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3.2 Die Quest von Raoul Schrotts Figuren

3.2.1 Ungeschriebene Geständnisse in Finis Terrae

Höhnels Quest verläuft entlang zweier Routen: Heft eins und zwei beschreiben geographische Reisen. Das erste Heft besteht aus Pytheas’ Entdeckerreise entlang der Atlantikküste nach Nor-den.448 Das zweite Heft stellt Höhnels Nachreise dar, während der er über die Ereignisse seines Afrikaaufenthaltes mit Schiaparelli in seinen Briefen an diesen reflektiert und von seiner Liebes-beziehung zu Sofia berichtet. In Heft drei folgt Höhnel den Spuren seiner eigenen Erinnerung an seine Kindheit in Afrika, die ihn zu seinem inneren Konfliktfeld führt, das sich zwischen seiner homoerotischen Beziehung zu Schiaparelli und seiner bisexuellen Beziehung zu Sofia aufspannt.

Die geographische Entdeckungsthematik wird hier mit der Entdeckung der Libido enggeführt.

Dies ist eine der Thematiken von Finis Terrae, die sich in Tristan da Cunha fortsetzt, und so die beiden Romane verbindet. Sexuelle Scham- und Schuldgefühle werden mit der Weltentdeckung als Grenzüberschreitung und später mit der imperialen Kolonialschuld verbunden, die wiederum mit den historischen Entdeckern korreliert. Die Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte wird in Finis Terrae in Heft vier fortgesetzt, wo es um die Afrikareise des Großvaters geht, und um die Forschungsunternehmungen am Turkana-See im 20. Jahrhundert.

Erzählerischer Ausgangspunkt der Engführung von Libido und geographischer Entdeckung ist die Enzyklopädie, der Brockhaus, mit dem sich der heranwachsende Ludwig Höhnel beschäftigt, und in dem er sowohl auf Pytheas von Massalia stößt als auch auf die Anatomie der Frau. Die erotischen Gefühle Frauen gegenüber sind aber immer zwiegespalten zwischen triebhafter Lust und Abneigung oder Ekel. Ursache dieses Gefühls ist die Angst des Kindes, beim Betrachten der Bildtafel über die Anatomie des weiblichen Körpers vom Vater erwischt zu werden. Aber auch die im alten Weltbild als letzter Ort der bekannten Welt galt.“ Leonhard Herrman: Literarische Vernunftkri-tik im Roman der Gegenwart. Stuttgart: J. B. Metzler, 2017, S. 324.

446 In Tristan da Cunha ist dies der Fall bei einer Wanderung Christian Revals mit seiner Frau über die In-sel, bei der sie wegen einer schweren Verletzung Revals dem sie überraschenden Sturm nicht entkommen können. Sie werden tot aufgefunden. In Finis Terrae geht es um den Tod des Inselbewohners Josh, bei dem der Priester Dodgson eine Rolle spielt, und den Tod des afrikanischen Mädchens im Zusammenhang mit Höhnel und Schiaparelli.

447 In Finis Terrae ablesbar an der Generationenfolge in der Familiengeschichte der Höhnels und der Wei-tergabe des Nachlasses.

448 Mit Bezug auf Barry Cunliffes Rekonstruktion der Route des Pytheas aus historischen Quellen (Plinius, Strabo) verweist Michael North darauf, dass Pytheas nicht wie in Schrotts Fiktion von Marseille aus gese-gelt, sondern bis zur Mündung der Garonne gewandert ist, von wo er sich auf Schiffen der Küstenbe-wohner nach Norden hat bringen lassen. North: Zwischen Hafen und Horizont.

die Abneigung gegenüber dem Körper der Mutter spricht für eine homosexuelle Orientierung.

