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Sowohl in Raoul Schrotts Finis Terrae und Tristan da Cunha als auch in Sebalds Die Ringe des Saturn werden Karten in einer dem leserorientierenden Paratext ähnlichen Funktion abgebildet. Sie ha-ben für den Leser eine strukturierende und orientierende Funktion. Explizit wird dies am Beispiel der einzigen Abbildung einer Landkarte in Die Ringe des Saturn gezeigt, auf der die geographische Lage der Nehrung Orford Ness an der Ostküste Englands markiert ist. Wie der sie umfassende Text in Die Ringe des Saturn erkennen lässt, ist die Karte kein Objekt, das etwa der Erzähler zu seiner eigenen Orientierung mit sich führt. Vielmehr soll die Abbildung des untenstehenden

Kar-70 Vgl. Sigrid Löffler: „‚Wildes Denken‘. Gespräch mit W. G. Sebald“. In Loquai, Franz (Hg.): W. G.

Sebald. Eggingen: Edition Isele, 1997, S. 135–137, hier S. 136: „Familien-Fotoalben sind ein Schatz an Informationen. Ein einziges Familienfoto ersetzt viele Seiten Text. In der Interaktion und Interferenz von Bild und Text waren Klaus Theweleit und Alexander Kluge für mich augenöffnende Leseerfahrungen. Die Texte werden viel lebendiger, realer und facettenreicher. Ich arbeite nach dem System der Bricolage – im Sinne von Lévi-Strauss. Das ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen.“

71 Tanja Michalsky: „Zwischen den Bildern“. In Geimer, Peter/ Hagner, Michael (Hg.): Nachleben und Re-konstruktion : Vergangenheit im Bild. Paderborn: Wilhelm Fink 2012, S. 251-275, hier: S. 252.

72 Ibid., S. 253.

tenausschnitts dem Leser einen geographischen Orientierungspunkt liefern: Der Pfeil auf die gemeinte Nehrung an der Ostküste Englands und der handschriftliche Vermerk des unterstriche-nen Ortsnamens, zeigen dem Leser die Lage des Ortes und der Landschaft, in der sich der Erzäh-ler bewegt.

Abb. 5: Orientierungsmittel ohne Zweck Quelle: Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 277.

Dass dieser Vermerk zur Kommunikation mit dem Leser dient und damit ein paratextuelles, für die Orientierung des Erzählers unerhebliches Element ist, wird deutlich, wenn Sebalds Erzähler später im Text gerade diese fassbare Verortung aufhebt: „Wo und in welcher Zeit ich an jenem Tag auf Orfordness in Wahrheit gewesen bin, das kann ich auch jetzt, indem ich dies schreibe, nicht sagen.“73 Zwar wandert er den dort befindlichen Deich entlang, mit sehr genauer Angabe der Richtung („von der Chinese Wall Bridge an dem alten Pumphaus vorbei in Richtung der An-legestelle […]“74), deren Beschreibung deutlich macht, dass er sich geographisch sehr genau zu orientieren weiß. Dennoch befindet er sich im Zustand eines Orientierungslosen. Die Unfähig-keit des Zugriffs auf die Einordnung des Erinnerten und die daraus resultierende Orientierungs-losigkeit in Raum und Zeit machen eine traumatische Prägung sichtbar, die sich seinem Bewusst-sein entzogen hat. Die Einbettung der Karte in den Text, die das gängige Orientierungsmittel in

73 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 283.

74 Ebd.

unbekanntem Gelände ist, steht in krassem Kontrast zu dem sie einfassenden Textinhalt, der die Verfassung des Erzählers beschreibt. Statt der Orientierung, die die Karte erwartungsgemäß sug-geriert, ist von profunder emotionaler Desorientierung die Rede. Diese Desorientierung steht am Anfang der Reise des Erzählers, der gerade die Wiederherstellung einer inneren Ordnung an-strebt. Diese Ordnung ist mit einer Karte vergleichbar, auf der er sich – ähnlich der Markierung auf dem abgebildeten Kartenausschnitt – verorten kann. Der Problemdruck, der laut Krämer am Anfang jeder Spurenlese steht, ist für den Erzähler sein Zustand der Orientierungslosigkeit, die nicht durch konventionelle Orientierungsmittel wie eine Karte behoben werden kann. Daher stellt die Karte ein Element der Verunsicherung für den Leser dar, der mit einem Blick darauf zu wissen glaubt, wo er sich befindet, um schließlich zu lesen, dass er mit dem Erzähler an einem Punkt ist, an dem er sich nicht mehr auskennt.

