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3.2 Die Quest von Raoul Schrotts Figuren

3.2.2 Die Quest in Tristan da Cunha als Reise in der Schrift

3.2.2.1 Antarktis

ließ, war das Bewußtsein, daß ich sie auf Karten und Pläne reduzieren konnte, auf Grundrisse und Koordinaten, in denen sich die Orte einfügten. Ich reduzierte ihre To-pographie auf ihre Ordinaten, wie ich auch die Menschen, die ich traf, auf ihre Triebe und Regungen reduzierte; das half mir gewissermaßen, mich zurechtzufinden. Vielleicht habe ich deshalb für Menschen kaum je Liebe empfunden. Ich meine das nicht zynisch;

sie interessierten mich einfach nicht. Sie bargen kein Geheimnis. Von Kindheit an er-schienen sie mir wie Akteure eines geregelten Spiels, so spröde und steif, wie ich mich selbst sah. […] mich hat, auch was die Gefühle angeht, nur ihre Physik interessiert. Ihre großartige Gleichgültigkeit, ihre Indifferenz, die zwischen Natur und Mensch nicht un-terschied. Das berührte mich. Sie erschien mir wie das Innerste meiner selbst; eine Mat-rix, eine Materie, aus der das Wesen der Dinge im Kern gemacht schien. In ihrem unab-lässigen Drang, ihrer Suche, stellt sie, wie die Geographie auf ihre Weise, die immer glei-che Frage nach dem Wo und dem Woher und war dabei doch nur ein anderer Ausdruck für das Triebhafte im Menschen. Das, was sie sezierte, war Anatomie: die Geographie des menschlichen Körpers. Und die Archäologie tat ebenfalls nichts anderes, als das Un-terirdische zu kartographieren. Ich glaube, das war es, was mich letztlich veranlasste, aus der Marineakademie auszutreten und das Studium der Archäologie aufzunehmen, ein Versuch, den Anfängen zu begegnen, ihrer habhaft zu werden.463

Die Essenz von Finis Terra, geprägt durch die Weltanschauung Ludwig Höhnels, zeichnet die Kontingenz nach, der der Mensch als natürliches Wesen unterworfen ist: Endpunkt seiner krea-türlichen Existenz ist, wie der alles Lebendigen, sein Tod, dem er sich nicht entziehen kann.

Suchte die Figur Höhnel noch „eine Vertrautheit und ein Einverständnis mit den Dingen“464, scheinen die Personen in Schrotts Inselroman vollkommen zu Figurenschablonen geworden zu sein, die in sich ähnelnden Konstellationen aufgestellt sind, in denen sie ihre jeweiligen Rollen spielen.

Kisten an Land zu bringen.“466 Die Beschreibung des Anblicks der Antarktis aus dem Hub-schrauber wird über die geographische Form des Kontinents mit Tristan da Cunha gleichgesetzt, beides Inseln des Rückzugs und Räume des Schreibens für die Figuren. Noomi Morholt notiert in ihr Journal: „Wir steigen hoch, und da ist all die Erwartung des ersten Blicks auf den Kreis, den die Griechen den antarktischen nannten […]. Dann sind wir über der Kante, und da ist:

Nichts; ein Weiß wie das meines Schreibheftes hier […].“467 Im Weiß fällt die Geographie der Insel mit dem Ort der Schrift zusammen, und die gesamte Reise ans Ende der Welt erweist sich als persönliche Quest, die für ihre Durchführung kaum mehr als Buchstaben auf dem Papier be-nötigt. An einer anderen Stelle vergleicht Noomi den Umriss der Antarktis mit der Form des Gehirns, was die Selbstsuche als kognitiven Prozess verdeutlicht.

Ich ertappe mich oft dabei, daß ich auf die Karte starre, die über meinem Schreibtisch hängt. Antarktika in Weiß und Blau, die einzelnen Stationen rot eingezeichnet; Westant-arktika mit ihrer Landzunge das Stammhirn und wir hier in der Furche zwischen Schei-tel- und Hinterhauptlappen; der Sehhügel der geographische Pol, über dem die Amerika-ner einen Dom errichtet haben. Als wäre alles nur im Kopf.468