Die kindliche Angst vor der Bestrafung durch den Vater führt dazu, dass der Junge seine Über-tretung rückgängig und ungeschehen machen will, indem er den Band mit der durch seine Un-achtsamkeit beschädigten Lexikonseite nicht mehr anschaut. Der natürliche Wissensdrang und die lustvolle Neugier werden durch die Unterdrückung der Gefühle ins Negative gekehrt.449 Der Ekel, der sich anfänglich auf den Körper der Mutter bezieht, findet eine Parallele im Verhalten des Vaters, der sie regelmäßig mit den einheimischen Hausangestellten betrügt. Zunächst bezieht sich die Schuld nur auf die Abscheu des Jungen gegenüber der Mutter, die ihn davon abhält, sich von ihr trösten zu lassen, sie potenziert sich jedoch nach ihrem Selbstmord.

Höhnels Sexualität ist von einer Ambivalenz gegenüber den Geschlechtern geprägt: Trotz seiner durch berufliche Konkurrenz geprägten Beziehung zu seinem Archäologenkollegen Schiaparelli hat er eine homoerotische Beziehung zu diesem, wobei beide, auch zusammen, sexuelle Begeg-nungen mit Frauen haben, die jedoch nur dazu dienen, das körperliche Begehren zu befriedigen.

Immer wieder befindet sich Höhnel gegenüber Schiaparelli in der Position des betrügenden und dann reuigen Geliebten, wenn er sich ein ums andere Mal mit dessen Schwester Sofia trifft, zu der Schiaparelli selbst eine inzestuöse Beziehung unterhält, aus der ein Kind hervorgeht. In Finis Terrae führt die Figur des Dritten in der Dreieckskonstellation von Höhnel, Ghjuvan und Sofia zur Grenzübertretung. Die Übertretung selbst ist dabei noch ein schambehaftetes Geheimnis. In Tristan da Cunha dagegen ist die Dreieckskonstellation das Element, das als Grundform alle Be-ziehungen prägt. Die Störung der Zweisamkeit durch den Dritten ist dort programmatisch. Die kindliche Einsamkeit, die Schrott in den Totenheften beschreibt, erfährt der junge Ludwig auch in Finis Terrae auf der Farm in Afrika, wohin seine Familie aus Wien umsiedelt, und wo er seine Pu-bertät und das Erwachen seiner sexuellen Neugier erlebt. Die Selbsterkenntnis, die Höhnel durch seine Homosexualität erfährt, ist einerseits ein zunächst betäubender Schock, andererseits aber das Heraustreten aus der Unwissenheit, da er das Erkennen seiner homosexuelle Neigung als eine Erkenntnis seiner Sterblichkeit erfährt.

In Finis Terrae rankt sich die Thematik der Schuld um die Geschehnisse in Afrika, an denen so-wohl Ludwig Höhnel während seiner Ausgrabungen beteiligt ist als auch, Jahre zuvor, sein Groß-vater, der an der Expedition des ungarischen Grafen Teleki zum Rudolf- und Stephanie-See teil-nimmt. Die zeitgenössische Erklärung der wilhelminischen Kolonisatoren für die an der einhei-mischen Bevölkerung verübten Gewalttaten war der sogenannte Tropenkoller450, auf den in Finis Terrae als eine immer noch gültige Erklärung für solche Gewalttaten hingewiesen wird. Dabei wird die Natur, das Klima, die Landschaft als Auslöser für Reizbarkeit, Aggression und sexuelle Grenzüberschreitung verantwortlich gemacht: Höhnels Großvater macht sich durch sein

Nicht-449 Vgl. Schrott: Finis Terrae, S. 111ff.