In Raoul Schrotts Romanen wird durch die Auskunft des fiktiven Herausgebers insinuiert, dass die Karten und Abbildungen aus den Unterlagen der jeweiligen Erzählerfiguren stammen. Das Material dient der Herstellung von Authentizität, ebenso wie der Markierung von geographischen Punkten, die für die Konstitution des Erzählraums von Bedeutung sind. Durch ihre Position außerhalb des Textes werden die Abbildungen gleichzeitig als paratextuelle Elemente ausgewie-sen. Wie in den folgenden zwei Kapiteln gezeigt wird, stehen Karten und Abbildungen in Finis Terrae zu Beginn eines jeden Kapitels. Damit stimmen sie, wie die Mottos, den Leser auf das da-rauf folgende Kapitel ein. In beiden Romanen von Raoul Schrott stellen die Karten eine Referenz zu realräumlichen Gegenden her und verorten den Leser nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich durch Informationen, die die Karte liefert, z.B. die zeittypische Namensgebung der Orte, das Druckbild, Färbungen und Schattierungen. Nicht zuletzt wird das Thema der Kartierung durch die antike Entdeckerfigur Pytheas von Massalia (Finis Terrae) und den Kartographen Chris-tian Reval (Tristan da Cunha) aufgegriffen und die Orientierungsthematik durch die Begriffe für das Instrumentarium antiker Navigation und moderner Kartographie eingespielt. Im ersten Heft von Finis Terrae werden im fiktiven Logbuch des Pytheas nicht nur Beobachtungen zu den ver-schiedenen antiken Völkern vermerkt, z.B. die Bauweise ihrer Häuser, ihre Religion oder ihre Rituale, sondern auch Pytheas‘ Gedanken zur Navigation und den zu seiner Zeit gängigen Lehren über die Welt. So schreibt er, dass er sich zur Positionsbestimmung bei klarer Nacht ein Naviga-tionsinstrument baut, um die geographische Breite zu bestimmen:

Ich hatte mir dafür ein einfaches Instrument gebaut, das aus einem vertikalen Holz be-stand, an dem zwei Schenkel eines beweglichen Dreiecks angebracht waren. Mit dem Lot ist die Vertikale leicht auszurichten und mit den beweglichen Schenkeln läßt sich der Winkel zum Pol messen. Um den Pol selbst zu vermessen, befestige ich ein dünn abge-schabtes, durchscheinendes Stück Pergament an der Spitze des Dreiecks und zeichne über mehrere Stunden die Positionen des Polarsterns ein. So ergab sich der Teil jenes Kreises, dessen Mittelpunkt den wirklichen Zapfen der Sterne darstellt.75

75 Schrott: Finis Terrae, S. 65.

Pytheas tritt nicht nur als Bauer seiner Navigationsinstrumente auf, sondern auch als Korrektor des Wissen über die Beschaffenheit seiner Welt. So heißt es weiter, dass

Eudoxos im Irrtum ist, wenn er über den nördlichen Pol sagt, es gebe einen Stern, der sich nie bewege und welcher der Pol des Himmels sei. Denn dort befindet sich kein ein-ziger Stern, sondern eine leere Stelle. In unmittelbarer Nähe stehen drei Sterne, die mit dem Ort des Pols fast ein Quadrat bilden.76

Die Beobachtungen des Navigators verdeutlichen die Bedeutung der Geometrie, unter deren Zuhilfenahme er sich auf seiner Entdeckungsfahrt orientiert. Diese geometrischen Prinzipien werden, wie unten noch zu zeigen ist, zu Konstellationen der Narration, die besonders in Tristan da Cunha das Verhältnis der Figuren zueinander bestimmt.