Noomi Morholts Reise in die Antarktis ist vor allem eine Suche nach der eigenen Mitte, die ihr Symbol in der Insel findet. Die Reise zu einem geographisch abgelegenen Ort und der Aufenthalt dort stellen die Grundvoraussetzung für die Orientierung der Forscherin dar. Die Geographie bedeutet einen Zugang zu einer Gefühlswelt, durch die sie Orientierung und Heilung erfahren kann. Erst in der Kälte und Dunkelheit der Antarktis wird ihr das Gefühl der Ganzheit wieder zugänglich, das sie als junges Mädchen bei der eintönigen Aussaat auf einem Gerstenfeld in Afri-ka erfahren hat, und das ihr das Gefühl des Urvertrauens gegeben hat, das Ludwig Höhnel ver-misst.469 In der Antarktis nun, wo sie – in der Mitte des Lebens – an die Endlichkeit ihrer Repro-duktionsfähigkeit erinnert wird, versucht sie, diesen Zustand der inneren Harmonie wiederherzu-stellen, indem sie sich auch von den übrigen Forschern auf der Station, die alle Männer sind, iso-liert. Noomis Antarktisaufenthalt dient der Selbstsuche und Selbsterkenntnis. Zwar findet sie aufgrund der Enge der Station und der Kollegen nicht das Gefühl völliger Abgeschiedenheit, nach einigen Wochen aber „[e]in Gefühl der Vollständigkeit“470, das aus der Überwindung einer Selbstdefinition über Geschlechtlichen hervorgeht und darin liegt,

nicht mehr alleine Frau [zu] sein, sich nur ständig widerspiegelt sehen zu müssen, son-dern ich selbst zu sein. Genügen in mir zu finden. Stille. Und die Einsamkeit lange genug

466 Ebd.

467 Ebd., S. 12.

468 Ebd., S. 322.

469 „Seit Tagesanbruch fuhr ich nur rund und rund um dieses Feld, in enger werdenden Kehren, den Blick auf die Furchen gerichtet, nur daran denkend, das Korn zu säen, und ich wie besessen von diesem Ge-danken; es lag alle Freiheit darin, mein ganzer Körper hatte Anteil daran, war durch nichts abgelenkt, einer Ruhe nahe […]. Die Einsamkeit, die ich dann spürte, war heiter und gelassen, das Bewußtsein in der Welt zu sein, etwas, das sie von innen heraus erfaßte.“ Schrott: Tristan da Cunha, S. 326.

470 Ebd., S. 325.

zu erfahren, sie auszuleben. Nach niemandem zu suchen, mich nach niemandem zu seh-nen. An keinen zu erinnern. Nur dazusein.471

Während sie das Bedürfnis der Männer allgemein und das ihrer Kollegen im Forscherteam nach Inbesitznahme eines bestimmten geographischen Punktes als „lachhaft“472 bezeichnet, ist der geomagnetische Pol, der die Mitte des Polarlichtrings ist, für sie der Orientierungspunkt:

Dieser letztlich durch die Sonnenflecken und die See immer wieder versetzte Sammel-punkt: das ist mein Pol, in mehr als einem Sinn: die Allegorie einer anderen Art von An-ziehung, die angenommene Mitte unterschiedlicher magnetischer Kräfte, denen ich aus-gesetzt bin.473

Noomi Morholts Spurenlese in den Bibliotheksbüchern der Insel hilft ihr durch das Lesen der Lebensgeständnisse von Dodgson, Reval und Thomson, ihre eigenen Erfahrungen, die sie in die Antarktis führten, zu verarbeiten. Die Tagebücher und Briefe dieser drei Männer sind nicht nur Lebensschilderungen, sondern, durch den Schreibakt, auch Bearbeitungen von Konflikten und Brüchen im Leben der Schreibenden. Bei allen drei geht es um die Unerfüllbarkeit von Verlangen und Begierde und um unerfüllte Liebe.

Wie ähnlich sie sich alle sind; Reval, Dodgson, Thomson. Wahlverwandtschaften. Ge-länge es mir [Noomi, Anm. A. K], mich außerhalb meiner selbst zu stellen, könnte ich auch meine Seiten mit ihnen vergleichen. Nicht so sehr, um die eigene Vergangenheit zu bewältigen, sondern um auf Distanz zur eigenen Selbstverständlichkeit zu gehen […].

