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3.1 Eine Wallfahrt, um der Leere der Hundstage zu entkommen

3.1.3 Grabstätten in kontaminierten Landschaften

niedergemähte Wälder […,] Bilder der Zerstörung, der Verstümmelung, der Schändung, des Hungers, des Feuers, der eisigen Kälte. Die Überschriften sind fast ausnahmslos ge-prägt von bitterer Ironie […].371

Abb. 25 und Abb. 26: Das Attentat und die Konsequenz des Krieges Quelle: Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 117f.

Abb. 27: Gewaltsame Todesform – Erhängen Quelle: Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 120.

Das letzte Bild in Teil IV der Ringe des Saturn stammt nicht aus dem Ersten, sondern aus dem Zweiten Weltkrieg, von einer der „von den Kroaten im Einvernehmen mit den Deutschen und

371 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 116f. Sebalds Erwähnung von Kurt Waldheim an dieser Stelle ist eben-falls von einer „bitteren Ironie“ (s. o.) geprägt, da er symbolisch für die Möglichkeit der rechten Karrieren nach Ende des Zweiten Weltkriegs steht. Die Ironie, auf die Sebald anspielt besteht darin, dass Waldheim in seinem Amt als UN-Generalsekretär und damit als Repräsentant der Menschheit derjenige war, der eine Grußbotschaft an Außerirdische aufnahm, die an Bord der Voyager II in die Tiefen des Weltalls geschickt wurde. Als junger Offizier schrieb Waldheim Memoranden in Banja Luca für „die dringlichst in die Wege zu leitenden Umsiedlungen“ (S. 122f.) der jüdischen Bevölkerung. Sebald spielt hier auf die Vorwürfe an, denen zufolge Waldheim als NS-Offizier an Kriegsverbrechen beteiligt war. Zu einer aktuellen Aufberei-tung der Thematik vgl. Ruth Beckermanns Dokumentarfilm „Waldheims Walzer“ (2018), der sich mit diesen Lücken in Waldheims Biographie beschäftigt.

Österreichern durchgeführten sogenannten Säuberungsaktionen […].“372 Im Weiteren folgt die Beschreibung von Fotografien, die als Zeugnisse von den Hinrichtungen im Lager Jasenovac gemacht wurden, der Bericht von ähnlichem Vorgehen in den unweit davon gelegenen Ustascha-Lagern von Prijdor, Stara, Gradiška und Banja Luca sowie der Verweis auf die Akten dieser Ak-tionen im Archiv von Banja Luca. Die „Aberration des Zivilisatorischen“373, die in Gewalt und Massenmord monströse Auswüchse angenommen hat, und die „Abschilderung einer im Verlauf des Zivilisationsprozesses immer ungeheurer werdenden Art“374 hat ihre Form im Totenhügel375 gefunden. Als Serie einer motivischen Wiederholung haben die Fotografien von Anhäufungen oder Hügeln eine ähnliche Funktion wie die optischen Nachbilder, die nach Walter Benjamins Kleiner Geschichte der Photographie Strukturbeschaffenheiten oder Zellgewebe abspeichern. Eine Rei-he von Fotografien in Die Ringe des Saturn enthalten diese Kegelform, z. B. der Lichtkegel, der als Schein des Industriezeitalters im ‚Licht-Palast‘ des Großunternehmers und Politikers Morton Peto zu sehen ist, sowie die Abbildung zur „totalen Illumination unserer Städte“376, die auf die von Casement angeprangerten imperialistischen Verbrechen der Kolonialpolitik verweisen und in direktem Bezug zur ‚belgischen Hässlichkeit‘377 stehen, die ihr Monument im kegelförmigen Lö-wenmonument findet. Der Hügel und das Hügelgrab als Bestattungsform verbinden motivisch Trauerritual mit Zivilisationskritik in Die Ringe des Saturn. Anhand dieser Fotografien manifestiert sich auch die von Sebald vertretene These, der Holocaust sei die Konsequenz „eine[r] als trauma-tisch empfundene[n] Modernisierung“.378

372 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 119.

373 Öhlschläger: „Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau“, S. 201.