450 Zum Diskurs des Tropenkollers bzw. der Tropenneurasthenie vgl. Stephan Besser: Pathographie der Tropen: Literatur, Medizin und Kolonialismus um 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013. In Die Ringe des Saturn findet sich die postkoloniale Perspektive in den Ausführungen des Erzählers zu Roger Casement, bei der Sebalds Erzähler auf die gleichen strukturellen Mechanismen der Mittäterschaft, z. B.

die Beförderung der Kritiker, aufmerksam macht.

eingreifen und die Vertuschung der Ereignisse während der Expedition Telekis an den Verbre-chen mitschuldig.451 Der Enkel wiederum wird während seiner Ausgrabungen am gleichen See, der heute Turkana-See heißt, selbst schuldig; die Erklärung für die Ursache der Reizbarkeit ist die gleiche wie während des Kolonialismus – das Syndrom der Tropenneurasthenie.

Vielleicht war es wirklich nur die Landschaft hier, das einförmige Relief der Ebenen und Hügel […] die unsere Stimmung immer gereizter werden ließ, bis wir nur mehr auf einen Anlaß warteten […]. Als nähme ein namenloser Instinkt von uns Besitz, damals schon und nun wieder; Atavismus ist wohl das richtige Wort dafür, gerade weil ich an meinen Großvater denke. Was unsere Askari, die Arbeiter über uns dachten, weiß ich nicht. Na-türlich redeten sie hinter unserem Rücken […,] was konnte auf diesem engen Raum schon ein Geheimnis bleiben; zumindest muß einer von ihnen etwas bemerkt, davon er-fahren haben, was wir beide – was wir beide getan hatten; so etwas verbreitet sich ja schnell. Zuerst glaubte ich noch, es verheimlichen zu können, auch vor mir selbst, es war wie ein Rausch, der einen überwältigte und selbst die Erinnerung daran auslöschte […].452

Die Gewalt und das Verbrechen, auf das hier angespielt wird, finden sich im Text als Andeutun-gen über sexuelle Exzesse mit einheimischen Mädchen, aber auch in der tragischen Verwicklung im Konflikt mit den El Molo453, von denen einige nachts von den fliehenden Archäologen ange-fahren werden. Es fallen Schüsse und Schiaparelli wird verletzt. Erst später erange-fahren Höhnel und der Leser, dass er als Folge dieser Schussverletzung querschnittsgelähmt ist. Im Kontext dieser Ereignisse berichtet Höhnel in seinen Aufzeichnungen immer wieder von seinen Schuldgefühlen.

Er beschreibt den Versuch, ein Geständnis über ein Verbrechen abzulegen, das er und Schia-parelli begangen haben, das jedoch unscharf gezeichnet im Text verschlossen bleibt. Höhnel hält in seinen Notizen fest:

451 „Es war Teleki gewesen, Graf Samuel Teleki von Szék […], der es sich eines Tages in den Kopf gesetzt hatte, ein Entdecker des Innersten eines dunklen Weltteils zu werden, wie Burton und Speke, Stanley oder Livingstone, […] und ein gewisser Exotismus war ja damals in Mode, und so ging er diese Expedition in großem Stil an […]. Von sechshundert Trägern, die man an der Küste angeworben hatte, erreichten trotz der Präzision der Geräte nur weniger als die Hälfte den See […]. Das aber stand nicht im Expeditionsbe-richt, den mein Großvater verfaßte, einer Expedition, die Teleki nur als Vorwand diente, um seinen Sa-dismen frönen zu können […].“ Schrott: Finis Terrae, S. 180f.

Zur Untersuchung der Begegnung mit dem Fremden bezogen auf die Körperlichkeit im kolonialen Kontext vgl. Richard Kerridge: „Ecologies of Desire: Travel Writing and Nature Writing as Travelogue“.