Mit Fanus, James, Conrad, Frank und den anderen verbindet mich die Realität einer All-täglichkeit, in der für mich nichts Gestalt gewinnt. Wenn ich aber in den Handschriften dieser drei Hefte lese und dann an mich beim Schreiben denke, ist es, als bildeten wir die vier Eckpunkte eines Quadrats. Und Rui in der Mitte, ohne daß ich es wahrhaben will;

besser, statt seiner diese Insel. Dabei ist aber keiner eine Insel, wie’s heißt, ganz für sich selbst, jeder Teil eines Kontinents, selbst dieses dunklen hier. Der Tod in uns allen; und alles Schreiben, um ihn uns einzugestehen. Als wären all diese Hefte von einem Autor und aus einem Buch […]. Die Geschichte der Insel, die einmal wirklich war, bis sie zu einem Kapitel wurde, aus dem jeder von ihnen ganze Absätze übernommen, sie manch-mal ein wenig verändert hat, um sich selbst darin einzuschreiben.474

In der Zeile „Als wären all diese Hefte von einem Autor und aus einem Buch […]“ findet sich das Motto von John Donne wieder, das Tristan da Cunha vorangestellt ist.475 Auch die Sentenz, dass niemand eine Insel ist, geht auf Donne zurück und nimmt, wie oben erwähnt, neben der Isolation als Voraussetzung zur Orientierung und Selbstfindung, die Bedeutung von Kommuni-kation und Zwischenmenschlichkeit vorweg.Um „[h]erauszufinden, ob ich auch anders denken kann, als ich denke, anders wahrnehmen, als ich sehe, weil man ohne diese Distanz überhaupt nicht über sich hinaus sehen und nachdenken kann“476, benötigt Noomi zunächst Abstand. Jeder

471 Ebd., S. 326.

472 Ebd., S. 329.

473 Ebd.

474 Schrott: Tristan da Cunha, S. 684f.

475 Vgl. hier Kap. 1.2.2.

476 Ebd., S. 684.

Erzähler in Tristan da Cunha schreibt in seiner Isolation aus einer anderen Perspektive über die Insel und erzählt dadurch einen anderen Teil ihrer Geschichte. Der Umweg, über eine Insel zu schreiben, statt nur über sich selbst, ist ein Orientierungsversuch der Figuren. Für Dodgson, Re-val und Thomson ist das Schreiben ein Selbstzweck. Indem sie ihre Biographie in die Inselge-schichte einschreiben, finden sie eine Form für ihre Sehnsucht. Für Noomi reicht das Schreiben in ihre Tagebücher nicht aus, sie folgt den Spuren der Männer zu ihrer Sehnsuchtsinsel, um in ihrem Schreiben herauszufinden, dass sie eine Utopie ist, eine männliche Fantasie. Für die männ-lichen Figuren, Reval, Dodgson und Thomson stellt die Ausformulierung ihrer Sehnsucht in ih-ren Schriften, insofern eine Orientierungsstrategie dar, als die Niederschrift eine gewisse Inbe-sitznahme des Begehrten bedeutet und der Ausdruck der Sehnsucht ein Surrogat für das Ersehn-te ist. Die Verschriftlichung ist aber gleichzeitig ein Zeugnis des ScheiErsehn-terns der Figuren in der Liebe und ihrer Suche nach Selbstvervollkommnung.

Für Rui ist Noomi, wie die anderen Marahs für die männlichen Figuren in den Binnenerzählun-gen (vgl. oben S. 50), Objekt der unerfüllbaren Sehnsucht. Noomis Verhalten ihm geBinnenerzählun-genüber gleicht den Eigenschaften der Insel: Sie ist kühl, abweisend und abwesend. In ihrem letzten Jour-nal bezeichnet sie das Verlangen zwischen Männern und Frauen als ein Desiderat – ein Begriff, in dem Emotion (Liebe) und Raum (Insel) ineinanderfallen: „All das Verlangen in mir, das herbeige-wünscht Fehlende. Das Desiderat meiner Liebe: de sider- , sidus: von den Sternen. Die Sehnsucht, die Raum greift.“477 In dem Verlangen verbirgt sich auch die Suche nach der Liebe, die zur Selbsterfüllung führt, wenn Noomi feststellt: „Ich als Liebende wurde mit einem Mal zu der Person, die ich mich nie getraut hatte zu sein.“478 Noomi, die sich in den E-Mails an Rui auch als Marah ausgibt, ist auf mehrfache Weise mit den verschiedenen Themen des Romans verbunden: Durch die Namensge-bung Noomi, Maria, Marah479 steht sie als die begehrte Frau einerseits für alle Frauenfiguren in Tristan da Cunha. Der Name Marah schafft aber auch eine Verbindung zur Geographie, da Marah ein Ort ist. Rui schreibt Noomi über den Ursprung des Namens Marah:

477 Ebd., S. 688, Kursivsetzung im Original.

478 Ebd., S. 685.

479 In ihrer E-Mail-Adresse gibt sie Rui ihren vollständigen Namen: „noomimariamorholt@“, Schrott:

Tristan da Cunha, S. 331. Die Namensdoppelung Noomi/Marah geht auf das Alte Testament zurück:

Noomi, die Frau von Elimelech, Mutter von Machlon und Kiljon und Schwiegermutter von Ruth, möchte – nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Söhne – bei der Rückkehr aus dem Gebiet der Moab ins Land Juda nicht mehr Noomi, sondern Mara (die Bittere, Betrübte) genannt werden, weil Gott ihr so viel Leid aufgebürdet hat (Ruth, 1–4). Ihre Schwiegertochter Ruth will sie begleiten. Mit Noomis Hilfe gelingt es Ruth bei der Gerstenernte auf dem Feld des Boas, der ein Verwandter Elimelechs ist, zu arbeiten und schließlich von ihm geheiratet zu werden und ihm einen Sohn, Obed, den Großvater Davids, zu gebären.

Die Frage der Fortpflanzung und Genealogie, die mit dieser biblischen Allegorie aufgerufen wird, spielt so auch in Tristan da Cunha eine wesentliche Rolle. Die Referenz zur Bibelgeschichte in der Figur Noomi wir auch daran ersichtlich, dass sie in Afrika Gerste aussät.

[…] die Geschichte einer Frau auf einem Gerstenfeld, die nicht mehr Noomi genannt werden wollte, sondern Marah, wie jener Ort in der Wüste, an dem Moses nur bitteres Wasser fand, bis ihm der Herr ein Holz zeigte, das es wieder süß machte.480

Da Noomi einer abweisenden Insel ähnlich ist und um das Spiel mit der Überschreitung der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterstreichen, lässt der Autor Raoul Schrott sein Alter Ego, Rui, der Figur Noomi am Ende des Romans klarmachen, dass sie nicht mit der Welt außerhalb der erzählten Textwelt, die im Roman durch die E-Mail-Korrespondenz zwischen Noomi und Rui dargestellt wird, kompatibel ist. Rui bricht die stockenden, sehnsuchtsmotivier-ten Briefwechsel mit einer weit entfernsehnsuchtsmotivier-ten Frau in der Antarktis ab, weil er auf einem Schriftstel-lertreffen eine Frau kennengelernt hat, die Noomi ähnlich sieht, im Gegensatz zu ihr aber ‚greif-bar‘ ist. Sie ist nicht einsilbig, ambivalent und mit sich selbst beschäftigt, kein Jahr in der Kälte und Dunkelheit der Antarktis, um die Aurora Australis zu erforschen und sich selbst auszuloten, indem sie das Ende ihrer Liebe zu Martin und die Totgeburt ihres gemeinsamen Kindes verarbei-tet. Allein dem fiktionalen Autor Rui, der als Spiegelautor Tristan da Cunha schreibt und dadurch darauf verweist, dass Utopien Fiktionen sind, gelingt es, von der Insel des Utopischen zu ent-kommen, indem er sich der realen Welt zuwendet.

Noomi wählt auf dem Weg zu ihrer Selbstfindung auch den Umweg über die Insel Tristan da Cunha, die einzige Anlegestelle auf ihrem Weg in die Antarktis. Das Lesen der Literatur über Tristan da Cunha wird zu Noomis Orientierungsmittel, allerdings unterscheidet sich ihre Per-spektive wesentlich von jener der männlichen Erzählerstimmen. Das Ziel und die Erfüllung ihrer Selbstsuche liegt nicht darin, etwas in ihren Besitz zu bringen oder etwas zu erobern, wie es die Männer mit den Frauen oder der Geographie anstreben, sondern ihren Standpunkt, ihre Mitte, zu finden, deren Ort in ihrer Autonomie liegt, die sich durch die auf sie wirkenden Kräfte definiert.

Noomis Selbstfindungsprozess ist von vornherein begrenzt und endet in der Einsicht, dass nie-mand eine Insel ist, sie erkennt also, dass die Isolation und die Selbstsuche kein Zustand von Dauer sind, sondern dass man immer Teil einer Kommunikation mit anderen sein muss, und dass man gerade dadurch keine Insel ist. In ihrer geographischen Abgeschiedenheit wird die In-selgemeinschaft von Tristan da Cunha zum Symbol für die Verbundenheit aller Menschen.