• Keine Ergebnisse gefunden

3.2 Die Quest von Raoul Schrotts Figuren

3.2.2 Die Quest in Tristan da Cunha als Reise in der Schrift

3.2.2.3 Down-where-the-Minister-Landed-his-Things

Das alltägliche Leben auf der Insel erzählt die Figur Edwin Heron Dodgson, der erste Priester auf Tristan da Cunha, in seinem Briefmonolog mit seinem Bruder, dessen Antwortbriefe ausblei-ben. Dodgsons Briefe wirken wie eine Anrede an die Stille, er erhält keine Antwort beim Ringen mit sich selbst, mit den Fragen der Schuld und der Sühne. In den unbeantworteten Briefen Dodgsons an den Bruder spiegelt sich nicht zuletzt das Gespräch des Priesters mit Gott, dessen Antwort aus Schweigen besteht. In Dogsons Verhältnis zu Gott ist Nietzsches Philosophie zu erkennen, vor allem in den Gedanken zur Theothanatologie aus Die fröhliche Wissenschaft. In den Ausführungen des Priesters finden sich auch Referenzen zu Darwins Evolutionstheorie. Diese Themen verweisen wiederum auf Schrotts Poetik, die sich mit der Abwesenheit Gottes und der indifferenten Natur als der dem Menschen übergeordneten Instanz auseinandersetzt.

In der Figurenkonzeption von Dodgson und Ludwig Höhnel und in ihrem Umgang mit ihren Schuldgefühlen, wird ersichtlich, dass sich die Romane Finis Terrae und Tristan da Cunha

komple-483 Ebd., S. 310f.

484 Ebd., S. 633.

mentär zueinander verhalten: Während es Höhnel die Sprache verschlägt, wenn es um das Einge-ständnis von Schuld geht, folgt Dodgson Nietzsches Präferenz einer dem Leben zugewandten Religion. Er bereut den Bruch des Zölibats nicht, sondern versucht die Erschöpfung der rationa-len, technischen Welt an großen Symbolen von den Menschen auf Tristan da Cunha fernzuhal-ten, indem er seine prophetenähnliche Erkenntnis, Gott habe sich vom Menschen abgewandt, ihnen nicht mitteilt. Von Anfang an hat er zu ihnen ein gespanntes Verhältnis, da er mit seinen religiösen Prioritäten dem durch die raue Witterung der Insel gegebenen Handlungsdruck der Siedler bei seiner Ankunft mit Unverständnis begegnet. Bereits seine Ankunft markiert für Dodgson sein Scheitern auf der Insel. Sein Schiff erreicht die Küste, erleidet aber nach einem plötzlich sich zusammenbrauenden Sturm Schiffbruch auf dem Hardy Rocks genannten Riff.

Statt die Schiffsladung zu retten, drängt Dodgson die Inselbewohner dazu, mit ihm die begonne-ne Messe zu Ende zu feiern, wodurch er seibegonne-nen Einstand erschwert, da ihm der Gouverbegonne-neur der Insel zu verstehen gibt,

daß ich [Dodgson, Anm. A. K.] an dem Schiffbruch nicht unschuldig sei. Wer anders habe es zu verantworten, daß man einen schönen Vormittag hatte verstreichen lassen, ohne die Ladung ausgeschifft zu haben, all die Güter, die man auf der Insel so dringend benötige; es sei mehr als unvernünftig gewesen darauf zu beharren, an einem Sonntag die Arbeit ruhen zu lassen. Feiertage gebe es viele, ein Schiff dagegen nur selten, und Gott hilft den Seinen bloß, wenn sie sich selber helfen.485

Down-where-the-Minister-Landed-his-Things wird zum Ortsnamen auf der unzugänglichen Ost-seite der Insel. Hier soll man das Hab und Gut des Priesters an Land geschafft haben, weil die Siedler vorgaben, man könne an der Nordseite, wo die Siedlung liegt, nicht ankern.486

