• Keine Ergebnisse gefunden

4.1 Theatralität in Die Schrecken des Eises und der Finsternis

4.1.1 Dramaturgische Elemente

Mit dem historischen Material folgt Ransmayr den Akteuren der realen Expedition, die in Gestalt eines Theatertextes oder eines Programmheftes im Roman eingeführt und in ihren Dramenrollen zunächst vorstellt werden, nachdem Ransmayr seinen Prolog, den Polarraum als Handlungsort und den Nachreisenden vorgestellt hat. Damit stimmt Ransmayr seinen Leser auf das polyphone, im Anschluss an die Vorstellung der Figuren nicht ohne Ironie aufgeführte Drama vor den Kulis-sen des Packeises ein. Der Chronist übernimmt die Rolle des Berichterstatters und Kommenta-tors auf einer kritisch-revisionistischen Dialogebene zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Schlägt man Die Schrecken des Eises und der Finsternis auf, stößt man auf Julius Payers Abbildungen:

Payer, Kartograph des Kaisers, nahm als Expeditionskommandant zu Lande an der Expedition teil, deren Bericht er unter dem Titel Die Österreichisch-Ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874575 zwei Jahre nach der Rückkehr aus dem Eis veröffentlichte. Wie Johan Schimanski und Ulrike Spring feststellen, stellt Ransmayrs Roman eine diskursive Konkurrenz zum Bericht Payers dar, der bis 1984 das „hegemoniale Narrativ der Expedition“576 gewesen war. Neben den Abbildungen stechen jedoch auch Listen, Tabellen und kursiv gesetzte Textteile in Ransmayrs Roman ins Auge, die die unterschiedlichen Erzählerstimmen markieren. Eben solche Listen, z. B.

eine tabellarische Auflistung der Polarausrüstung seit dem 16. Jahrhundert, eine Übersicht über Richtung und Stärke der Winde, die an Bord der Tegetthoff aufgezeichnet wurden, aber auch die nacheinander namentlich nach Rang aufgeführte Besatzung findet sich bereits in Payers Expedi-tionsbericht. Diese im Archiv lagernden Spuren der historischen Expedition werden durch Ransmayrs Roman wieder gegenwärtig. Auf diese Weise tritt Ransmayr mit der Geschichte der Polarfahrt, aber auch mit kulturellen Paradigmen der beiden vergangenen Jahrhunderte in einen Dialog.

575 Julius Payer: Die Österreichisch-Ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, nebst einer Skizze der zweiten deutschen Nordpolexpedition 1869–1870 und der Polarexpedition von 1871. Wien: Alfred Hölder, 1876, S. LXXIV, S. 696 und 4f. Der Nachdruck des Originals liegt in einer aktuellen Taschenbuchausgabe vor (erschienen im Salzwasserverlag, Paderborn 2012).

576 Johan Schimanski/Ulrike Spring: Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Diskurse 1874, Böhlau, Köln/Weimar/Wien, 2015, S. 21.

Abb. 39 und Abb. 40: Die Besatzung der Admiral Tegetthoffhistorisch und fiktiv

Quellen: Payer: Die Österreichisch-Ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, S. 4f.; Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 27.

Auch die optische Aufmachung von Die Schrecken des Eises und der Finsternis lehnt sich stark an Payers Reisebericht an. Beispielsweise ist Ransmayrs Darstellung der „Anwesenheitsliste für ein Drama am Ende der Welt“ (Kap. 3) Payers Expeditionsbericht entnommen (s. Abb. oben). Wie bereits erwähnt, liefert Ransmayr jedoch keine von dem Kartographen Payer gefertigte Karte der Route der Tegetthoff-Expedition in seinem Roman mit. Indem er eine Karte – und damit einen Überblick über die Topographie der Eislandschaft – weglässt, unterstreicht er die Vorstellung eines unkartierten Weiß, in das der Leser mit der Mazzini-Figur geführt wird. Eine kartengestütz-te Orientierung wird so unkartengestütz-terbunden und der Eindruck eines bislang unbetrekartengestütz-tenen Landes er-weckt. Ransmayr setzt stattdessen die Porträts der Expeditionsmitglieder als Orientierungstafel an den Anfang seines Dramas, das mit einer Personenliste versehen ist. Die Personenliste umfasst nicht nur die Expeditionsmitglieder des 19. Jahrhunderts, sondern auch seinen mehr als ein Jahr-hundert später nachreisenden Josef Mazzini, der neben den beiden namenlosen Katzen in der Anwesenheitsliste aufgeführt ist. Nachfahre ist Mazzini in doppeltem Sinne: einerseits als Nach-reisender auf den Spuren der Expedition, andererseits als Nachkomme des Matrosen Antonio Scarpa.