In Steve Clark (Hg.): Travel Writing and Empire: Postcolonial Theory in Transit. London/New York: Zed Books, 1999, S. 164–182. Kerridge bezieht sich bei seiner Analyse auf Lacan und vor allem auf Julia Kris-tevas Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Im Kontext der deutschen Exotismus-Literatur setzt sich Ro-bert Müller literarisch mit dem Tropenkoller auseinander. Sein Roman Tropen sowie seine Novelle Das Inselmädchen brechen den romantischen Entdecker- und Südsee-Exotismus: In Tropen durch die rätselhaf-ten Todesfälle, die aus einem elliptisch erzählrätselhaf-ten Konfliktgeschehen zwischen Einheimischen und Euro-päern am Kulminationspunkt der Reise auftreten, deren Faktizität aber immer wieder durch den möglich-erweise fantasierenden oder halluzinierenden unzuverlässigen Erzähler unterlaufen wird. Ähnlich scheitert Raoul de Donckhard in Das Inselmädchen, der als Offizier die Eingeborenenunruhen auf der Insel unter Kontrolle bekommen soll.

452 Schrott: Finis Terrae, S. 181ff.

453 Die El Molo sind ein kleiner Volksstamm in Kenia, der am südöstlichen Ufer des Turkana-Sees lebt.

Das Schreiben macht mir zusehends Mühe, auch körperliche. Der einzige Grund, daran festzuhalten, ist die Hoffnung, beim Wiederlesen auf etwas zu stoßen, das in der Nieder-schrift nicht zur Sprache findet, sich aber doch in den Wörtern festkrallt, wie die Krank-heit sich in meinem Blut.454

Er hofft, sein Geständnis würde sich sozusagen ‚zwischen den Zeilen‘ ablegen lassen. Die Spra-che sSpra-cheint sich ihm zu verwehren, er ist ihren Regeln ausgeliefert und vermag sich, da er sie nicht manipulieren kann, keine Gewissenserleichterung zu verschaffen. An späterer Stelle, als er die amourösen Verstrickungen mit Schiaparelli und dessen Schwester Sofia beschreibt, sieht er sich den vorgezeichneten Bahnen der Worte und der Schuld, die er empfindet, hilflos ausgesetzt:

„Die Worte nehmen ihren eigenen Lauf, sie halten sich an vorgezeichnete Bahnen, auch gegen meinen Willen; was ich dennoch nicht zu beschreiben vermag, ist das Gefühl von Schuld.“455 Die Unfähigkeit, die Schuld zu beschreiben, drückt sich in seiner allgemeinen Hilflosigkeit beim Schreiben aus, was damit zusammenhängen mag, dass das Bewusstsein von der eigenen Sterb-lichkeit keine andere Perspektive mehr erlaubt, da Höhnel darüber sagt: „Der Tod ist ein Ende.

[…] Da ist kein Schauen mehr, und die Dinge beginnen zu verharren und erstarren zur Maske; es liegt kein Leben mehr in ihnen […].“456 Der todkranke Höhnel vergleicht das Sterben mit einem

„endlose[n] Fallen über den Rand der Welt“457, für dessen Beschreibung selbst die Sprache brü-chig wie Holz wird.458 Höhnel stellt fest, dass seine Gedanken abschweifen und er sie nur mit Mühe an ihren Ausgangspunkt zurückbringen kann. Die Unaussprechlichkeit seiner Schuld muss er ebenso annehmen wie seinen Tod, ohne dass ihm die Sprache und das Schreiben zu einer Er-leichterung seines Gewissens verhelfen könnten. An anderer Stelle bemerkt Höhnel, dass es ihm jedoch Erleichterung verschafft, dass Schiaparelli als Eingeweihter und Mittäter seine Briefe lesen wird. Es erfolgt zwar kein Geständnis, Schuld und Schuldgefühle werden aber (mit-)geteilt. Als Leser kann man nur vermuten, was geschehen ist: Höhnel lässt sich auf dem Weg zur Ausgra-bungsstätte mit einem Einheimischen auf einen Handel ein, Waren gegen sexuelle Dienste zu tauschen, vermutlich von dessen Frau und Tochter. Bei einer Gelegenheit, bei der Schiaparelli ihn begleitet, kommt es zu einer Grenzüberschreitung, die mit dem Sündenfall gleichgesetzt wird:

454 Schrott: Finis Terrae, S. 132.

455 Ebd., S. 192.

456 Ebd., S. 146.

457 Ebd., S. 145.

458 „Ich kann nicht mehr sagen, wann, an welchem Tag genau es mich erreichte: Ich gestand mir meinen Tod nicht ein, er drängte sich auf und war dann nicht mehr wegzudenken. Wie er sich fassen ließ, war bestenfalls in seiner Gewißheit – der Gewißheit von Sprichwörtern und Gemeinplätzen […]. Und es lag Erleichterung darin, zumindest im ersten Augenblick, diese vorgefertigten Stücke von Sprache, diese Bruchstücke von Sätzen zur Hand zu haben. […] Aber sie paßten nicht mehr für meinen Tod, der zu lange dauern würde […]. Mein Tod nahm eine Zeit in Anspruch. […] Er nahm nicht, er fraß nicht; er nagte nur, unmerklich, bis das Holz der Sprache morsch wurde und diese Worte auch noch als letztes zerfielen.“Ebd., S. 145f.

Es war etwas Ungeheuerliches geschehen, das von uns Besitz ergriffen hatte, jenseits ei-ner Grenze, die erst sichtbar wurde, nachdem sie überschritten worden war; diesseits ih-rer gab es nichts mehr, auch dieses Mädchen nicht […].459

Ludwig Höhnel versteht seinen Trieb460, der ihn in seinen sexuellen Praktiken Grenzen über-schreiten lässt, als seine ihm vorgegebene Bahn, die ihn, trotz ihres Determinismus, in Loyalitäts- und Gewissenskonflikte stürzt, die er durch das Schreiben aufzulösen versucht. Gerade darin scheitert er jedoch, denn jedes Mal, wenn es darum geht, die Geheimisse der Gewalt aufzude-cken, versagt ihm die Sprache. So heißt es für den Leser in dem vom fiktiven Herausgeber Raoul Schrott edierten Text über die Gewalt gegenüber dem afrikanischen Mädchen: „[…] ein stumpfes und stummes sich Wehren. Aber ging diese Rohheit wirklich so weit, daß [eine Zeile nicht mehr ent-zifferbar], Sündenfall; was für ein Wort.“461 Am Ende des Absatzes verweist der fiktive Herausge-ber auf das Fehlen des Textes, der gewaltsam entfernt wurde:

[…] aber was ich wirklich suchte, war ein Bruder, nein, auch das trifft es nicht, was ich suchte, war keine Freundschaft, im Grunde suchte ich Vertrauen und ein Einverständnis mit den Dingen, von dem ich hoffte, es würde sich einstellen wie von selbst. Doch das denke ich auch über den Tod, und Schiaparelli, nein, er war [die untere Hälfte der Seite ist abgerissen].462

Das Abbrechen des Textes, ebenso wie die Unmöglichkeit, die geschehenen Dinge zur Sprache zu bringen, entlarven Höhnel als orientierungslos. Das Geständnis als entgrenzende Befreiung ist ihm nicht möglich, so dass er nur bis zu einem gewissen Grad Zeugnis ablegen kann. Das schuldhafte Kerngeschehen bleibt im Unausgesprochenen eingeschlossen – für Höhnel nicht erzählbar und für den Leser nicht lesbar.

Soziale Kälte und örtliche Unstetigkeit während seiner Kindheit, die jedes Gefühl von Heimat und Verwurzelung unterbunden haben, sowie Ludwig Höhnels Überzeugung, dass der Mensch triebgesteuert ist, machen ihn in Höhnels Weltbild zur Marionette im Welttheater, das Raoul Schrott in Tristan da Cunha schließlich ausbuchstabiert.