Dodgsons Sehnsucht, die er auf die Insel Tristan da Cunha überträgt, wurzelt in einem Ereignis, das in Brasilien stattgefunden hat: Der Priester wird nach Monte Santo geschickt, das sowohl geographisch durch den steilen Berg Tristan da Cunha ähnelt, als auch durch die dort lebenden Menschen. Auf dieser Reise begleitet ihn der vierzehnjährige Euclides da Cunha487, in dem Dodgson sich selbst erkennt und mit dem er auf dieser Reise archaische Momente erlebt:

[…] da Cunha hielt gut Schritt, seine Gegenwart gab mir mehr, als ich mir damals einge-stand. Wenn unsere Blicke sich begegneten […,] wußte ich, daß auch ihn diese brache Gegend im gleichen Maß wie mich beeindruckte, diese namenlose Landschaft, in der uns schien, als wären wir die ersten Menschen, die einzigen, die sie je betreten hätten. Wir fühlten uns wie auf den Spuren der ersten portugiesischen Konquistadoren; nein: als

485 Ebd., S. 66.

486 Vgl. ebd., S. 291.

487 Der historische Euclides da Cunha (1866–1909) war ein brasilianischer Journalist, dessen bekanntestes Werk, Krieg im Sertão, über den Konflikt zwischen der Regierung und der Ortschaft Canudos berichtet, die sich gegen die von der Regierung eingeführten (Steuer-)Gesetze auflehnte. Literarischen Widerhall fand da Cunhas Buch im Werk von Jorge Luis Borges und Mario Vargas Llosa.

nähmen wir mit jedem unserer Schritte von etwas Besitz, das noch nie zuvor sich hatte von Menschen in Besitz nehmen lassen.488

Die Reise mit dem jungen da Cunha präfiguriert Dodgsons Aufenthalt auf der Insel Tristan da Cunha in zwei Aspekten: Zunächst ist die Insel für Dodgson durch die Namensgleichheit mit Euclides da Cunha positiv konnotiert, was sich später jedoch ins Gegenteil verkehrt, da Dodgson zu dem Schluss kommt, dass er auf Tristan da Cunha das Schlimmste ertragen muss.489 Ein zwei-ter Aspekt, der Dodgsons anfangs für Tristan da Cunha einnimmt und eine Verbindung zur Reise nach Monte Santo schafft, ist die Begegnung mit einem „selbsternannten Propheten“490 auf dem Gipfel des Kalvarienberges. Dodgson wurde von der Kirche geschickt, um den dort lebenden Menschen seltsame Phänomene rational zu erklären, statt sie dem Aberglauben zu überlassen.

Der Prophet allerdings hatte dem einfachen Volk die unerklärlichen Phänomene bereits als den kommenden Weltuntergang am Jahrhundertende gedeutet. Dodgson vergleicht sich am Schluß seines Selbstgesprächs in seinen Briefen mit diesem Scharlatan von Monte Santo.491 Der Grund für Dodgsons Vergleich ist die „spirituelle Agonie“492, die ihn befallen hat. Diese spirituelle Krise gründet darin, dass er Gott für eine Erfindung des Menschen hält und die Religion für einen his-torischen Moralkodex, eine ‚Eucharistie der Worte‘, eine Schaustellerei, an die er selbst nicht mehr glaubt, mit der er aber seinen Lebensunterhalt verdient. Die Agonie wurzelt im rationalen Zweifel an Gott und in den negativen Epiphanieerlebnissen Dodgsons, bei denen er der Leere und des Abgrundes hinter den Dingen in Gestalt einer gnomenhaften Erscheinung, einer „diabo-lischen Präsenz“493 ansichtig wird, die ihm eine „schreckliche Lebensangst“494 einflößt und der gegenüber er sich nur mit der Heiligen Schrift und der Anrufung Gottes erwehren kann. In sei-nem Agnostizismus empfindet Dodgson die Welt als von Gott verlassen; in seinen Augen hat Gott seine Schöpfung sich selbst überlassen. Dodgson erkennt darin aber auch eine Apologie für seine Sünden, die er als Voraussetzung der Menschwerdung versteht. Für den modernen Men-schen wird nach Dodgson die Abwesenheit oder der Tod Gottes zur Ursache der menschlichen Sünde und der Tod zur Wesenhaftigkeit der Natur, in der das Leben wächst, aber nie zur Vollen-dung findet.495 Die spirituelle Krise des Priesters drückt sich in einer textuellen Ambivalenz aus, in der der Text immer wieder zurücknimmt, was kurz davor noch für oder gegen die Existenz Gottes behauptet wurde.