Abb. 41: Die Besatzung der österreichisch-ungarischen Expedition 1872–1874 Quelle: Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 28–29.

Den Porträts beigestellt ist nochmals, wie bereits im Vorwort zum Roman, der Verweis, dass der Mensch trotz seiner technischen Leistungen und Erfindungen ein Organismus ist, der den Grö-ßen- und Machtverhältnissen einer natürlichen Ordnung unterworfen ist: „Vergessen wir nicht, daß eine Luftlinie eben nur eine Linie und kein Weg ist und: daß wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind.“577 Damit wird einerseits auf das Einfrieren der Schonerbark Admiral Tegetthoff hingedeutet, die sich den Naturgewalten beugen und deren Besatzung den Rückweg aus dem Eis zu Fuß antreten muss, andererseits auch auf den Fußgänger Mazzini, der nicht mehr aus der Polarwelt zurückkehrt.

577 Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 28.

Abb. 42: Die Besetzung für das österreichisch-ungarische Nordpoldrama Quelle: Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 30f.

Christoph Ransmayr nutzt als Repräsentationsform für sein literarisches Drama Elemente des Theaters und des Performativen. Der performative Charakter ist nicht nur im theatralen Wortfeld angelegt, wo das Geschehen als Drama578 oder Tragödie579 bezeichnet, von einem Publikum580 gesprochen und die Landschaft als Kulisse581 beschrieben wird. Auch visuell verweist der Roman auf die Aufführung, indem er das Textheft eines Nordpoldramas mimt. So beispielsweise im be-reits erwähnten dritten Kapitel, wo die verschiedenen Personen in ihren Rollen vorgestellt wer-den: Schiffslieutenant Carl Weyprecht aus Michelstadt in Hessen – Expeditionskommandant zu Wasser und Eis, Erster Mann auf der Admiral Tegetthoff; Oberlieutenant Julius Payer aus Teplitz in Böhmen – Expeditionskommandant zu Lande, Kartograph des Kaisers; Schiffslieutenant Gus-tav Brosch aus Komotau in Böhmen – Erster Offizier (Innerer Dienst), Proviantmeister; usw.

578 Ebd., S. 22, 27 und 269.

579 Ebd., S. 269.

580 Ebd., S. 169.

581 Ebd., S. 22, 24 und 66.

Am Schluss steht Josef Mazzini – Nachfahre.582 Für Mazzini bleibt die Arktis solange eine Bühne, bis er seine Reise dorthin organisiert und sein Vorhaben konkrete Gestalt annimmt:

[…] so wurde die Arktis im gleichen Ausmaß, in dem sie erreichbarer wurde, unwirtli-cher, abweisender und manchmal bedrohlich. In den Eiswüsten seiner Vorstellungen und Gedankenspiele hatte Josef Mazzini keine Daunenkleidung, keinen Schutz gegen das gleißende Licht und kein Gewehr gebraucht. Aber jetzt… Die arktische Inselwelt, die seinen Phantasien bislang immer nur als Bühne und Hintergrund gedient hatte, nahm für den Näherkommenden schroffe und bizarre Formen an, die ihn zugleich beängstigten und anzogen. Und so ging er darauf zu.583

Dass Ransmayr eine dramatische Aufführung auf einer Bühne vor Augen hat und diese in seinem Roman nachstellt, ist aus der Polyphonie der historischen Tagebuchstimmen ersichtlich, denen die Payer’schen Stiche aus dem historischen Expeditionsbericht als Kulisse dienen. Diese Ten-denz zum Theatralischen ist bereits dem historischen Nordpol-Diskurs eingeschrieben, da die Heimkehr der Expeditionsmitglieder in Wien zu einem Spektakel gemacht wurde:

Ein Indiz für den Spektakelcharakter des Empfangs am Nordbahnhof in Wien geben die in der Wiener Presse wiederholt gezogenen Vergleiche mit einem Schauspiel. Ein zentra-ler Aspekt der Feiern in Wien war ihr eng mit dem Spektakel verknüpfte Ästhetik: Der Fokus lag nicht nur auf Festivitäten in repräsentativen öffentlichen Räumen, die für den kollektiven Blick gebaut und mit zusätzlicher Ausschmückung anlässlich der Feiern aus-gestattet wurden, sondern auch auf Theaterproduktionen, Vorträgen, Reden, kulinari-schen Kreationen, musikalikulinari-schen Aufführungen und Feuerwerken.584

In Ransmayrs Roman verleihen Payers Stiche dem Abenteuer nicht nur Authentizität, sondern auch Dramatik und führen die Mühen und Gefahren der Expedition in zeitgemäßen Darstellun-gen vor, z. B. die Sicherung der Nahrung durch die Jagd auf Eisbären, das Zurücklassen des ein-gefrorenen Schiffes oder die Mühsal der Fußwanderung nach Süden.

