewaschenen und mit einem Kaddisch geehrten „Überreste von Mizzi“ (II, 203) wieder zurück in die Banalität eines gebratenen Huhns.524 Keine transzendente Erlösungsgewissheit bestimmt dieses Mahl, sondern die Notwendigkeit der Stärkung für die mit Gewissheit kommende diesseitige Bedrohung.525 Indem er „ißt, würgt, weint“ (II, 203), schließt sich Herzl Lobkowitzens pessimistischer Zukunftsvision an und findet in seine Gehorsam verlangende Rolle des Knechts bzw. des Geschöpfs zurück. Lobkowitz erlangt damit zuletzt seine Gottesrolle wieder, die ihm zwischenzeitlich Hitler und sein Helfer Himmlischst streitig gemacht haben.

Im Dokument Unverdaute Trauer (Seite 166-172)