Ich war nie lange genug an einem Ort, als daß ich mehr als einen oberflächlichen Bezug zu ihm hätte gewinnen können, oder zu Menschen. Sie wechselten, die Landschaften, die Städte; was sie allein vertraut machte, was ihre Fremdheit und Weite erträglich werden

459 Ebd., S. 190f.

460 Dominik Hagmann liest den Rückzug Höhnels auf den Trieb in Lacans Terminologie von désir (Begeh-ren) und besoin (Bedürfnis). Hagmann: „Raoul Schrotts Finis Terrae“, S. 82ff. Raoul Schrott spielt auch an anderer Stelle mit den Nuancen von ‚Sehnsucht‘: In Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen unter-scheidet Schrott zwischen den einzelnen Begriffen zwischenmenschlicher Nähe und Distanz: „Und ich zerbreche mir nach wie vor den Kopf, warum, über so viel Distanz, damals und jetzt, ich mich dir so nahe fühle. Natürlich fielen mir Gründe ein, die alles weniger unausweichlich und unvorhergesehen erscheinen lassen würden, als ich es hier vorgebe, doch dennoch. Zumindest habe ich inzwischen das richtige Wort dafür gefunden, für diesmal wenigstens. Von den englischen Stichwörtern desire, lust, yearning und lon-ging trifft letzteres zu […].“ Raoul Schrott/Arnold Mario Dall’O: Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen. Frankfurt a. M.: Fischer, 2006, S. 33.

461 Schrott: Finis Terrae, S. 191, Kursivsetzung im Original.

462 Ebd., Kursivsetzung im Original.

ließ, war das Bewußtsein, daß ich sie auf Karten und Pläne reduzieren konnte, auf Grundrisse und Koordinaten, in denen sich die Orte einfügten. Ich reduzierte ihre To-pographie auf ihre Ordinaten, wie ich auch die Menschen, die ich traf, auf ihre Triebe und Regungen reduzierte; das half mir gewissermaßen, mich zurechtzufinden. Vielleicht habe ich deshalb für Menschen kaum je Liebe empfunden. Ich meine das nicht zynisch;

sie interessierten mich einfach nicht. Sie bargen kein Geheimnis. Von Kindheit an er-schienen sie mir wie Akteure eines geregelten Spiels, so spröde und steif, wie ich mich selbst sah. […] mich hat, auch was die Gefühle angeht, nur ihre Physik interessiert. Ihre großartige Gleichgültigkeit, ihre Indifferenz, die zwischen Natur und Mensch nicht un-terschied. Das berührte mich. Sie erschien mir wie das Innerste meiner selbst; eine Mat-rix, eine Materie, aus der das Wesen der Dinge im Kern gemacht schien. In ihrem unab-lässigen Drang, ihrer Suche, stellt sie, wie die Geographie auf ihre Weise, die immer glei-che Frage nach dem Wo und dem Woher und war dabei doch nur ein anderer Ausdruck für das Triebhafte im Menschen. Das, was sie sezierte, war Anatomie: die Geographie des menschlichen Körpers. Und die Archäologie tat ebenfalls nichts anderes, als das Un-terirdische zu kartographieren. Ich glaube, das war es, was mich letztlich veranlasste, aus der Marineakademie auszutreten und das Studium der Archäologie aufzunehmen, ein Versuch, den Anfängen zu begegnen, ihrer habhaft zu werden.463

Die Essenz von Finis Terra, geprägt durch die Weltanschauung Ludwig Höhnels, zeichnet die Kontingenz nach, der der Mensch als natürliches Wesen unterworfen ist: Endpunkt seiner krea-türlichen Existenz ist, wie der alles Lebendigen, sein Tod, dem er sich nicht entziehen kann.

Suchte die Figur Höhnel noch „eine Vertrautheit und ein Einverständnis mit den Dingen“464, scheinen die Personen in Schrotts Inselroman vollkommen zu Figurenschablonen geworden zu sein, die in sich ähnelnden Konstellationen aufgestellt sind, in denen sie ihre jeweiligen Rollen spielen.