374 W. G. Sebald: „Wie Tag und Nacht – Über die Bilder Jan Peter Tripps“, zitiert nach Öhlschläger: „Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau“, S. 201.

375 Das Motiv der Totenhügel ist bereits in Nach der Natur angelegt: „Elf Totenhügel und das […] Grab des Raedwald von Sutton Hoo./ Merowingsche Münzen, schwedisches/ Rüstzeug, byzantinisches Silber.“

Sebald: Nach der Natur, S. 90f. Das Urnenfeld von Walsingham verweist wie die Stelle in Nach der Natur auf ein Heer an Kriegern, deren Waffen immer noch im Boden vergraben liegen; ‚ein Arsenal‘ und daneben Anstalten, die sich mit den Krankheiten des Menschen beschäftigen – Geriatrie, Zucht- und Irrenhaus, Anstalt für Schwererziehbare, Strafanstalt. Das ist es, was in der Landschaft von vergangenen Kriegen übrig geblieben ist. „Dahinter das Ende der Welt,/ die fünf kalten Häuser/ des Ortes Shingle Street./[…].

Den Horizont entlang/ ziehen die Frachter/ hinüber in eine andere Zeit,/ gemessen am Ticken/ der Gei-ger im Kraftwerk/ von Sizewell, wo sie langsam/ den Kern des Metalls zerstören. Raunender/ Wahnsinn auf der Heide/ von Suffolk.“ Ebd., S. 94f.

376 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 76.

377 Über das belgische Hotel, in dem der Erzähler im Dezember 1964 für ein paar Tage logiert, in dem ihm „mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr“, schreibt er:

„Deutlich sehe ich noch vor mir eine mit viel Schnitzwerk verzierte massive Kredenz, auf der auf der einen Seite unter einem Glassturz ein Arrangement aus künstlichem Gezweig, bunten Seidenmaschen und winzigen ausgestopften Kolibris stand und auf der andern ein kegelförmiges Gebilde aus porzellanenen Früchten. Der Inbegriff aber der belgischen Häßlichkeit ist für mich seit meinem ersten Besuch in Brüssel das Löwenmonument und die ganze sogenannte historische Gedenkstätte auf dem Schlachtfeld von Wa-terloo.“ Ebd., S. 149f.

378 „Auch wenn Sebald sich nicht anmaßt, den Holocaust zu erklären, vertritt er eine Variante der weit verbreiteten These, dass der Holocaust eine Art pathologische Reaktion auf eine als traumatisch empfun-dene Modernisierung war. Seine Ursachen liegen demgemäß im Modernisierungsprozess, der Durchkapi-talisierung der Industrie, und in der dafür charakteristischen Zweckrationalität.“ Jonathan J. Long:

Abb. 28, Abb. 29, Abb. 30 und Abb. 31: Zivilisationskritik – Aberrationen der Moderne: Industrialisie-rung, Kolonialismus und Überkonsum379

Quelle: Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 47, 76, 71 und 150.

Die Degeneration, die in den Buckligen und Irren veranschaulicht wird, ist hier nicht zuletzt das Zeichen einer „Entfremdung, einer Aberration des Menschen vom Maßstab dessen, was seine menschliche Natur ausmachen könnte“380, die in jenen Macht- und Herrschaftsstrukturen ent-steht, durch die es zu kulturellen Deformationen kommt. Schließlich bildet Sebald diese Monst-rosität doppelseitig ab.

ziplin und Geständnis. Ansätze zu einer Foucaultschen Sebald-Lektüre“. In Niehaus/Öhlschläger (Hg.):

W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 219–239, hier S. 220.

379 Zur Begriffsdefinition vgl. Karl Georg Zinn: „Überkonsum und Konsumsättigung als Problem reifer Volkswirtschaften“. In: Rolf Walter (Hg.): Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 23.–26. April 2003 in Greifswald. Stuttgart: Franz Steiner, 2004, S. 55–75, hier S. 72.

380 Öhlschläger: „Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau“, S. 201.

Abb. 32: Landschaften der Massengräber Quellen: Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 78f.