Die moderne Kartographie als scheinbares Mittel der Weltvereinnahmung wird auch in Schrotts Inselroman thematisiert, wo sie in Kontrast zur traditionellen Orientierung der Inselbewohner steht, über die der Kartograph sagt:

[I]ch habe lange gebraucht, um zu verstehen, daß die Siedler keine Vorstellung von Nord und Süd haben, sondern alles auf ihr Dorf beziehen, ob etwas westlich oder östlich von ihm liegt. Es ist wie auf den mittelalterlichen Karten, die ihre Welt ausgehend von Jerusa-lem sahen.77

Der Kartograph empfindet „Begeisterung [an] der Überschaubarkeit“78 als er seine Triangulati-onspunkte setzt und die Winkel am Theodoliten bei der Vermessung der die Insel abliest, aber das Vermessene bleibt ihm trotz seiner präzisen Instrumente unerreichbar:

Winkelmaß und Lineal, Oktant, Okularnetz, den Kompaß und das Teleskop, Sternbilder, zu denen es keine Mythen gibt und die mit freiem Auge nur schwer auszumachen sind, wie willkürlich in diesem südlichen Himmel, der so eigenartig umrißlos ist, als wäre diese Hälfte der Welt nie für eine Inbesitznahme durch Menschen gedacht gewesen und Land nur im Norden – diesseits des Äquators aber alles noch im Entstehen begriffen, daß man gerade eben vor ein paar Jahrhunderten es zu vermessen begonnen hat.79

Die physische Orientierbarkeit steht auch hier, wie bei Sebald, in Diskrepanz zur mentalen Ori-entierung der Figur. Der innere Kompass bei der OriOri-entierung in seinen verworrenen Verhältnis-sen zur Insel wird für den Kartographen Christian Reval immer seine unstillbare Sehnsucht sein.

Erst durch ein emotionales Verhältnis, z.B. als erhaben oder leer empfundene Naturlandschaft, wird die Geographie zu einem Orientierungsmittel für die Figuren.

Schrott verwendet die Abbildungen, hauptsächlich Karten, als visuelle Markierungen zur Unter-teilung des Textes: In Finis Terrae als Karten und Diagramme zwischen den Kapiteln, in Tristan da

76 Ebd.

77 Schrott: Tristan da Cunha, S. 554.

78 Ebd., S. 604.

79 Ebd.

Cunha als abgesetzte Textstreifen, die zwischen den Haupterzählungen stehen. Sie stehen im Em-bolium zwischen den einzelnen Kapiteln und damit den vier Erzählerstimmen. Liest man sie hin-tereinander, ergibt sich die Erzählung von einem Sturm, der die Insel heimsucht. Diese Stürme sind typisch für Tristan da Cunha oder die Antarktis und richten innerhalb weniger Stunden ei-nen verheerenden Schaden an. Gerade die Ausgliederung der geographischen Karten in Raoul Schrotts Romanen, bzw. ihre Bedeutungslosigkeit für die Orientierung der reisenden Figur in Sebalds Text, markieren den Orientierungsraum als einen textuellen, in welchem die Karte als Orientierungsmittel kaum einen Wert besitzt.

In der literarischen Revision historischer Weltentdeckungsberichte sind Karten und Abbildungen Teil der historischen materiellen Spur, der die Figuren und der Leser innerhalb des literarischen Textes folgen. In der Literatur der Jahrtausendwende sind sie Zeugnis der medialen Weltaneig-nung, und damit ein intermediales Orientierungsmittel für den Leser, um sich über den Umweg der historischen Weltansichten in der Gegenwart zu orientieren. Eine Orientierungsstrategie der deutschsprachigen Literatur an der Jahrtausendwende ist damit der z.T. durch Intermedialität hergestellte Blick in die Vergangenheit. Die postmoderne Textorganisation ist von einem Authen-tifizierungsduktus geprägt, der das Dokument, das historisch authentische Material oder die reale geographische Verortung, zu einem Markierungspunkt in der intendierten Suche nach Orientie-rung in der Gegenwart machen soll.