Abb. 43: Eisbärenjagd Abb. 44: Aufbruch zum Fußmarsch durchs Eis Quelle: Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 110 und S. 251.

582 „Anwesenheitsliste für ein Drama am Ende der Welt“, ebd., S. 27ff. Vgl. Abbildung oben.

583 Ebd., S. 65f.

584 Schimanski/Spring: Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Diskurse 1874, S.121.

Abb. 45: Am Rand „der menschlichen Ordnung“585 Quelle: Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 254.

Payers Stiche sind Teil des österreichischen Nordpol-Diskurses geworden, was am Beispiel des Eisbären und der Jagd auf ihn ersichtlich ist. Als „ikonisches Symbol attraktiver, exotischer und barbarischer Alterität“586 repräsentierte er als erlegte Beute und als Kleidungsstück „den Sieg von Zivilisation über Natur und betonte die Heldenhaftigkeit der Österreicher.“587 Darüber hinaus

„figurierte der Eisbär als gefährliches Raubtier, das der Kontrolle der Polarhelden unterworfen werden sollte.“588

Die Theatralität setzt sich über das Ende von Ransmayrs Nordpoldrama, d.h. der Heimkehr der Helden, fort und erhält mit dieser Fortsetzung über die eigentliche dramatische Handlung hinaus, einen das Geschehen kommentierenden postdramatischen Charakter, der seinen Ausdruck in der Beschreibungen der Handlungsnormen des Kulturbetriebs findet: Nach Beendigung des Schau-spiels folgt auch auf Ransmayrs Eisdrama, wie nach jeder gelungenen Aufführung, der Applaus des Publikums, den die historischen Expeditionsmitglieder im Jubel, in den fortwährenden

„Hoch- und Hurrahrufen“589 der Passanten erhalten, die bei ihrer Ankunft die Straßen säumen.

Das Eisdrama erhält auch sein Presseecho590 und wird zum Hof- und Stadtgespräch591. Neben der allgemeinen Publikumsbegeisterung wird im Roman auch von den Kritikern der Expedition erzählt, die nicht an die Entdeckung des Franz-Josef-Landes glauben wollen oder Payers

Karto-585 Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 252.

586 Schimanski/Spring: Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Diskurse 1874, S. 414.

587 Ebd.

588 Ebd., S. 415.

589 Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 265f.

590 Die Beschreibung der Ankunft findet sich im Text als Zeitungsartikel der Neuen Freien Presse vom 26. September 1874. Ebd., S. 266.

591 „Der Empfang in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien war sowohl eine äußerst kunstvolle Arti-kulation öffentlicher, bürgerlicher Kultur als auch ein immenses Massenspektakel und setzte sich auch mehrere Tage nach der Ankunft am 25. September fort […].“ Schimanski/Spring: Passagiere des Eises. Po-larhelden und arktische Diskurse 1874, S. 15.

graphierung für unzureichend und den Bericht der Mühsal für erfunden, ja für „sehr fabelhaft, pure Literatur …“592 halten.

Theatralität und Dramatik findet sich in Ransmayrs Roman, vom Titel ausgehend, in mehrfacher Hinsicht: Bei der Expeditionsfahrt der Tegetthoff macht das Abenteuerliche die dramatische Hand-lung aus. Ransmayr fesselt seinen Leser, indem er ihn die Schrecken des Eises und der Finsternis in seinem Lesesessel spüren lässt. Die Erzählweise ist die eines spannenden Abenteuerromans, der den Leser trotz und wegen des dokumentarischen Materials in die Geschichte hineinzieht und ihm streckenweise nicht erlaubt, Distanz zum ‚Drama‘ der historischen Expedition zu wahren.

Das Dramatische ist somit auf semantischer Ebene zum Teil in der Erzählweise angelegt, auf formaler Ebene verweist der Text jedoch über die abenteuerliche Fahrt der Tegetthoff hinaus, in-dem er durch seine Komposition (Stiche, Originalstimmen etc.) das Performative daran zur Schau stellt.