Das massenhafte Verschwinden und Sterben, an das Sebald im Laufe seiner Wanderung durch die Zerstörungsgeschichte erinnert, hat etwas Gespenstisches. An dieser Bildfolge wird das selek-tive Moment von Gedenkkultur, Vergessen und Verdrängen sichtbar. „Viele Landschaften haben schon lange vor den Nationalsozialisten ihre vermeintliche Unschuld verloren […]. In der kol-lektiven Erinnerung wurden diese Regionen zu Kriegslandschaften, über die sich in vielen Fällen bis heute eine düstere Ahnung des Todes zu breiten scheint.“381 In einsamen Landschaften, z. B.

in den Niederen Beskiden, weitab von Siedlungen findet man Kriegsfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg. Solche Erinnerungsstätten findet man überall in Europa,

381 Martin Pollack: Kontaminierte Landschaften. St. Pölten/Salzburg/Wien: Residenz Verlag, 2014, S. 15.

Heldenfriedhöfe, Denkmäler, Säulen, Obelisken, Ossarien. In Städten, auf Dörfern, auf einstigen Schlachtfeldern, neben Landstraßen oder in der freien Natur. Sie formen und prägen die Landschaft, drücken ihr ihren Stempel auf. […] Nicht zu vergessen die Ge-denkstätten für die Verfolgten und Ermordeten, die Juden, Sinti und Roma und alle an-deren Opfer der Nationalsozialisten.382

Pollack spricht von „einer manchmal beinahe morbid anmutenden Erinnerungskultur.“383 Die Soldatenfriedhöfe, Denkmäler und Gedenkstätten sind aber nicht die kontaminierten Landschaf-ten, die der Autor meint, dies sind vielmehr jene,

wo die Toten irgendwo auf Wiesen und Feldern, in abgelegenen Wäldern […] verscharrt wurden, namenlos wie an Seuchen zugrunde gegangenes Vieh, um ihnen auf diese Weise jedes Gedenken zu verweigern, sie über den Tod hinaus in die Anonymität zu verban-nen. […] Sie sollen ausgelöscht werden für alle Zeiten.384

Pollack definiert die ‚kontaminierte Landschaft‘ als Orte massenhaften Tötens, dessen Spuren bewusst verwischt wurden, wo Massengräber zugeschüttet und wiederbepflanzt wurden, damit sie sich unsichtbar in die umliegende Landschaft einpassen. Der Autor nennt Treblinka und Bełżec, wo insgesamt schätzungsweise 1.300.000 Menschen ermordet wurden. Sebalds doppelsei-tige Abbildung der im Wald liegenden Leichen mit der umrahmenden Erzählung über einen Arti-kel zu Major George Wyndham Le Strange, der am 14. April 1945 bei der Befreiung des Kon-zentrationslagers Bergen-Belsen dabei war385, verweist unmittelbar auf den Entstehungsort und die sich dahinter verbergende Logistik zur Schaffung solcher kontaminierter Landschaften. Die traumatisierende Wirkung, so suggeriert Sebald mit der Abbildung eines Zeitungsausschnitts über Le Strange und das Schweigegelübde seiner Haushälterin, verfolgten Le Strange bis zu seinem Tod und bis in seine Heimat, einem Gut in der Grafschaft Suffolk.

Die Geographie der ersten Erzählebene, die Grafschaft Suffolk, bildet mit ihrer Topographie und ihren Toponymen das Netz der fiktiven Nodalpunke, das sich als dritte Dimension in den Ge-schichtsraum öffnet. Mit der Wanderung seiner fiktiven Figur durch diese reale Geographie, die teilweise durch eine literarisch codierte Landschaft überblendet wird, schafft Sebald einen Zugang zur Geschichte, der durch die Spuren an diesen Orten möglich wird. Ähnlich verhält es sich mit den Lebensgeschichten der Figuren, die der Erzähler auf seinen Reisen recherchiert. Er folgt den Spuren von Freunden und Bekannten, von Zufallsbegegnungen und Zeitzeugen, von histori-schen Personen, wie Roger Casement und Joseph Conrad, und macht seine Spurensuche zur Erzählung ihrer Geschichten.

382 Ebd., S. 16.

383 Ebd.

384 Ebd., S.19.

385 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 77 und 80.