488 Schrott: Tristan da Cunha, S. 76.

489 Vgl. ebd., S. 651.

490 Ebd., S. 84.

491 „[…] und jetzt weiß ich, daß ich ihnen zu jenem Prediger geworden bin, den ich in Monte Santo sah, eine leichenhafte Erscheinung in einem Überwurf, schwarz wie ein Totenhemd, die Haare strähnig und verfilzt, bärtig und ungewaschen seit dem Tag mit Joshua auf dem Berg […,] und weiß, daß auch dieser Prediger das Dunkle des Heiligen gesehen hat, das Gottlose“. Ebd., S. 674.

492 Ebd., S. 669.

493 Ebd., S. 666.

494 Ebd.

495 Ebd., S. 671.

Die Ferne Gottes wird als eine fehlende Mitte wahrgenommen, die Dodgson im Tod als das Dunkel einer Mitte durch die Schuld erfährt, die er durch Joshuas Todessturz von der Felsklippe auf sich geladen hat, und die er als die Gravitation Gottes versteht. Die Buße ist das Leben im Bewusstsein dieser Schuld, durch die er erst zu sich selbst finden kann. Für Dodgson ist die Insel jener Ort, an dem er sich durch seine Sünden selbst erkennt, da dort seine Sehnsucht nach Gott und nach Geborgenheit auf Abwesenheit und Leere trifft:

[…] im Süden das Licht, Licht antwortet auf Licht in dieser stillen Mitte der Welt, die Sonne wie Schiefer, Sein Ort, den Er verließ, dessen Abwesenheit wir nun aus jedem Stein lesen, jedem Riß, jeder Spalte und Scharte zu entziffern suchen […] und nur das Licht, das Er uns ließ, sein Halo, der Himmel ein dunkler Ring darum: es ist dieser Schat-ten, den wir werfen. Und alle Seele nur die Sehnsucht nach Ihm, die ungestillt wächst, bis ihr der Körper zu eng wird […].496

Die fleischliche Sünde, die der Priester begeht, als er sich mit (seiner) Marah auf ein Verhältnis einlässt, ist eine „unerfüllte Begierde nach etwas Ungreifbarem, das sich mir immer wieder ent-zieht, in jedem Gottesdienst, jedem Zusammensein mit den Menschen hier: Marah. Daß sie die erste Frau ist, die ich je berührte, mag eine Erklärung sein.“497

Raoul Schrott hält den Trieb der Aneignung und der Vereinnahmung für etwas elementar Menschliches. Er äußert sich in den Gesten der Liebe ebenso wie in der Sprache, die versucht, der Dinge mit Worten habhaft zu werden, oder in der Religion, in der das Gebet ein Deuten über den Abgrund ist, aber auch in dem Bedürfnis, die Welt durch geographische Entdeckungen ein-zunehmen.498 Edward Heron Dodgson gelingt es nicht, sich Tristan da Cunha anzueignen. Statt-dessen scheitert er mit seinem Kirchenbauprojekt – die Kirche bleibt eine Ruine, ohne Fenster und Dach499, bei starkem Regen wird sie zum Unterstand für die Rinder –, er scheitert in seiner Liebe zu Marah, die nicht mehr lebbar ist, nachdem sein Rivale Joshua tot ist, und er scheitert mit seinem Glauben, der ihm keine Orientierungshilfe ist. Stattdessen sind es seine Taten, die ihn sich selbst als Sünder und Büßer erkennen lassen, dessen Sehnsucht nach seinem immer abwesenden Gott durch nichts gestillt werden kann.